Читать книгу Zwei Schicksalswege - Уилки Коллинз, Elizabeth Cleghorn - Страница 1
Einleitung
Der Gast schreibt und erzählt die Geschichte der Mittagsgesellschaft
ОглавлениеSeit meine Frau und ich die Vereinigten Staaten verließen, um England einen Besuch abzustatten, sind viele Jahre verflossen.
Wir waren natürlich mit vielen Empfehlungsbriefen versehen. Der eine davon war von dem Bruder meiner Frau geschrieben. Er sollte uns bei einem englischen Gentleman einführen, der unter seinen alten geschätzten Freunden hohes Ansehen genoss.
»Ihr werdet Mr. George Germaine in einer sehr interessanten Lebensepoche kennenlernen«, sagte mein Schwager, als wir uns von ihm verabschiedeten. »Die letzten Nachrichten, die ich von ihm erhielt, verkünden mir, dass er sich eben verheiratet hat. Ich weiß nichts von der Dame oder den Umständen, unter denen mein Freund ihr zuerst begegnet ist, aber davon bin ich überzeugt, ob Junggesell oder Ehemann, George Germaine wird euch um meinetwillen in England herzlich willkommen heißen.«
Am Tage unserer Ankunft in London gaben wir unseren Empfehlungsbrief in Mr. Germaines Hause ab.
Am nächsten Morgen gingen wir aus, um – den Tower von London – einen Lieblingsgegenstand des amerikanischen Interesses, zu besichtigen. Die Bürger der Vereinigten Staaten finden die Reliquien aus der guten, alten Zeit von großem Nutzen, um dadurch die Achtung der Nation vor den republikanischen Institutionen zu heben. Bei unserer Rückkehr ins Hotel sagten uns die Karten von Mr. und Mrs. Germaine, dass sie unseren Besuch bereits erwidert hatten. An demselben Abende erhielten wir eine Einladung, mit dem neuvermählten Paare zu speisen. Sie war in einem Billet von Mrs. Germaine an meine Frau enthalten, in dem sie uns mitteilte, dass wir keine große Gesellschaft erwarten sollten. »Es ist das erste Diner, das wir nach der Rückkehr von unserer Hochzeitsreise geben«, schrieb die Dame; »wir werden Sie nur mit einigen von meines Mannes alten Freunden bekanntmachen.«
In Amerika und, wie ich höre, auch auf dem Kontinent von Europa, erweist man dem Wirte die Höflichkeit, zu der in der Einladung bezeichneten Stunde pünktlich beim Diner zu erscheinen. Nur in England herrscht die unbegreifliche und unhöfliche Sitte vor, den Wirt und das Diner eine halbe Stunde länger warten zu lassen, ohne triftigen Grund, und ohne bessere Entschuldigung, als die hohle Redensart, die die Worte enthalten »bedaure mich verspätet zu haben.«
Wir hatten allen Grund uns zu beglückwünschen, dass wir durch unsere Unwissenheit so pünktlich zur bezeichneten Stunde in Mr. und Mrs. Germaines Hause anlangten; wir waren wirklich eine halbe Stunde vor den andern Gästen dort.
Die Art und Weise, wie sie uns begrüßten, war so herzlich und so frei von aller Förmlichkeit, dass wir uns wirklich in unsere Heimat zurückversetzt glaubten, und gewannen die Eheleute im ersten Augenblick, als wir sie sahen, unser Interesse. Die Dame bezauberte uns fast. In ihrem Gesicht und Wesen lag ein ungekünstelter Reiz, in allen ihren Bewegungen eine so anmutige Einfachheit, dazu ihre liebliche melodiöse Stimme, – kurz sie erschien uns Amerikanern ganz unwiderstehlich. Dass hier einmal ein glücklicher Ehebund geschlossen worden war, sah man klar und konnte sich dessen freuen! Dieses waren zwei Menschen, die in ihren innigsten Wünschen und Hoffnungen sympathisierten – denen man es ansah, wenn ich mich des Ausdrucks bedienen darf, dass sie füreinander geschaffen waren. Im Verlauf der halben Stunde, die uns um des guten Tons willen, mit unseren Wirten allein gegönnt war, hatte unsere Unterhaltung sich so gemütlich und vertraulich gestaltet, als wenn wir, alle vier, alte Freunde waren.
Als es acht Uhr schlug erschienen die ersten englischen Gäste. Da ich den Namen des Herrn vergessen habe, möge man mir gestatten, ihn durch einen Buchstaben des Alphabets zu bezeichnen. Ich werde ihn Mr. A. nennen. Als er ins Zimmer trat, sahen beide, mein Wirt und meine Wirtin, erschrocken und erstaunt aus. Sie erwarteten ihn sichtlich in Begleitung einer andern Person. Mr. Germaine empfing ihn mit der eigentümlichen Frage.
»Wo ist Ihre Frau?«
Mr. A. beantwortete diese Frage mit folgenden Worten der Entschuldigung:
»Sie hat heftiges Kopfweh. Sie bedauert unendlich, und hat mich beauftragt sie zu entschuldigen.«
Er hatte nur eben Zeit seinen Auftrag auszurichten, als ein anderer einzelner Herr erschien. Um an den Buchstaben des Alphabets festzuhalten, werde ich ihn Mr. B. nennen. Wiederum sah ich, dass meine Wirte erschraken, als sie ihn allein ins Zimmer treten sahen und zu meinem größten Erstaunen hörte ich Mr. Germaine an seinen neuen Gast wiederum die seltsame Frage richten:
»Wo ist Ihre Frau?«
Die Antwort war – mit einer kleinen Abweichung – Mr. A.s höfliche Entschuldigung, die Mr. B. wiederholte.
»Ich bedaure unendlich. Mrs. B. ist von heftigen Kopfschmerzen geplagt. Sie leidet oft daran und hat mich beauftragt sie zu entschuldigen.«
Mr. und Mrs. Germaine sahen einander an. Des Gatten Gesichtsausdruck verriet deutlich den Argwohn, den diese zweite Entschuldigung in ihm wachgerufen hatte. Die Frau war fest und ruhig. Es entstand eine längere Pause. Mr. A. und Mr. B. zogen sich schuldbewusst in eine Ecke zurück. Meine Frau und ich betrachteten die Bilder.
Mrs. Germaine erlöste uns endlich von der peinlichen Stille. Wie es schien, fehlten noch zwei Gäste, um die Gesellschaft vollzählig zu machen.
»Wollen wir gleich zu Tische gehen, George?« fragte sie ihren Gatten, »oder wollen wir auf Mr. und Mrs. C. Warten?«
»Wir wollen noch fünf Minuten warten«, antwortete er kurz – die Augen auf Mr. A. und Mr. B. gerichtet, die immer noch schuldbewusst in ihrer Ecke standen.
Die Tür des Empfangszimmers wurde geöffnet. Wir alle wussten, dass eine dritte Dame mit ihrem Gemahl erwartet wurde; und sahen alle in unsagbarer Erwartung nach der Tür. Unausgesprochen ruhten alle unsere Hoffnungen auf Mrs. C. Wird diese bewundernswürdige, wenn auch unbekannte Frau uns durch ihr Erscheinen zugleich entzücken und beruhigen? Mich durchschauert es noch, als ich dieses niederschreibe. Mr. C. betrat das Zimmer und – betrat es allein.
Mr. Germaine änderte seine bisherige Frage, indem er den Gast mit den Worten empfing:
»Ist Ihre Frau krank?«
Mr. C. War ein ältlicher Herr; er hatte dem Anscheine nach noch in der Zeit gelebt, wo die altmodischen Gesetze der Höflichkeit in voller Kraft waren. Als er seine beiden verheirateten Freunde in ihrer Ecke, unbegleitet von ihren Frauen entdeckte, entschuldigte er das Ausbleiben der seinen mit dem Ausdruck wirklicher Beschämung darüber. Mrs. C. bedauert so von Herzen. Sie hat sich sehr heftig erkältet. Es tut ihr so innig leid mich nicht begleiten zu können. Bei dieser dritten Entschuldigungsrede machte sich Mr. Germaines verhaltener Grimm in Worten Luft.
»Zwei arge Erkältungen und ein heftiges Kopfweh«, sagte er mit ironischer Höflichkeit. »Ich weiß nicht, meine Herren, wie sehr Ihre Gemahlinnen übereinstimmen, wenn sie gesund sind. In ihrem leidenden Zustande ist ihre Einigkeit bewunderungswürdig!«
Während dieser scharfen Worte wurde gemeldet, dass das Mahl serviert war.
Ich hatte die Ehre, Mrs. Germaine zu Tische zu führen. Die Erregung, die sie über die Beleidigung fühlte, welche ihr von den Frauen der Freunde ihres Mannes widerfahren war, äußerte sich nur in einem leisen, ganz leisen Zittern der Hand, welche sie auf meinen Arm legte. Mein Interesse für sich wuchs um das Zehnfache. Nur eine Frau, die gewohnt war zu leiden, die durch die Schule der Selbstbeherrschung schon gebeugt war, konnte das moralische Märtyrertum, das ihr auferlegt war, so tragen, wie diese Frau es vom Anfang bis zum Ende jenes Abends ertrug.
Übertreibe ich, wenn ich von meiner Wirtin in diesen Ausdrücken schreibe? Man betrachte nur die Umstände, wie sie meiner Frau und mir erscheinen mussten.
Diese war die erste Gesellschaft, die Mr. und Mrs. Germaine nach ihrer Verheiratung gaben. Es waren drei von Mr. Germaines Freunden mit ihren Frauen eingeladen, um Mrs. Germaine kennenzulernen und hatten die Einladung augenscheinlich ohne Rückhalt angenommen. Was für Entdeckungen, zwischen dem Empfange der Einladung und der Gesellschaft selbe, gemacht sein konnten, war unmöglich zu sagen. Eines nur war klar ersichtlich, dass die drei Frauen in der Zwischenzeit übereingekommen waren, sich an Mrs. Germaines Tafel durch ihre Männer vertreten zu lassen; und was noch staunenerregender war, die Männer waren auf die grobe Unhöflichkeit ihrer Frauen so weit eingegangen, dass sie sich herbeiließen, die verbrauchtesten und darum so beleidigenderen Entschuldigungen zu machen. Konnte eine Frau, im Angesichte ihres Mannes, in Gegenwart zweier Fremden aus fernem Lande, bei ihrem ersten Schritt in die Welt grausamer befleckt werden? Ist »Märtyrertum« ein zu inhaltsschweres Wort, um zu bezeichnen, was eine gefühlvolle Frau bei solcher Behandlung gelitten haben muss? Ich glaube kaum.
Wir setzten uns zu Tische. Ich bin außer Stande, diese unbehaglichste aller Zusammenkünfte, dieses ermüdendste und trübseligste aller Feste zu schildern! Es ist wahrhaftig schon schwer genug, dieses Abends überhaupt zu gedenken.
Meine Frau und ich bemühten uns nach Kräften, die Unterhaltung so harmlos und fließend als möglich zu erhalten. Es war ein schweres Stück Arbeit und dennoch war unser Erfolg sehr gering. Wie sehr wir uns auch bemühten, die leeren Plätze der drei abwesenden Damen waren nicht zu übersehen und sprachen für sich selbst in ihrer eigenen, niederdrückenden Sprache. Wie gern wir auch widerstanden hätten, unwillkürlich drängte sich die eine traurige Folgerung den Gemütern auf. Es lag zu klar am Tage, dass plötzlich irgendein furchtbares Gerücht über den Ruf der Dame, die an der Spitze der Tafel saß, aufgetaucht war und mit einem Schlage die Achtung der Freunde ihres Mannes für sie zerstört hatte. Was konnten die eng befreundeten Gäste diesen Entschuldigungen im Empfangszimmer, diesen leeren Plätzen an der Tafel gegenüber tun, um diesem Ehepaar in seinem plötzlichen und bitteren Leid beizustehen? Sie konnten sich nur als einzige Wohltat für sie je eher je lieber empfehlen und das unglückliche Paar sich selbst überlassen.
Zur Ehre der drei Herren, die in diesen Zeilen als A., B. und C. Bezeichnet sind, sei es aber gesagt, dass sie beschämt genug über ihre und ihrer Frauen Handlungsweise waren, um wenigstens die Ersten aus der Gesellschaft zu sein, die das Haus verließen. Nach einigen Augenblicken erhoben wir uns, um ihrem Beispiel zu folgen. Mrs. Germaine nötigte uns dringend noch zu bleiben.
»Bleiben Sie noch einige Augenblicke«, flüsterte sie mit einem Blick auf ihren Gatten. »Ich habe Ihnen etwas zu sagen, ehe Sie uns verlassen.«
Sie verließ uns, nahm den Arm ihres Mannes und führte ihn in den entgegengesetzten Teil des Zimmers. Beide sprachen einige Augenblicke leise miteinander, der Mann schloss die Beratung, indem er die Hand seiner Frau an seine Lippen zog.
»Tue wie die willst, Geliebte«, sagte er. »Ich überlasse es dir ganz.«
Er setzte sich, traurig und in Gedanken verloren, nieder. Mrs. Germaine verschloss einen Schrank am anderen Ende des Zimmers und kehrte dann allein zu uns zurück eine kleine Brieftasche in der Hand haltend.
»Mir fehlen die Worte, um Ihnen genugsam auszudrücken, wie dankbar ich Ihre Güte für mich anerkenne!« sagte sie, mit vollkommener Einfachheit und Würde. »Sie haben mich unter sehr schwierigen Umständen mit einer Zärtlichkeit und Teilnahme behandelt, wie man sie nur alten Freunden zollt. Die einzige Weise, in der ich Ihnen einigermaßen erwidern kann, was Sie für mich taten, ist, dass ich Ihnen mein vollstes Vertrauen schenke. Urteilen Sie dann selbst, ob ich die Behandlung, die ich heute Abend erfuhr, verdiene oder nicht.«
Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie schwieg um ruhiger zu werden. Wir baten sie beide nicht weiter zu sprechen, ihr Gatte, der sich uns zugesellte, vereinte seine Bitten den unseren. Sie dankte uns, fuhr aber dennoch fort. Wie die meisten tieffühlenden Menschen, konnte sie entschlossen sein, sobald sie es durch die Gelegenheit geboten fand.
»Ich habe noch einige Worte zu sagen«, fuhr sie, sich zu meiner Frau wendend, fort. »Sie sind die einzige Frau, die heute zu unserer Gesellschaft gekommen ist. Die geflissentliche Abwesenheit der andern Frauen spricht für sich selbst. Ob sie im Recht oder Unrecht sind, indem sie unser Haus meiden, wage ich nicht zu entscheiden. Mein teurer Mann – vor dem mein ganzes Leben so klar liegt, wie vor mir selbst – hatte den Wunsch diese Damen einzuladen. Er glaubte irrtümlicherweise, dass seine Achtung für mich maßgebend für die Achtung seiner Freunde sein würde; weder er noch ich konnten ahnen, dass die schmerzlichen Schicksale meines vergangenen Lebens durch jemand der sie kannte und dessen Verrat wir noch erst zu ergründen haben werden, enthüllt sein konnten. Das Geringste, was ich als Anerkennung für Ihre große Güte tun kann, ist, Sie mir gegenüber in dieselbe Lage zu setzen, in der sich die andren Damen befinden. Die Umstände, unter denen ich Mr. Germaines Frau geworden bin, sind in vielen Beziehungen sehr wunderbar. Sie sind ohne Rückhalt oder Auslassung in einer kleinen Geschichte niedergelegt, die mein Mann zur Zeit unserer Verheiratung schrieb, um dadurch seine fernen Verwandten, an deren Wohlwollen ihm viel gelegen war, zufriedenzustellen. Das Manuskript befindet sich in dieser Brieftasche. Ich erbitte es mir von Ihnen beiden als eine persönliche Gunst, dass Sie den Inhalt durchlesen. Mögen Sie, nachdem Sie es gelesen haben, entscheiden, ob ich für den Umgang achtbarer Frauen geeignet bin oder nicht.«
Sie reichte uns mit einem sanften, traurigen Lächeln ihre Hand und wünschte uns Gutenacht. Meine Frau vergaß in ihrer erregten Weise alle Förmlichkeiten und küsste sie beim Abschied. Bei diesem einen, kleinen Beweise schwesterlicher Teilnahme brach alle Stärke, die das arme Wesen den ganzen Abend über gezeigt hatte, zusammen – sie weinte bitterlich.
Ich teilte ganz die herzlichen, teilnehmenden Gefühle meiner Frau für sie, leider konnte ich aber von dem Vorrecht meiner Frau, sie zu küssen, nicht Gebrauch machen. Auf der Treppe fand ich Gelegenheit ihrem Manne, der uns zur Haustür geleitete, einig ermunternde Worte zu sagen.
»Ehe ich dieses öffne«, sagte ich, auf die Brieftasche unter meinem Arme deutend, »bin ich mir eines klar bewusst, dass wenn ich nicht schon verheiratet wäre, ein Herr, ich Sie um Ihre Frau beneiden würde, glauben Sie mir.«
»Lesen Sie, was hier geschrieben steht und Sie werden begreifen, was ich um meiner falschen Freunde willen diesen Abend gelitten habe.«
Am nächsten Morgen öffneten meine Frau und ich die Brieftasche und lasen die seltsame Geschichte von George Germaines Verheiratung.