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Die Geschichte
George Germaine schreibt und erzählt seine eigene Liebesgeschichte
Siebentes Kapitel
Die Frau auf der Brücke

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Meine Mutter störte mich durch einen Blick in die Tür der Bibliothek, bei meinen Büchern.

»Ich habe in meinem Zimmer ein kleines Bild aufgehängt«, sagte sie, »komm hinauf, mein Sohn und sage mir deine Meinung darüber.«

Ich stand auf und folgte ihr. Sie zeigte auf ein kleines Miniaturbild, das sie über den Kaminsims gehängt hatte.

»Weißt du, wen dieses Bild darstellt?« fragte sie, halb traurig, halb scherzend. »George! Erkennst du dich wirklich selbst, als dreizehnjährigen Knaben, nicht wieder?«

Wie soll ich mich wiedererkennen? Durch Krankheit und Kummer gealtert, auf meinem langen Heimwege von der Sonne gebräunt! Schon begann mein Haar sich an der Stirn zu lichten, meine Augen hatten sich gewöhnt traurig und müde zu blicken – was hatte ich mit jenem blonden, starken, lockigen, klaräugigen Knaben gemein, der mich aus dem Bilde anblickte? Der Anblick des Bildes machte mir einen merkwürdigen Eindruck. Es ergriff mich eine unsagbare Schwermut und eine unerträgliche Verzweiflung über mich selbst erfüllte mich. Indem ich mich bestmöglichst bei meiner Mutter entschuldigte, verließ ich das Zimmer und stand im nächsten Augenblick vor der Haustür.

Zuerst durchschritt ich den Park und ließ dann die Grenzen meiner Besitzung hinter mir. Einen Nebenweg verfolgend, kam ich an unseren wohlbekannten Fluss – der so schön, so berühmt unter Schottlands Forellenfischern ist. Augenblicklich war nicht die Jahreszeit zum Fischen. Kein

lebendes Wesen war in der Nähe, als ich mich an das Ufer setzte. Die alte steinerne Brücke, die sich über den Fluss wölbte, war ungefähr hundert Schritte von mir entfernt; und die untergehende Sonne färbte eben das sanft unter ihren Bogen dahinfließende Wasser mit dem roten Licht der sinkenden Sonne.

Immer verfolgte mich das Gesicht des Knaben auf dem Bilde. Mir war’s, als machte mir das Bild in seiner eigenen, unerbittlichen Sprache den Vorwurf: »Sieh wie Du einst warst – und was bist Du jetzt!«

Mein Gesicht in dem weichen, duftigen Grase verbergend dachte ich der zehn verlorenen Jahre von damals bis jetzt.

Wie sollte das enden? Wenn ich das gewöhnliche Leben eines Mannes lebte, welche Aussichten hatte ich dann?

Liebe? Heirat? Ich lachte laut auf, als mir der Gedanke einkam. Seit den harmlos glücklichen Tagen meiner Knabenzeit hatte ich von Liebe nicht mehr empfunden als das Insekt, das eben vom Grase auf meine Hand kroch. Sicherlich konnte ich mir mit meinem Gelde eine Frau kaufen; aber würde mein Geld sie mir teuer machen? – so teuer wie mir einst Mary in der goldenen Zeit war, als jenes Bild gemalt wurde? May! Ob sie noch lebte? Ob sie verheiratet war? Würde ich sie wohl wiederkennen, wenn ich sie sähe? Torheit! Ich hatte sie seit ihrem zehnten Jahre nicht gesehen: jetzt war sie eine Frau, ich ein Mann. Würde sie mich erkennen, wenn wir uns begegneten? Das Bild, das mich noch immer verfolgte, beantwortete mir die Frage! »Sieh, wie Du einst warst —was bist Du nun?«

Ich erhob mich und schritt auf und ab, bestrebt meinen Gedanken eine andere Richtung zu geben. Es war unmöglich. Nach jahrelanger Verbannung war Mary in mein Gedächtnis zurückgekehrt. Ich setzte mich wieder am Ufer nieder. Die Sonne sank tiefer; schwarze Schatten hingen unter den Bogen der alten, steinernen Brücke. Der rote Schimmer war von dem sanft fließenden Wasser gewichen und hatte es mit eintönigem Stahlgrau überzogen. Friedlich blickten die ersten Sterne vom Himmel hernieder. Die ersten Schauer des Nachtwindes rauschten durch die Bäume und erregten hier und dort die seichten Stellen des Wassers. Und immer wieder – je dunkler es wurde, je beharrlicher führte mein Bild mich in die Vergangenheit zurück – je lebhafter zeigte sich meiner Erinnerung das längst verlorene Bild der kleinen Mary.

War das die Vorahnung, dass sie auch in meinen Träumen zurückkehren würde – in vollendeter Weiblichkeit, im Frühling ihres Lebens?

Es war ja möglich.

Ich war nicht mehr ihrer unwert, wie ich es einst gewesen. Schon der Eindruck, den mein Bild auf mich hervorgebracht hatte, war in sich selbst durch eine innere, moralische Wandlung zum Bessern hervorgerufen, und diese hatte sich im sicheren Fortschreiten vollzogen, seit ich an meiner Wunde krank, ganz hilflos unter Unbekannten im fremden Lande lag. Krankheit, die manchem Menschen Freund und Lehrer geworden ist, war es auch mir geworden. Mit Schrecken gedachte ich meiner Jugendsünden – der verlorenen Tage, als ich mich gottlosen Zweifeln über die edelsten und trostreichsten Güter des menschlichen Lebens ergeben hatte. War es töricht zu hoffen, dass ihr Geist und der meine sich wieder vereinigen könnten, nun ich geweiht durch Schmerzen, gereinigt durch Reue war. Wer konnte das sagen? Ich erhob mich wiederum. Es war ungesund, wenn ich mich bis zur Nachtzeit an dem Ufer des Flusses aufhielt. Dem Antrieb folgend, der uns in gewissen aufgeregten Gemütsstimmungen veranlasst, Wechsel und Bewegung aufzusuchen, hatte ich das Haus verlassen. Das Mittel war fehlgeschlagen, denn mein Gemüt war mehr beunruhigt als zuvor. Das Weiseste was ich tun konnte, war nach Hause zu gehen und meiner guten Mutter bei ihrem Lieblingsspiel, dem Piquet, Gesellschaft zu leisten. Ich erhob mich, um den Heimweg anzutreten – blieb aber gebannt durch die Schönheit des letzten, matten Lichtes am westlichen Himmel, der hinter der dunklen Linie des Brückengeländers hervorleuchtete, stehn.

In dem großartigen Zusammenfließen der nächtlichen Schatten, in dem tiefen Schweigen des scheidenden Tages, stand ich allein und beobachtete das sinkende Licht.

Als ich so dastand, wechselte die Szenerie. Eilig und leicht glitt eine lebende Gestalt über die Brücke. Sie kam hinter der dunklen Linie des Brückengeländers hervor und wurde von dem letzten Strahle des westlichen Lichtes beleuchtet. Sie überschritt die Brücke, stand still und kehrte halbwegs zurück. Wiederum stand sie still. Es vergingen Minuten – und immer noch stand die Gestalt dort hinter dem Brückengeländer wie ein bewegungsloser, dunkler Gegenstand.

Ich trat ein Wenig vorwärts, bis ich nahe genug war um den Anzug, in den die Gestalt gekleidet war, zu erkennen. Aus der Kleidung ging mir hervor, dass die einsame Gestalt ein weibliches Wesen war.

Sie sah mich im Schatten, den die Bäume auf das Ufer warfen, nicht. Sie stand, die Arme in ihren Mantel gehüllt und blickte in den dunklen Fluss. Warum wartete sie hier, am späten Abend, so allein?

Als ich darüber nachdachte, bewegte sie den Kopf. Sie blickte von einem Ende bis zum andern über die Brücke. Erwartete sie jemand, den sie hier treffen wollte? Oder fürchtete sie beobachtet zu werden und wollte sich überzeugen, dass sie allein war?

Ein plötzlicher Zweifel über den Grund, weshalb sie diesen einsamen Ort aufsuchte – ein plötzliches Misstrauen gegen die verlassene Brücke und den sanft rauschenden Fluss machte mein Herz rascher schlagen und bewog mich zum sofortigen Entschluss. Ich stieg schnell den Weg vom Ufer zur Brücke hinan, in der Absicht sie anzureden, da es noch Zeit war.

Sie bemerkte mich erst, als ich ganz nahe bei ihr stand. Ich war ihr mit einem unwiderstehlichen Gefühl der Erregung genaht, weil ich nicht wusste wie sie meine Anrede aufnehmen würde. Im Augenblick, als sie sich zu mir umwendete, kam mir die Fassung zurück. Mir war als hätte ich mit der Voraussetzung einem Fremden zu begegnen, plötzlich einen Freund gefunden.

Und doch war sie eine Fremde. Ich hatte nie vorher in dieses edle, erregte Antlitz geschaut, nie die hohe Gestalt gesehen, deren ungewöhnliche Anmut und deren vollkommenes Ebenmaß, selbst der lange Mantel nicht ganz zu verhüllen im Stande war. Sie war vielleicht eine vollendete

Schönheit. Ihr Äußeres hatte Mängel, die selbst in dem erlöschenden Lichte sichtbar waren. Auch ihr Haar, wie es unter dem großen Gartenhut hervorblickte, schien nur kurz, wie Männerhaar, zu sein und die Farbe war jenes einförmige, glanzlose Braun wie man es so oft bei englischen Frauen von gewöhnlichem Schlage sieht. Trotz dieser Mängel aber, lag ein geheimnisvoller Reiz in ihrem Ausdruck, ein angeborener Zauber in ihren Bewegungen, die mich unendlich sympathisch berührten und mich zur Bewunderung hinrissen. Der erste Blick, den ich auf sie richtete, hatte mich für sie eingenommen.

»Darf ich fragen, ob Sie Ihren Weg verfehlt haben?« fragte ich.

Mit einem wunderbar forschenden Ausdruck ruhten ihre Augen auf mir. Sie schien weder erstaunt noch verwirrt, dass ich gewagt hatte, sie anzureden.

»Ich kenne die Gegend sehr genau,« fuhr ich fort. »Kann ich Ihnen irgendwie nützlich sein?«

Sie sah mich noch immer mit ruhigen forschenden Blicken an. Für einen Augenblick schien mein Gesicht, fremd, wie ich ihr war, sie zu beunruhigen; es war ihr, als hätte sie dieses Gesicht einstmals gesehen und wieder vergessen. Mit einer leichten Kopfbewegung verwarf sie den Gedanken, wenn sie ihn überhaupt gehabt hatte, und sah in den Fluss hinab, als ob ich sie nichts weiter anginge.

»Tausend Dank. Ich habe den Weg nicht verfehlt und gehe oft abends allein aus. Gute Nacht.«

Sie sprach kalt, aber höflich. Ihre Stimme war herrlich; ihre Verneigung, als sie sich von mir verabschiedete, war vollendet in ihrer ungekünstelten Anmut. Sie ging von der Seite die Brücke hinab, von der sie sie betreten hatte und folgte langsam der dunklen Spur des Weges.

Ich war aber noch nicht ganz befriedigt. Hinter diesem reizenden Ausdruck und diesen bezaubernden Bewegungen lag etwas Anderes, was mir mein Instinkt als etwas Gefahrdrohendes bezeichnete. Als ich dem entgegengesetzten Ende der Brücke zuschritt, begannen sich Zweifel in mir zu regen, ob sie die Wahrheit gesprochen hatte. Verließ sie die Nähe des Flusses nicht etwa bloß, um mich los zu werden?

Ich beschloss meinen Argwohn auf die Probe zu stellen. Von der Brücke aus hatte ich nur den Weg zu überschreiten, um in eine Schonung am Ufer des Flusses zu gelangen. Hier konnte ich, versteckt hinter dem nächsten Baum, der stark genug war, mich zu decken, die ganze Brücke übersehen und ich musste es sicher bemerken, wenn sie zum Fluss zurückkehrte, weil noch ein Lichtstrahl die Stelle erhellte. Es ging sich nicht leicht in der dunklen Schonung; ich musste mich förmlich bis zu einem geeigneten Baume durchtasten.

Kaum hatte ich auf dem unebenen Boden festen Fuß hinter dem Baume gefasst, als die Stille der Dämmerungsstunde plötzlich durch den fernen Ton einer Stimme unterbrochen wurde.

»Es war eine Frauenstimme. Sie erhob sich durchaus nicht zu besonderer Höhe – der Ausdruck war der Ausdruck des Gebets – und die Worte, die ich vernahm, waren:

»Christus, sei mir gnädig!«

Darauf war Alles still. Eine namenlose Angst beschlich mich, als ich nach der Brücke sah.

Sie stand am Geländer. Ehe ich mich bewegen, ehe ich rufen, ja selbst ehe ich frei atmen konnte, sprang sie in den Fluss.

Der Strom floss mir entgegen. Ich sah sie aus dem Wasser emportauchen, während ein Lichtstrahl auf die Mitte der Strömung fiel. Ich stürzte am Ufer hinab. Als ich eben Hut, Mantel und Schuh abwerfen wollte, versank sie wieder. Ich war ein geübter Schwimmer und sobald ich im Wasser war, gewann ich meine Fassung wieder – ich war wieder ich selbst geworden.

Ich wurde mitten in die Strömung getrieben und schwamm dadurch erheblich schneller. Als sie zum zweiten Male auftauchte, war ich dicht hinter ihr – ich sah sie nur als einen dunklen Gegenstand, der noch vor mir auf der Oberfläche des Wassers trieb. Noch ein Stoß und – ich hatte sie mit meinem rechten Arm umfasst, und hielt ihr Gesicht über dem Wasser. Sie war bewusstlos. Ich konnte sie bequem so halten, dass ich Herr meiner Bewegungen blieb und

konnte mich, wenn nicht Ermüdung oder ein Windstoß mich hinderten, sicher der Aufgabe unterziehen, sie ans Ufer zurückzubringen.

Mein erster Anlauf machte mir klar, dass ich die Hoffnung aufgeben musste, beladen, wie ich war, dem starken Strome entgegen zu schwimmen, der von beiden Ufern zur Mitte trieb. Ich versuchte es von einer und von der andern Seite und – gab es auf. Mir blieb nur der Ausweg

mich mit ihr in den Strom hinabtreiben zu lassen. Einige fünfzig Ellen weiter abwärts machte der Fluss eine Biegung um einen Landvorsprung, auf dem ein kleines Gasthaus stand, das Angler in der Zeit des Fischens besuchten. An der Stelle angelangt, machte ich einen wiederum vergeblichen Versuch zu landen. Jetzt blieb unsere letzte Hoffnung nur noch, dass die Bewohner des Gasthauses mich hörten. Ich rief mit aller Kraft meiner Stimme, als wir vorbeitrieben. Der Ruf wurde beantwortet. Ein Mann bestieg ein Boot. Fünf Minuten später hatte ich sie sicher am Ufer und der Mann und ich trugen sie in das Gasthaus am Ufer.

Die Wirtin und ihr Dienstmädchen waren sehr bereitwillig uns zu helfen, aber ebenso ungeschickt, um es richtig anzufangen. Zum Glück befähigten meine medizinischen Kenntnisse mich, sie anzuleiten. Ein gutes Feuer, warme Decken, Wärmflaschen, Alles stand zu meiner Verfügung. Ich zeigte den Frauen, wie sie das Belebungswerk anzufangen hatten, wir arbeiteten Alle beharrlich daran. Leider aber lag sie noch immer in ihrer ganzen Formenschönheit da, ohne ein Lebenszeichen von sich zu geben – allem Anscheine nach war sie ertrunken.

Eine letzte Hoffnung blieb noch – die Hoffnung, sie durch den Prozess, den man »künstliches Atmen« nennt, wieder zu beleben, wenn es mir nur gelang den dazu nötigen Apparat rechtzeitig herzustellen. Als ich im Begriff stand der Wirtin klar zu machen, was ich brauchte, wurde ich mir einer seltsamen Schwerfälligkeit mich auszudrücken bewusst; die gute Frau trat plötzlich von mir zurück und stieß einen Schrei des Schreckens aus.

»Guter Gott, Herr, Sie bluten!« schrie sie. »Wo kommt das Blut her? Wo sind Sie verwundet?«

In dem Augenblick, als sie das sagte, wusste ich was geschehen war. Die alte indische Wunde, wahrscheinlich durch die heftige Anstrengung, die ich mir zugemutet hatte, beschädigt, war wieder aufgegangen. Ich kämpfte mit einer plötzlichen Ohnmacht, die mich zu befallen drohte; ich versuchte den Bewohnern des Gasthauses noch zu sagen, was zu tun sei. Vergebens. Ich sank in die Knie; mein Kopf fiel an die Brust der Frau, die bewusstlos vor mir auf dem niedrigen Lager lag. Der Scheintod, der sie umfangen hielt, umfing nun auch mich. Der Welt um uns her verloren, lagen wir vereint durch die Zaubermacht des Todes, während mein Blut auf sie niederströmte! Wo weilten unsere Geister in jenem Augenblick? Waren sie vereint und sich einander bewusst? Kannten wir uns in jener Entzückung wieder, die uns durch ein geistiges Band vereinte, wir Zwei, die wir uns ahnungslos und unentdeckt auf der verhängnisvollen Brücke begegnet waren? Ihr die Ihr geliebt und verloren habt – deren einziger Trost gewesen ist an andre Welten über diese hinaus zu glauben – könnt Ihr Euch unwillig von meiner Frage abwenden? Könnt Ihr wahrheitsgemäß sagen, dass Ihr nicht auch einmal so gefragt habt?

Zwei Schicksalswege

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