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Die Geschichte
George Germaine schreibt und erzählt seine eigene Liebesgeschichte
Achtes Kapitel
Die verwandten Geister

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Der Morgensonnenschein, der in ein schlecht verhängtes Fenster schien; ein ungeschicktes, hölzernes Bett, mit dicken Pfosten, die bis zur Decke reichten; an einer Seite des Bettes meiner Mutter willkommenes Gesicht; an der anderen Seite ein ältlicher Herr, der mir im Augenblick

fremd erschien – das waren die Gegenstände, die sich meinen Blicken darboten, als ich zuerst wieder mit Bewusstsein zu der Welt zurückkehrte, in der wir leben.

»Sehen Sie, sehen Sie Doktor, er kommt wieder zur Besinnung.«

»Öffnen sie den Mund, mein Herr, und nehmen Sie einen Schluck hiervon.«

An einer Seite des Bettes saß meine Mutter und erfreute sich an meinem Anblick und von der andern reichte mir der unbekannte Herr, der als »Doktor« angeredet wurde, einen Löffel voll Branntwein und Wasser. Er nannte das »das Lebenselixier« und bat mich zu beachten, er sprach mit starkem, schottischem Akzent, dass er selbst auch davon genösse, um mich von der Wahrheit seiner Aussage zu überzeugen.

Das Reizmittel tat seine guten Dienste. Mein Kopf war weniger schwindlig; mein Bewusstsein wurde klarer. Ich konnte mich einigermaßen auf die Hauptereignisse des letzten Abends besinnen. Eine oder zwei Minuten später – und in meinem Gedächtnis tauchte lebhaft das Bild derjenigen auf, um deren Person sich alle diese Ereignisse gedreht hatten. Ich versuchte mich im Bett auszurichten und fragte ungeduldig: »Wo ist sie?« Der Doktor reichte mir einen zweiten Löffel voll von dem Lebenselixier und wiederholte mir ernst seine erste Anrede.

»Öffnen Sie den Mund, mein Herr, und nehmen Sie einen Schluck hiervon.«

Ich beharrte auf meiner Frage.

»Wo ist sie?«

Der Doktor beharrte auf seiner Verordnung.

»Nehmen Sie einen Schluck hiervon.«

Ich war zu schwach, um über die Sache zu streiten und – gehorchte.

Mein ärztlicher Beistand nickte meiner Mutter über mein Bett hin zu, und sagte: »Nun wird es werden!« Meine Mutter empfand Mitleid mit mir und befreite mich mit einigen Worten aus meiner Unruhe:

»Dank der Hilfe des Herrn Doktors hier wird die Dame bald wieder hergestellt sein, George.«

Ich sah meinen ärztlichen Kollegen mit erneutem Interesse an. Er war also der rechtmäßige Urquell der Überzeugung, die mir beigebracht worden war, dass ich sterben müsse.

»Wie haben Sie sie wieder zum Leben zurückgebracht?« fragte ich. »Wo ist sie jetzt?«

Der Doktor erhob seine Hand und gemahnte mich zu schweigen.

»Es wird Alles gut werden, mein Herr, wenn wir systematisch vorschreiten,« begann er in sehr entschiedener Weise. »Jedes Mal, wenn Sie den Mund öffnen, darf es nur geschehen, um einen Schluck hiervon zu nehmen, nicht aber um zu sprechen. Zur gehörigen Zeit werde ich sowohl als Ihre gute Frau Mutter Ihnen Alles sagen, was für Sie wissenswert ist. Da ich zufällig der Erste war, der, wie man es zu nennen pflegt auf dem Schauplatz der Tat erschien, so liegt es in der Natur der Sache, dass ich auch zuerst spreche. Erlauben Sie mir nur noch einen Löffel voll von dem Lebenselixier zu mischen – und dann werde ich, wie der Dichter sagt, meine schlichte ungeschmückte Geschichte erzählen.«

In dem sorgfältig gewähltesten Englisch, das ich je gehört habe, sprach er diese Worte mit seinem scharfen schottischen Akzent. Ein dickköpfiger, breitschultriger, halsstarriger Mann – es war vollkommen nutzlos mit ihm zu streiten. Zu meiner Ermutigung blickte ich meiner Mutter in ihr liebes Gesicht und ließ dem Doktor seinen Willen.

»Mein Name ist Mac Glue,« fuhr er fort. »Bald nachdem Sie Ihren Wohnsitz in dieser Gegend aufgeschlagen hatten, gab ich mir die Ehre, Ihnen meine Aufwartung zu machen. Sie erinnern sich meiner jetzt nicht, was bei dem unsicheren Zustand Ihres Gedächtnisses sehr begreiflich

ist. Da Sie selbst Arzt sind, werden Sie sich erklären, dass dieser Zustand von dem starken Blutverlust herrührt.«

Hier riss mir die Geduld.

»Bitte, lassen Sie mich ganz aus dem Spiel,« warf ich ein. »Sprechen Sie mir nur von der Dame.«

»Sie haben den Mund geöffnet, mein Herr!« rief Mr. Mac Glue streng. »Sie wissen die Strafe, die darauf steht – nehmen Sie einen Schluck hiervon. Ich sagte Ihnen, dass wir systematisch vorgehen müssten,« fuhr er fort, nachdem er mich gezwungen hatte, mich seiner Strafe zu unterziehen. »Jedes Ding zu seiner Zeit, Mr. Germaine, jedes Ding zu seiner Zeit. Ich sprach von Ihrem körperlichen Zustand. Nun mein Herr, wie entdeckte ich Ihren körperlichen Zustand? Zu Ihrem Glück fuhr ich gestern Abend auf dem unteren Wege, das ist der Weg am Ufer des Flusses, nach Hause; als ich mich in der Nähe dieses Gasthauses, sie nennen es zwar Hotel, aber es ist nur ein Gasthaus, befand, hörte ich das Geschrei der Wirtin schon eine halbe Meile vorher. Wenn Alles im Geleise ist, sehen Sie, dann ist sie eine gute Frau, aber ganz unbrauchbar im Notfall. Halten Sie sich ruhig, ich komme nun zur Sache. Ich ging also hinein, um zu hören, ob das Geschrei durch irgendetwas veranlasst sei, was ärztliche Hilfe wünschenswert mache und da fand ich Sie und die fremde Dame – in einer Lage, die aufrichtig gesagt, was die Schicklichkeit anlangte, einiges zu wünschen übrig ließ. Still! Still! Ich spreche

im Scherz – Sie waren beide ohnmächtig. Als ich die Erzählung der Wirtin angehört und nach besten Kräften Erzählung und Erregung voneinander getrennt hatte, befand ich mich, während die Frau weiter sprach, im Zwiespalt, welchem von zwei Gesetzen ich zuerst gehorchen sollte. Das Gesetz der Galanterie gebot mir zuerst die Dame zum Gegenstande meiner ärztlichen Fürsorge zu machen – während das Gesetz der Menschlichkeit, da ich Sie noch immer bluten sah, mich gebieterisch an Sie wies. Ich bin kein Jüngling mehr – so ließ ich die Dame warten. Auf mein Wort! Mr. Germaine, Ihr Fall war kein leichter, besonders da wir Sie hier hinaufschaffen mussten. Mit Ihrer alten Wunde ist nicht zu scherzen mein Herr. Hüten Sie sich davor sie je wieder aufzureißen. Wenn Sie das nächste Mal abends spazieren gehen und eine Dame im Wasser finden – werden Sie im Interesse Ihrer Gesundheit am Besten tun, sie ruhig darin liegen zu lassen. Was sehe ich? Öffnen Sie schon wieder den Mund? Wünschen Sie wieder einen Schluck?«

»Er möchte mehr über die Dame hören,« sagte meine Mutter, meine Wünsche verdolmetschend.

»Ach so über die Dame,« fuhr Mac Glue fort. Er machte dabei den Eindruck eines Mannes, dem das vorgeschlagene Gesprächsthema nicht sehr anziehend erschien. »Über die Dame weiß ich nicht viel zu sagen. Sie ist ohne Zweifel eine schöne Frau. Wenn man ihr das Fleisch von den Knochen abziehen könnte, würde man ein herrliches Skelett darunter finden. Denn, glauben Sie mir, es gibt keine schön geformte Frau, die nicht bei ihrer Entstehung ein gutes Knochengerüst mitbekommen hat. Ich halte nicht viel von dieser Dame, – vom sittlichen Standpunkte aus, verstehen Sie. Wenn Sie mir gestatten, Madame, meine Ansicht auszusprechen, so glaube ich unbedingt, dass im Hintergrund dieser dramatischen Aufführung auf der Brücke, die sie gemacht hat, ein Mann steckt. Da ich aber entschieden nicht der Mann bin so geht mich die Sache nichts an. Ich hatte nur die Pflicht, die lebende Maschine wieder in Gang zu bringen und, weiß der Himmel, das war ein gutes Stück Arbeit! Der Fall war noch schwieriger als der Ihre, mein Herr. In meinen langen Erfahrungen sind mir noch nie zwei Menschen begegnet, die so wenig bereit waren zu dieser Welt und ihren Mängeln zurückzukehren als Sie beide. Als mir nun endlich das Werk gelungen war und ich selbst vor Anstrengung und Ermüdung fast ohnmächtig wurde, raten Sie – dieses eine Mal erlaube ich Ihnen zu sprechen – raten Sie, welches die ersten Worte der Dame waren, als sie wieder zum Bewusstsein kam!«

Ich war zu erregt, um nachdenken zu können. »Ich kann nicht raten!« sagte ich ungeduldig.

»Ja, geben Sie es nur auf,« bemerkte Mr. Mac Glue. »Die ersten Worte, die sie an den Mann richtete, der sie dem Rachen des Todes entrissen hatte«, waren diese: »Wie konnten Sie wagen mein Vorhaben zu stören? Warum ließen Sie mich nicht sterben?« Ich kann einen Eid darauf leisten, dass dieses ihre eigenen Worte sind. Ich war so gereizt dadurch, dass ich sie mit ihrer eigenen Münze bezahlte, wie man zu sagen pflegt. »Der Fluss ist hier ganz nah, Madame«, sagte ich. »Führen Sie Ihr Vorhaben aus. Ich verspreche Ihnen, dass ich meinerseits keine Hand rühren werde, um sie zu retten.« Sie sah mich scharf an. »Sind Sie der Mann, der mich aus dem Wasser zog?« fragte sie. »Gott bewahre! Nein,« sagte ich. »Ich bin nur der Arzt, der töricht genug war sich nachher an Ihre Behandlung zu wagen.« Sie wendete sich zur Wirtin: »Wer zog mich aus dem Flusse?« fragte sie. Die Wirtin sagte es ihr – und nannte Ihren Namen. »Germaine?« sprach sie zu sich selbst. »Ich kenne niemand des Namens; ob er der Mann sein mag, der auf der Brücke mit mir sprach?« »Ja,« sagte die Wirtin; »Mr. Germaine sagte, dass er Sie auf der Brücke traf.« Als sie das hörte, dachte sie ein Weilchen nach und dann verlangte sie Mr. Germaine zu sehen. »Wer er auch sei,« sagte sie, »er hat sein Leben für meine Rettung eingesetzt und dafür bin ich ihm Dank schuldig.« »Heute Abend können Sie ihm nicht mehr danken,« versetzte ich, »er liegt hier oben und befindet sich zwischen Leben und Sterben; ich habe nach seiner Mutter geschickt – warten Sie bis morgen.« Sie drehte sich nach mir um, und sah halb erschreckt, halb erzürnt aus. »Ich kann nicht warten« sagte sie, »Sie wissen nicht, was Sie dadurch hier angerichtet haben, dass Sie mich zum Leben zurückbrachten; ich muss morgen diese Gegend verlassen; ich muss morgen aus Pertshire fort sein, wann kommt die erste Post, die nach Süden geht, hier vorüber?« Da mich die erste Post, die nach Süden geht, nichts anging, verwies ich sie an die Bewohner des Gasthauses. Nun die Dame hergestellt war, führte mich mein Beruf hinauf in dieses Zimmer, um zu sehen, wie es bei Ihnen ging. Sie befanden sich ganz nach Wunsch; ich fand Ihre gute Mutter an Ihrem Bett. So ging ich denn nach Hause, um zu sehen, wer von meinen gewöhnlichen Kranken mich erwartete. Als ich diesen Morgen zurückkam – erzählte mir die alberne Wirtin eine neue Geschichte. »Sie ist fort!« rief sie. »Wer ist fort?« fragte ich. »Die Dame,« sagte sie, »sie fuhr heute früh mit der ersten Post ab!«

»Sie wollen mir doch nicht sagen, dass sie dieses Haus verlassen hat?« rief ich aus.

»Ja, gewiss!« sagte der Doktor, so bestimmt wie immer. »Fragen Sie Ihre Frau Mutter, die wird es Ihnen nach Herzenslust bestätigen. Ich muss noch andere Kranke besuchen – und bin eben auf meiner Rundfahrt begriffen. Sie werden nichts mehr von der Dame sehen und ich denke das ist das Beste! In zwei Stunden bin ich wieder zurück und wenn sich Ihr Zustand inzwischen nicht verschlimmert hat, will ich versuchen Sie aus diesem unbehaglichen Ort in Ihr bequemes, wohlbekanntes Bett daheim zu übersiedeln. Aber lassen Sie ihn nicht sprechen, Madame, – lassen Sie ihn nicht sprechen!«

Mit diesen Abschiedsworten verließ uns Mr. Mac Glue.

»Ist es wirklich wahr?« fragte ich meine Mutter.

»Hat Sie das Gasthaus ohne mich zu sehen, verlassen?«

»Sie war nicht aufzuhalten, George,« antwortete meine Mutter. »Die Dame verließ das Gasthaus heute früh mit der Edinburgher Post.«

Ich war tief betrübt und bitter enttäuscht. Ja »bitter« ist das rechte Wort, obgleich sie mir eine Fremde war.

»Sahst Du sie selbst?« fragte ich.

»Ich sah sie einige Minuten lang, lieber Sohn, als ich auf dem Wege zu Deinem Zimmer war.«

»Was sagte sie?«

»Sie bat mich, sie bei Dir zu entschuldigen. Sie sagte: »Teilen Sie Mr. Germaine mit, dass meine Lage furchtbar ist: mir kann kein Mensch helfen. Ich muss fort von hier. Mein verflossenes Leben ist in diesem Augenblicke ebenso entschieden beendet, als hätte Ihr Sohn mich gestern in dem Flusse ertrinken lassen. Ich muss an einem neuen Ort ein neues Leben zu beginnen versuchen. Bitten Sie Mr. Germaine in meinem Namen um Vergebung, dass ich abreise, ohne ihm gedankt zu haben. Ich darf nicht zögern! Man könnte mich verfolgen und auffinden. Es gibt einen Menschen, den ich entschlossen bin nie wieder zu sehen – nie! nie! nie! Leben Sie wohl; versuchen Sie mir zu vergeben.«

Sie barg ihr Gesicht in ihre Hände und schwieg. Ich bemühte mich ihr Vertrauen zu gewinnen – es war vergebens; ich musste sie verlassen. Diese unglückliche Frau, George, muss maßlos elend sein und sie ist ein so herzgewinnendes Geschöpf! Es war mir unmöglich ihr mein Mitleid zu versagen, ob sie es verdient oder nicht. Ein tiefes Geheimnis umgibt sie, lieber Sohn. Sie spricht Englisch ohne jeden fremdartigen Akzent – und doch trägt sie einen fremden Namen.

»Sagte sie Dir ihren Namen?«

»Nein – und ich wollte sie nicht danach fragen. Die Wirtin hier ist aber keine sehr rückhaltende Person, sie erzählte mir, dass sie die Wäsche der Unglücklichen noch gesehen habe, während sie am Feuer getrocknet wurde. Der Name, den sie trug war: »Van Brandt.«

»Van Brandt?« wiederholte ich. »Das klingt, wie ein holländischer Name. Du sagst aber, dass sie wie eine Engländerin sprach, vielleicht ist sie in England geboren.«

»Oder vielleicht ist sie verheiratet,« fügte meine Mutter hinzu, »und van Brandt ist der Name ihres Mannes.«

Der Gedanke, dass sie verheiratet sein möchte, war mir unbehaglich. Ich wünschte meine Mutter hätte diese Vermutung nicht ausgesprochen. Ich weigerte mich sie zu teilen und beharrte in meinem Glauben, dass die Fremde unvermählt sei, dann konnte ich mir ja gestatten, ungehindert an sie zu denken; ich konnte dann ja hoffen die Spur der reizenden Fliehenden zu entdecken, die mir ein so hohes Interesse eingeflößt hatte und deren Selbstmordversuch mich fast das Leben gekostet hätte. Freilich war die Hoffnung sie wiederzufinden zweifelhaft genug, wenn sie wirklich bis Edinburgh gereist war, – was ziemlich sicher schien, da sie unentdeckt

bleiben wollte. Die große Stadt und mein schwacher Gesundheitszustand machten das Suchen dort sehr schwer und dennoch belebte mich die Hoffnung so, dass ich kein Gefühl der Niedergeschlagenheit empfand. Ich hatte die feste Überzeugung, oder ich sollte besser sagen, den sicheren Aberglauben, dass wir beide, die wir beinah mit einander gestorben wären, die wir vereint zum Leben zurückgerufen waren, auch bestimmt sein mussten in Zukunft noch gemeinsame Freuden oder Schmerzen zu durchleben. »Ich denke, ich werde sie wiedersehen,« war mein letzter Gedanke, ehe die Schwäche mich übermannte und ich in einen friedlichen Schlummer sank.

In derselben Nacht wurde ich von dem Gasthause nach meinem eigenen Zimmer gebracht und in dieser Nacht sah ich sie im Traum wieder.

Ihr Bild war mir ebenso lebhaft gegenwärtig, als das so ganz verschiedene der kleinen Mary, wie ich sie in früheren Tagen erblickt hatte. Die Traumgestalt der Frau war gekleidet wie ich sie auf der Brücke gesehen hatte. Sie trug denselben breitgeränderten Gartenhut von Stroh. Sie sah mich an, wie sie mich angesehen hatte, als ich mich ihr in dem matten Abendlicht genähert hatte, bald aber verklärte sich ihr Gesicht durch ein göttlich schönes Lächeln und sie flüsterte in mein Ohr: »Freund, kennst du mich?«

Ich kannte sie sicherlich und – doch hatte ich ein unbegreifliches Gefühl von Zweifel. Obgleich ich sie im Traum als die Fremde erkannte, die mich so lebhaft beschäftigte, war ich doch unzufrieden mit mir selbst, als hätte ich sie nicht recht erkannt. Mit diesem Gedanken erwachte

ich und schlief die Nacht über nicht mehr.

In drei Tagen war ich kräftig genug mit meiner Mutter auszufahren und zwar in dem bequemen, altmodischen, offenen Wagen, der Mr. Germaine gehört hatte.

Am vierten Tage beschlossen wir einen Ausflug nach einem kleinen Wasserfall in unserer Nachbarschaft zu machen. Meine Mutter hatte eine große Vorliebe für diesen Ort und hatte den Wunsch ausgesprochen, ein Andenken daran zu besitzen. Ich beschloss mein Skizzenbuch mitzunehmen, für den Fall, dass ich mich kräftig genug fühlen würde, um ihr eine Zeichnung von ihrer Lieblingslandschaft zu machen. Ich fand das Skizzenbuch, das ich suchte und das ich seit Jahren nicht benutzt hatte, in einem alten Schreibtisch, der seit meiner Abreise nach Indien nicht geöffnet worden war. Während des Suchens zog ich einen Schubkasten in dem Tisch auf und fand darin eine Reliquie aus alter Zeit – meiner armen, kleinen Mary erste Stickerei – die grüne Flagge!

Der Anblick des vergessenen Talismanes führte meine Erinnerung zu des Vogtes Hause zurück, ich gedachte der Dame Dermody und ihrer vertrauensvollen Prophezeiung für Mary und mich.

Ich lächelte, als ich mir die Behauptung der alten Frau zurückrief, dass es in Zukunft keiner menschlichen Macht gelingen würde, die verwandten Geister dieser Kinder zu trennen. Was war aus den prophezeiten Träumen geworden, durch die wir während unserer Trennungszeit miteinander verkehren sollten? Jahre waren vergangen und ich hatte weder schlafend noch wachend etwas von Mary gesehen. Jahre waren vergangen und das erste Traumbild, das mir von einem Weibe erschienen, war, vor wenigen Nächten, das Bild der Frau gewesen, die ich vom Ertrinken gerettet hatte! Ich dachte über diese Ereignisse und Wechsel in meinem Leben nach – aber ohne Zorn und Bitterkeit. Die neue Liebe, die sich in mein Herz geschlichen hatte, machte mich sanfter und milder. Ich sprach zu mir selbst: »Arme kleine Mary!« – und küsste die grüne Flagge in dankbarer Erinnerung an jene Tage, die nimmer wiederkehren konnten.

Wir fuhren nach dem Wasserfall.

Es war ein herrlicher Tag: die einsame Waldgegend war so strahlend und schön! Der Besitzer des Ortes hatte ein hölzernes Lusthaus, das eine Aussicht auf den niederstürzenden Strom bot, zur Bequemlichkeit der Besucher erbaut. Meine Mutter bat mich, zu versuchen, ob ich nicht

von dieser Stelle aus die Aussicht aufnehmen könnte. Ich bemühte mich ihr den Gefallen zu tun, aber das Resultat befriedigte mich nicht und ich gab das Zeichnen auf, ehe ich halb fertig war. Skizzenbuch und Bleistift auf dem Tische des Lusthauses zurücklassend, schlug ich meiner Mutter vor einen Gang über die kleine hölzerne Brücke zu machen, die den Strom dicht bei seinem Fall überspannt, um zu sehen, wie sich die Landschaft von dem neuen Gesichtspunkte aus ausnahm.

Die Ansicht des Wasserfalles, vom entgegengesetzten Ufer aus gesehen, bot für einen mittelmäßigen Zeichner, wie ich es war, noch größere Schwierigkeiten, als die eben verlassene. Wir kehrten also zum Lusthause zurück.

Ich näherte mich zuerst der geöffneten Tür, stand aber, durch eine unerwartete Entdeckung am Eintreten gehindert, plötzlich still. Das Haus war nicht mehr leer, wie wir es verlassen hatten. Eine Dame saß am Tisch, meinen Bleistift in der Hand, in meinem Skizzenbuche schreibend!

Nach einigem Zögern trat ich näher zur Tür und hielt dann wieder, in atemlosem Erstaunen, inne. Die Fremde in dem Lusthause war keine Andere, als die Frau, die sich von der Brücke aus den Tod geben wollte!

Darüber war kein Zweifel. Es war dasselbe Kleid; es war das unvergessliche Gesicht, das ich im Abendlicht gesehn, das mir noch vor wenigen Nächten im Traum erschienen war! Ja, es war dieselbe Frau – ich sah sie so deutlich, wie ich die Sonne auf den Wasserfall scheinen sah – es war dieselbe, mit meinem Bleistift in der Hand, in meinem Buche schreibend!

Meine Mutter stand dicht hinter mir: sie sah meine Erregung. »George, was ist Dir!« rief sie aus.

Ich wies durch die offene Tür des Lusthauses.

»Nun?« fragte meine Mutter, »was ist da zu sehen?«

»Siehst Du nicht jemand am Tisch sitzen und in meinem Skizzenbuche schreiben?«

Meine Mutter blickte mich erstaunt an. »Sollte er wieder krank werden?« sagte sie zu sich selbst.

Im selben Augenblick legte die Frau den Bleistift aus der Hand und erhob sich langsam.

Sie sah mich mit traurigen, bittenden Augen an, und erhob ihre Hand, indem sie mir winkte. Ich gehorchte. Mich unwillkürlich vorwärts bewegend, fühlte ich mich durch eine unwiderstehliche Macht näher und näher zu ihr gezogen, ich erstieg die kleine Treppe, die zu dem Lusthause führte. Wenige Schritte vor ihr stand ich still. Sie trat zu mir heran und legte ihre Hand auf meine Brust. Ihre Berührung erfüllte mich mit einem wunderbar gemischten Gefühl von Entzücken und Ehrfurcht. Nach einigen Augenblicken sprach sie, in leisen, melodischen Tönen, die sich in meinem Ohr mit dem fernen Rauschen des Wasserfalls vermischten, bis sie zu einem Tone verschwammen. Ich hörte das Rauschen, ich hörte von ihrer Stimme die Worte: »Gedenke mein. Komm zu mir.« Ihre Hand sank von meiner Brust herab. Das helle Tageslicht in dem Zimmer verdunkelte sich einen Augenblick, wie durch einen flüchtigen Schatten. Ich sah mich nach ihr um, als es wieder hell wurde. Sie war verschwunden.

Zwei Schicksalswege

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