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Die Geschichte
George Germaine schreibt und erzählt seine eigene Liebesgeschichte
Zweites Kapitel
Zwei junge Herzen

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»Er wächst zu schnell«, sagte der Doktor zu meiner Mutter, »und wird für einen Knaben von seinem Alter viel zu klug. Lassen Sie ihn sechs Monate lang aus der Schule, Madame, damit er zu Hause in der freien Luft umherlaufen kann; und sehen Sie ein Buch in seiner Hand, so nehmen Sie es ihm fort. Das sind meine Verordnungen!«

Diese Worte waren für ein Lebensschicksal entscheidend.

Um des Doktors Rat zu befolgen, wurde ich unbeschäftigt gelassen und durchstreifte einsam, ohne Brüder, Schwestern oder Gefährten meines Alters, die Umgebungen unseres einsamen Landhauses. Die Tochter des Vogtes war, wie ich, ein einziges Kind und hatte gleich mir keine Spielgefährten. Wir begegneten uns auf unseren einsamen Wanderungen an den Ufern des Sees. Aus unzertrennlichen Gefährten wurden wir allmälig zärtliche Liebende und beabsichtigten unser bräutliches Verhältnis ehe ich zur Schule zurückkehrte zur vollen Reife zu bringen, indem wir uns heirateten.

Was ich schreibe ist kein Scherz. So töricht es »vernünftigen Menschen« auch erscheinen mag, wir beiden Kinder waren Liebesleute – wenn solche überhaupt je existiert haben.

Wir kannten keine andere Freude, als die alles umfassende, die wir einer in des andern Gesellschaft fanden. Wir zürnten der Nacht, weil sie uns trennte. Wir flehten unsere beiderseitigen Eltern an, uns im nämlichen Zimmer schlafen zu lassen. Ich grollte meiner Mutter und Mary war ungehalten über ihren Vater, wenn sie uns auslachten und nach unseren ferneren Wünschen befragten. Wenn ich von jenen Tagen bis zur Zeit meines Mannesalters vorwärts blicke, erinnere ich mich lebhaft der glücklichen Stunden, die ich damals verlebte. Aus der späteren Zeit aber wüsste ich kein Entzücken dem zu vergleichen, das ich damals unaussprechlich und unwandelbar empfand und das mein ganzes, junges Herz erfüllte, wenn ich mit Mary die Felder durchstreifte; wenn ich mit Mary in meinem Boot den See durchkreuzte; wenn ich Mary nach der grausamen Trennung der Nacht wiedersah und in ihre geöffneten Arme flog, als wären wir Monde und Monde lang getrennt gewesen.

Welch eine Anziehungskraft fesselte uns so eng in einem Alter aneinander, wo der sympathische Zug der Geschlechter in ihr, wie in mir noch verborgen schlief?

Wir wussten es nicht und bemühten uns nicht es zu ergründen, wir gehorchten dem Triebe uns zu lieben, wie der Vogel dem Triebe zu fliegen folgt.

Man darf durchaus nicht voraussetzen, dass wir hervorragende Gaben oder Vorzüge besaßen, die uns in irgendeiner Art vor anderen Kindern unseres Alters auszeichneten. Wir waren durchaus nicht anders als andere. Man hatte mich in der Schule einen klugen Jungen genannt, aber es gab tausend Knaben in tausend anderen Schulen, die so gut wie ich obenan in der Klasse saßen und ihre Auszeichnungen erhielten. Um die Wahrheit zu sagen, ich ragte in keiner Weise hervor, außer – wie man zu sagen pflegt, dass ich »groß für mein Alter« war. Mary, ihrerseits, entwickelte keine besonderen Reize. Sie war ein zartes Kind mit milden, grauen Augen und von bleicher Gesichtsfarbe; sie war seltsam scheu, still und zurückhaltend, außer, wenn sie mit mir ganz allein war. Die Schönheit, die sie in jenen jungen Jahren schmückte, lag in einer gewissen ungekünstelten Reinheit und Liebenswürdigkeit des Ausdrucks und in der reizenden rotbraunen Farbe ihres Haares, das zierlich und anmutig in wechselndem Glanze strahlte. Obgleich wir dem äußeren Anscheine nach zwei ganz gewöhnliche Kinder waren, schien ihr Geist und der meine doch geheimnisvoll durch einen verwandten Zug verbunden zu sein, der nicht nur uns selbst verborgen blieb, sondern auch zu tief in uns schlummerte, um von älteren und weiseren Köpfen als die unseren enthüllt zu werden.

Man wird natürlich fragen, ob unsere Eltern nichts taten, um unsere vorzeitige Neigung, als sie nur noch eine harmlose Tändelei zwischen einem Knaben und einem Mädchen war, zu verhindern.

Mein Vater tat nichts – aus dem einfachen Grunde, weil er von Hause abwesend war.

Er war ein Mann von ruhelosem, unternehmendem Charakter. Da er sein Gut von Schulden beladen geerbt hatte, war es sein höchster Ehrgeiz, sein geringes Einkommen durch seine Bestrebungen zu vergrößern, einen Haushalt in London zu haben und auf der Leiter des Parlaments politische Ehren zu erklimmen. Ein alter Freund, der nach Amerika ausgewandert war, hatte ihm ein landwirtschaftliches Unternehmen in den westlichen Staaten vorgeschlagen, wodurch sie beide ihr Glück machen würden. Meines Vaters erregbare Phantasie erfasste die Idee. Über ein Jahr war er fern von uns in den Vereinigten Staaten; wir wussten nichts von ihm, als dass er, wie seine Briefe besagten, in nächster Zeit als einer der reichsten Männer Englands zurückkehren würde.

Was meine arme Mutter anbelangt, so war sie die sanfteste, weichherzigste Frau der Welt und – mich glücklich zu sehn, war das Ziel ihrer Wünsche.

Der kleine, hübsche Liebesroman der zwei Kinder zerstreute und interessierte sie. Sie scherzte mit Marys Vater über die bevorstehende Verbindung der beiden Familien, ohne den geringsten Gedanken an die Zukunft – ohne auch nur eine Ahnung von dem zu haben, was bei meines Vaters Rückkehr geschehen könnte. »Jeder Tag hat sein eigenes Glück und Leid« war der Wahlspruch meiner Mutter ihr ganzes Leben hindurch gewesen und sie stimmte ganz der Philosophie des Vogtes bei, die wir schon in diesen Zeilen mitteilten: »Sie sind nur Kinder, es ist kein Grund die Dinger jetzt schon zu trennen!«

Ein Mitglied der Familie aber fasste die Sache doch ernster und bedenklicher auf.

Meines Vaters Bruder besuchte uns in unserer Einsamkeit – er entdeckte was zwischen Mary und mir vorging – und war natürlich zuerst auch geneigt uns auszulachen; ein näheres Eingehen auf die Sache änderte aber seine Denkweise. Er überzeugte sich bald, wie töricht meine Mutter handelte, sah, dass der Vogt, obgleich er der bravste Diener war, den man sich denken konnte, hierbei schlau seine Interessen durch seine Tochter zu fördern suchte und fand, dass ich ein junger Tollkopf war, der seine natürliche Anlage zum Dummheiten machen außergewöhnlich früh entwickelte. Im Sinne dieser Beobachtungen sprach mein Onkel mit meiner Mutter und bot ihr an mich mit nach London zu nehmen und dort zu behalten, bis ich durch den Umgang mit seinen Kindern und die sorgfältige Aufsicht in seinem Hause wieder vernünftig geworden wäre.

Meine Mutter zögerte seinen Vorschlag anzunehmen, da sie besser meinen Charakter als mein Onkel kannte. Während sie noch zweifelte und mein Onkel ungeduldig die Entscheidung erwartete, ordnete ich selbst die Sache für meine Angehörigen, indem ich davon lief.

Ich ließ als Stellvertreter in meiner Abwesenheit einen Brief zurück, worin ich erklärte, dass keine Macht mich von Mary trennen würde und dass ich, so wie mein Onkel das Haus verlassen haben würde, heimzukehren und die Verzeihung meiner Mutter zu erbitten beabsichtigte. Trotz der genausten Nachforschungen gelang es nicht, mein Versteck zu

entdecken. Mein Onkel reiste mit der Prophezeiung ab, dass ich zur Schande der Familie heranwachsen würde und versprach, dass er meinem Vater mit der nächsten Post seine

Ansichten über mich nach Amerika hin mitteilen würde.

Das Geheimnis von dem Versteck, in dem ich allen Nachforschungen trotzte, ist bald zu erklären.

Ich war, ohne dass der Vogt es wusste, in dem Schlafgemach seiner Mutter versteckt. Ihr fragt: ob die Mutter des Vogtes darum wusste? Worauf ich Euch antworte: dass sie es wusste und – was noch mehr sagen will, dass sie stolz darauf war; nicht um eine feindliche Tat gegen meine Familie zu begehen, sie meinte nur damit eine Gewissenspflicht zu erfüllen.

Aber, im Namen alles Wunderbaren, wie war der Charakter dieser alten Frau? Lasst sie vor Euch erscheinen und für sich selber sprechen – die wilde, fast für eine Zauberin geltende Großmutter der sanften kleinen Mary, die moderne Sybille, die weit und breit in unserem Teile

von Suffolk, als Dame Dermody, bekannt war.

Sie schwebt mir wiederum so deutlich vor, als ich dieses schreibe, wie sie strickend oder lesend in dem niedlichen Landhause ihres Sohnes am Wohnstubenfenster saß und das Licht auf ihre Schulter fiel. Dame Dermody war eine kleine, magere, bewegliche, alte Frau mit feurigen schwarzen Augen, die von buschigen weißen Brauen bestattet waren, mit einer hohen, gefurchten Stirn und dichtem, weißem Haar, das sauber unter einem Häubchen geordnet war. Das Gerücht behauptete und behauptete mit Recht, dass sie von Geburt und Erziehung eine Dame war und dass sie absichtlich ihre Lebensstellung aufgegeben hatte, um einen Mann zu heiraten, der dem gesellschaftlichen Rande nach weit unter ihr stand. Sie selbst bedauerte diesen Schritt nie, wie auch ihre Familie darüber denken mochte. Nach ihrer Anschauung war ihres Gatten Andenken für sie etwas Heiliges; sein Geist war der Schutzgeist, der, wachend oder schlafend, tags oder nachts, sie bewachte.

Da sie an diesem Glauben festhielt, blieb sie ganz unbeeinflusst von den modernen Auswüchsen grobsinnlicher Anschauungen, die die Gegenwart der Geister mit plumpen Verschwörungskünsten und närrischen Zeichen auf Tischen und Stühlen in Verbindung zu bringen suchen. Dame Dermodys edlerer Aberglaube bildete einen wichtigen Teil ihrer religiösen Überzeugungen – Überzeugungen, die seitdem längst in Emanuel Swedenborgs mystischen Lehren ihren Ausdruck gefunden haben. Die Werke des schwedischen Sehers waren die einzigen Bücher, die sie las. Sie vermischte Swedenborgs Lehren über Engel und abgeschiedene Geister, über Nächstenliebe und Reinheit des Wandels mit ihren eigenen milden Phantasien und verwandten Anschauungen und predigte die so gewonnenen schwärmerischen Religionslehren nicht allein im Hause des Vogtes, sondern auch aus Bekehrungsausflügen in den Häusern ihrer einfachen Nachbarn weit und breit.

Unter ihres Sohnes Dach war sie, nach dem Tode seiner Frau, die oberste Machthaberin und rühmte sich ebenso der treuen Erfüllung ihrer häuslichen Pflichten, wie des bevorzugten Verkehrs mit Engeln und Geistern. Mochte zugegen sein, wer da wollte, so hielt sie doch lange Unterreedungen mit dein Geist ihres verstorbenen Mannes und versetzte dadurch die einfältigen Zuhörer in stummes Grauen. Bei ihrer mystischen Anschauungsweise erschien ihr der Liebesbund zwischen Mary und mir als etwas so Heiliges und Schönes, dass man ihn nicht nach den niedrigen und gewöhnlichen Gesetzen der Gesellschaft beurteilen durfte. Sie schrieb für uns kleine Gebete und Lobgesänge, deren wir uns täglich, bei unserm Begegnen oder Auseinandergehen, bedienen mussten. Ihren Sohn ermahnte sie ernstlich uns als zwei junge, geheiligte Wesen zu betrachten, die auf einem himmlischen Pfade wandelten, dessen Beginn zwar hier auf Erden sei, dessen seliges Ende wir aber droben in einem besseren Sein bei den Engeln finden würden. Nun stelle man sich den Eindruck vor, als ich vor dieser Frau in Tränen der Verzweiflung gebadet erschien und ihr meinen Entschluss verkündigte: eher zu sterben, als mich durch meinen Onkel von Marys Seite reißen zu lassen – und man wird ein Verständnis für die Gastfreundschaft bekommen, welche mir das Heiligtum von Dame Dermodys Zimmer öffnete.

Ich machte einen argen Missgriff, als es Zeit war mein Versteck zu verlassen. Als ich der alten Frau nämlich beim Fortgehen dankte, sagte ich, veranlass durch meine kindischen Begriffe von Ehre: »Ich werde Sie nicht verraten, Madame. Meine Mutter soll nicht erfahren, dass Sie mich

in Ihrem Schlafzimmer verborgen hielten.«

Die Sybille legte ihre dürren, knochigen Hände auf meine Schulter und drückte mich in den Stuhl, von dem ich eben aufgestanden war, zurück.

»Knabe!« rief sie, mich mit ihren feurigen Augen durchbohrend, »wagst Du zu glauben, dass ich je in meinem Leben etwas tat, dessen ich mich zu schämen hätte? Glaubst Du, dass ich mich dieser Tat schäme? Warte hier. Damit Deine Mutter mich nicht auch missversteht, werde ich ihr schreiben.«

Sie setzte ihre große, runde Brille mit der Schildpatteinfassung auf und begann zu schreiben. Sobald ihre Gedanken sie verließen oder sie einen Ausdruck suchte, den sie nicht gleich finden konnte, blickte sie über ihre Schulter, als ob ein sichtbares Wesen dort stände und ihren Brief verfolgte – es war der Geist ihres Mannes, den sie so zu Rate zog, wie man einen lebenden Menschen befragt – sanft lächelnd schrieb sie dann ruhig weiter. »So!« sagte sie und reichte mir den Brief mit einer herablassenden Gebärde: »Seine Ansicht und die meine sind hier niedergeschrieben. Geh Kind, ich verzeihe Dir. Diesen Brief gib Deiner Mutter.«

Sie sprach immer mit derselben Förmlichkeit und würdigen Gemessenheit in Ausdruck und Bewegung.

Ich brachte meiner Mutter den Brief. Wir lasen und bestaunten ihn gemeinschaftlich. Beeinflusst durch den immer gegenwärtigen Geist ihres Gatten, hatte Dame Dermody also geschrieben:

»Madame! – Ich nehme mir nach Ihrer Ansicht wohl eine große Freiheit heraus, indem ich Ihnen schreibe. Ich bin Ihrem Sohne behilflich gewesen seinem Onkel Trotz zu bieten. Ich habe Ihren Sohn George in seinem Vorsatze, meiner Enkelin Mary Dermody in Zeit und Ewigkeit treu zu sein, bestärkt.

Ich bin Ihnen und mir selbst die Erklärung der Beweggründe schuldig, die mich zu diesem Schritt veranlassen.

Ich glaube, dass jede wahre Liebe im Himmel vorausbestimmt und geweiht ist. Geister, die zu einer ewigen Vereinigung in einer besseren Welt bestimmt sind, haben die göttliche Weisung sich hinieden zu suchen und in dieser Welt ihren Bund zu schließen. Nur wo die für einander bestimmten Geister sich hinieden finden, kann eine glückliche Ehe geschlossen werden.

Sind die verwandten Geister sich einmal begegnet, so vermag keine Macht sie zu trennen. Dem göttlichen Befehl zufolge müssen sie sich immer wieder finden und wieder vereinigen. Mag weltliche Weisheit sie in ganz verschiedene Lebensbahnen zwingen; mag weltliche Weisheit

sie täuschen oder mögen sie sich selber täuschend einen irdischen, falschen Bund schließen, das ändert nichts. Die Zeit muss kommen, wo dieser Bund sich als irdisch und falsch erweist und wo die beiden getrennten Geister sich hier wiederfinden, um sich hinieden für das Jenseits zu

vereinen – zu vereinen, sage ich, trotz aller menschlichen Satzungen, trotz aller weltlichen Begriffe von Recht und Unrecht.

Das ist mein Glaube und ich habe ihn durch mein eigenes Leben bewährt. Als Mädchen, wie als Gattin und als Witwe, habe ich daran festgehalten und ich habe ihn richtig erfunden.

Ich bin in der Lebensstellung geboren, zu der auch Sie gehören, Madame. Man unterrichtete mich in dem niedrigen, materiellen Wissen, das den weltlichen Begriff von Erziehung bildet. Gott sei es gedankt, dass der mir verwandte Geist dem meinen in frühen Jahren schon begegnete, ich lernte wahre Liebe und wahre Geistesgemeinschaft kennen bevor ich zwanzig Jahre alt wurde. Mein Mann gehörte den arbeitenden Klassen an, ich heiratete also in die Gesellschaftsschicht hinein, Madame, aus der Christus einst seine Jünger wählte. Kein irdisches Wort kann genugsam das Glück bezeichnen, das ich schon in unserer Vereinigung hinieden fand – sein Tod hat uns nicht getrennt. Er steht mir bei, während ich diesen Brief schreibe. In meiner letzten Stunde werde ich ihn sehen, wie er an den Ufern des glänzenden Flusses unter der Engelschar steht und mich erwartet.

Sie werden nun begreifen, mit welchen Blicken ich das Band betrachte, welches die jugendlichen Geister unserer Kinder, schon bei ihren ersten Schritten in das Leben, verbindet.

»Glauben Sie mir, die Tat, die Ihres Gatten Bruder von Ihnen forderte, war eine Entheiligung und Entweihung. Ich gestehe offen, dass ich das, was ich in dieser Angelegenheit tat, um die Absichten Ihres Verwandten zu durchkreuzen, für ein Gebot der Tugend halte. Sie können von mir nicht erwarten, dass ich den Zufall, dass Ihr Sohn des Herrn Erbe und meine Enkelin des

Vogtes Tochter ist, als ein ernstliches Hindernis für eine Vereinigung betrachte, die im Himmel vorausbestimmt ist. Werfen auch Sie, ich beschwöre Sie, die unwürdigen und unchristlichen Standesvorurteile ab. Sind wir vor Gott nicht alle gleich? Sind wir nicht auch selbst vor dieser

Welt vor Elend und Tod gleich? Von der Beachtung meiner Worte hängt nicht allein Ihres Sohnes Glück, sondern Ihr eigener Seelenfrieden ab. Es wird Ihnen nicht gelingen, Madame, in späteren Jahren den vorausbestimmten Ehebund dieser beiden Kindergeister zu verhindern, dess’ seien sie versichert. Trennen Sie sie jetzt und – Sie werden die Verantwortung für alle Opfer, Erniedrigungen und Schmerzen zu tragen haben, durch die Ihr George und meine Mary in ihrem späteren Leben den Rückweg zueinander suchen müssen.

Jetzt ist mein Gewissen seiner Bürde enthoben. Ich habe Alles gesagt.

Habe ich zu frei gesprochen oder Ihnen ohne mein Wissen wehe getan, so erbitte ich mir Ihre Verzeihung, Madame, und verharre, mit treuen Wünschen für ihr Wohlergehn Ihre ergebene Dienerin

Helene Dermody.«

So endete der Brief.

Mir gilt er mehr als eine bloße seltsame Probe von Briefstellerei. Mir ist er die wunderbar in späteren Jahren erfüllte Prophezeiung von Ereignissen in Marys und meinem Leben, die die folgenden Seiten enthüllen werden.

Meine Mutter beschloss den Brief unbeantwortet zu lassen. Sie fürchtete, wie viele ihrer ärmeren Nachbarn, Dame Dermody ein wenig und war, nebenbei, allen Abhandlungen über die Mysterien des Geisterlebens abgeneigt. Ich wurde gescholten, verwarnt und mit ihrer Verzeihung entlassen – so endete die Sache.

Für einige glückliche Wochen kehrten Mary und ich, ungestört und ungehindert, zu unserem früheren, innigen Verkehr zurück. Leider aber kam das Ende, als wir es am wenigsten erwarteten. Eines Morgens erhielt meine Mutter einen Brief von meinem Vater, worin er sie zu ihrem Erstaunen benachrichtigte, dass er unverhofft gezwungen worden sei, sofort nach England abzusegeln und auch bereits in London angekommen sei, wo ihn unverschiebbare Geschäfte

noch zurückhielten. So wie er sich frei machen könne, würde er kommen, wir könnten ihn also täglich erwarten.

Diese Nachrichten erfüllten das Gemüt meiner Mutter mit ahnungsvollen Zweifeln über das Gelingen der großen Spekulationen ihres Gatten in Amerika. Seine plötzliche Abreise aus den Vereinigten Staaten, der geheimnisvolle Aufenthalt in London, waren in ihren Augen Vorboten

herannahender Missgeschicke. Ich schreibe jetzt von jenen dunklen Tagen der Vergangenheit, als Eisenbahnen und elektrische Telegraphen nur noch goldene Träume in den Köpfen ihrer Erfinder waren. So war ein schneller Verkehr mit meinem Vater unmöglich, selbst wenn er darein gewilligt hätte, uns in sein Vertrauen zu ziehen. Uns blieb keine Wahl, als zu hoffen und zu harren.

Langsam vergingen die Tage – und immer noch sagten uns meines Vaters flüchtige Briefe, dass er in London zurückgehalten würde. So kam der Morgen, wo Mary und ich mit dem Vogte Dermody ausgingen, um die letzten wilden Vögel in den Entenfang locken zu sehen – und noch immer harrte man daheim, um den Herrn des Hauses zu begrüßen und harrte noch immer vergebens.

Zwei Schicksalswege

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