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Kapitel 11
ОглавлениеDie Beerdigung von Marko fand am Freitag nach dem Unfall in Offheim statt. Die Familie von Marko, Bekannte, Verwandte, Mitschüler und Freunde, die Jungs vom Fußballclub und jede Menge Menschen die einfach nur geschockt waren von dem tragischen Tod des jungen Marko drängten sich auf dem Friedhof. Die Sonne brannte gnadenlos auf die Trauergemeinschaft herunter während die Menschen Abschied nahmen. Julia und Jannik standen inmitten einer großen Schülergruppe. Julia war, wie viele andere an diesem Nachmittag heftig am Weinen. Nach der Beerdigung waren alle Trauergäste noch zu einem Kaffee eingeladen, aber Jannik und Julia gingen nicht hin. Julia empfand die ganze Situation als zu bedrückend und so gingen die beiden Hand in Hand vom Friedhof aus noch ein kleines Stück durch die angrenzenden Wiesen. Später dann nahmen die beiden den Bus hinunter in die Stadt und gingen zu Julia nachhause.
Die Eltern von Julia und Jannik waren damals als die beiden ihnen gestanden hatten das sie sich liebten nicht überrascht. Ganz im Gegenteil, alle hatten es irgendwie erwartet das aus den beiden ein Paar werden würde und als es dann endlich so weit war wurde erst einmal eine zünftige Party gefeiert und die beiden Familien rückten sich noch ein bisschen näher.
Als am Abend von Markos Beerdigung die beiden bei Julias Eltern eintrafen und diese den Gemütszustand von Julia wahrnahmen drängten sie Jannik förmlich dazu die Nacht über bei Julia zu bleiben. Der folgende Tag war ein Samstag und es war Schulfrei. Es gab also keinen Grund der dagegen sprach. Jannik rief kurz seine Eltern an und sagte Bescheid. Danach gingen die beiden in Julias Zimmer und nahmen sich gegenseitig in die Arme. Kurz darauf schliefen sie ein.
Die Tage gingen ins Land und schon bald begann die Fußballweltmeisterschaft die später dann als das „Sommermärchen“ in die Geschichte eingehen sollte. Ständig waren Partys, man traf sich auf Sportplätzen und schaute sich die Spiele zusammen mit ein paar tausend anderen an. Nach einem deutschen Sieg traf man sich dann in der Stadt und feierte die ganze Nacht hindurch. Die schreckliche Geschichte mit Marko gelangte langsam in den Hintergrund und das war auch gut so. Nach der WM kamen dann die lang ersehnten Sommerferien und die Party ging einfach weiter. Der Juni und der Juli waren in diesem Jahr zwei Sommermonate wie man sie sich nur wünschen konnte. Jeden Tag blauer Himmel und Sonne satt, Hitzerekorde wurden gebrochen und oft stiegen Julia und Jannik in den warmen Nächten über den Zaun des Limburger Freibades und genehmigten sich eine Runde Gratis-Freischwimmen.
Der August wurde dann grau und regnerisch. Julia hatte jetzt schon den dritten Monat in Folge ihre Tage nicht mehr bekommen. Im Juni und im Juli, die vorbei gegangen waren wie in einem Rausch, hatte sie sich nicht weiter Gedanken darüber gemacht. Doch jetzt wurde ihr ganz komisch bei dem Gedanken das sie vielleicht schwanger sein könnte. Bisher wusste noch keiner Bescheid, selbst Jannik nicht. Aber nun konnte sie die Sache nicht länger für sich behalten und eines Abends als sie bei Jannik zuhause auf dessen Bett lag während Jannik am Rechner saß und im Internet surfte musste sie ihn einfach auf die Sache mit den ausbleibenden Monatsblutungen ansprechen.
„Jannik, hast Du Dir schon mal überlegt das ich schwanger sein könnte?“ Jannik tippte eifrig weiter in die Tasten.
„Wieso solltest Du denn schwanger sein?“ Julia setzte sich auf. „Jetzt hör doch mal auf da am Rechner Mensch, ich muss was mit Dir besprechen“. Jannik tippte weiter, „geht gerade nicht, ich bin mitten in einem Chat mit Benjamin, es geht um das Konzert im Kakadu am Samstag wo wir hinwollen, ich check gerade ab ob wir vielleicht auf die Gästeliste kommen können, dann können wir uns den Eintritt sparen“.
„Jannik, klär das später, ich muss jetzt unbedingt mit Dir reden, hast Du gehört?“ Jannik hörte auf zu tippen und drehte sich zu Julia. „Was ist denn los? Hat das denn nicht ein paar Minuten Zeit bis ich hier fertig bin?“
„Bitte Jannik, log dich aus und komm rüber zu mir, ist echt wichtig“.
„Na gut“ sagte Jannik, „ich sage Benjamin nur noch kurz Bescheid das ich weg bin, Beschwere Dich aber nicht wenn wir am Samstag Eintritt zahlen müssen, habe keine Ahnung ob ich das im Nachhinein noch hingebogen bekomme.“
Jannik hackte noch ein paar Sekunden auf die Tastatur ein und loggte sich dann aus. Er stand auf, ging rüber zum Bett und setzte sich zu Julia.
„Also, was gibt es denn so wichtiges?“
Julia nahm Janniks Hand und schaute ihm in die Augen.
„Ich habe jetzt den dritten Monat meine Tage nicht mehr bekommen. Du weißt doch was das heißt oder ?“
Jannik kratzte sich an der Schläfe. „Was soll das heißen? Du willst doch nicht ernsthaft behaupten das Du schwanger bist oder?“
„Ich weiß es nicht Jannik, ich weiß nur das ich meine Tage nicht mehr bekomme und das ist in der Regel ein sicheres Zeichen für eine Schwangerschaft. Wir müssen uns unbedingt einen Schwangerschaftstest besorgen damit wir wissen ob es jetzt so ist oder nicht“. Jannik schaute Julia entgeistert an. „Meinst Du das jetzt ernst, wir sollen einen Schwangerschaftstest holen. Du kannst doch gar nicht schwanger sein Julia, wir benutzen doch immer Kondome“.
„Falsch“ sagte Julia. „Erinnere dich mal an den Abend in Salou als wir zusammen aufs Zimmer gegangen sind und wo wir beide so hackedicht gewesen sind. Du weißt schon, die Nacht in der Marko gestorben ist. Da haben wir es ohne gemacht“.
Jannik erinnerte sich schleierhaft. Ja, da war was. Die Party, die vielen Wodka-Orangensaft, das Hotelzimmer …
„Wo gibt es denn so Schwangerschaftstests“ fragte Jannik. Julia grinste, „In jeder Apotheke. Wir schmeißen die Kohle zusammen und Du fährst gleich morgen früh mit dem Roller zur Apotheke und holst so ein Teil. Nach ein paar Minuten wissen wir dann Bescheid. Ich muss nur drüber pinkel und ein paar Minuten warten, das war es.“
Julia ging es jetzt viel besser. Endlich hatte sie ihr Geheimnis mit Jannik geteilt, ein starkes Gefühl der Zusammengehörigkeit durchflutete sie. Sie zog Jannik hinunter auf das Laken und umarmte ihn stürmisch.
Am nächsten Morgen wachten die beiden schon relativ früh auf. Was man halt in diesem Alter für früh hält, es war gerade einmal halb elf. Die beiden rauchten eine gemeinsame Kippe im Bett und als das erledigt war stand Jannik auf und zog sich an.
„Na dann will ich mal los“ sagte er und griff nach dem Helm, „bin in ein paar Minuten wieder hier und dann hoffen wir mal das dass alles nur ein Irrtum ist und Du nicht schwanger bist. Wenn es so wäre, du weißt ja, ich stehe auf jeden Fall zu Dir und auch zu dem Kind was da vielleicht kommt aber lieber wäre mir auf jeden Fall wenn Du nicht schwanger wärst“.
„Klar“ sagte Julia, „wäre mir auch lieber. Irgendwann will ich auf jeden Fall ein Kind von Dir aber jetzt, mit 16, muss nicht unbedingt sein oder ?“
Jannik nickte, beugte sich noch einmal kurz zu Julia hinunter und drückte ihr einen Kuss auf die Lippen, sagte „wird schon schief gehen“ und verließ das Zimmer. Julia steckte sich noch eine Zigarette an und rauchte nervös vor sich hin.
Eine knappe halbe Stunde später kam Jannik zurück und schloss die Zimmertür hinter sich. Er warf eine blaurote Schachtel aufs Bett und sagte „Kann losgehen“.
Julia öffnete die Packung, zog den Teststreifen heraus und beäugte ihn neugierig. „Ich geh dann mal kurz aufs Klo und mache Pipi da drauf, dann komme ich schnell zurück und wir beide warten gemeinsam auf das Ergebnis.“
Julia stand auf und verschwand im Bad. Jannik setzte sich an seinen Computertisch und steckte sich eine Zigarette an und fuhr den Rechner wieder hoch. Nachdenklich rauchte er und schaute dabei aus dem Fenster. Kurz darauf öffnete sich die Badtür wieder und Julia kam mit dem Teststäbchen aus dem Bad. „Hat sich jetzt rosa verfärbt, das ist normal. In ein oder zwei Minuten erscheint hier unten ein Zeichen, Plus oder Minus. Minus bedeutet >Glück gehabt< und Plus, na ja, kannst Du Dir ja wohl denken.“ Julia setzte sich auf das Bett und klopfte mit der flachen Hand neben sich auf die Bettdecke. „Komm zu mir Jannik, setze Dich zu mir damit wir beide zusammen im gleichen Moment sehen können was los ist.“
Jannik ging rüber zum Bett und setzte sich. Julia nahm ihm die Zigarette aus der Hand und zog gierig daran. Beide schauten gespannt auf das Stäbchen. Langsam, ganz langsam wurde am unteren Ende des Stäbchens etwas sichtbar. Mit jeder Sekunde wurde es deutlicher. Es war ein schwarzes Plus auf weißem Grund.
Die folgenden Wochen und Monate vergingen wie im Flug. Der anfängliche Schock über die überraschende Schwangerschaft von Julia wandelte sich bald in Freude um. Klar, dieses Kind würde alles an Plänen für die Zukunft über den Haufen werfen, aber ehrlich gesagt, es gab gar nicht viel an Zukunftsplänen die über den Haufen zu werfen gewesen wären. Jannik und Julia waren damals schon Punks und hatten sowieso nicht vor gehabt eine berufliche Karriere anzustreben. Jannik wollte Sänger in einer Punkband werden und Julia träumte von einem eigenen Laden für abgefahrene Outfits, coole Haarfarben und ultrakrassen Schmuck. Das musste jetzt halt alles ein bisschen nach hinten geschoben werden, dafür würde es aber ein Baby geben. Ihr eigenes kleines Baby, darauf freuten sich beide gleichermaßen.
Die Eltern der beiden waren anfangs weniger begeistert von den Neuigkeiten, freuten sich aber dann letztendlich auch auf den überraschenden Nachwuchs. Insgeheim hofften sie darauf das durch die Geburt des Kindes das Verantwortungsgefühl bei den beiden ziellos herumtreibenden Teenagern stärker werden würde.
Es wurde beschlossen das Jannik und Julia vorerst beide bei ihren Eltern wohnen würden, zumindest offiziell. In der Praxis würde es, wenn das Kind erst einmal da sein würde so aussehen das beide zusammen mal hier und mal dort nächtigen würden. Für eine eigene Wohnung war jedenfalls kein Geld da. In Julias Elternhaus wurde das Nähzimmer von Julias Mutter ausgeräumt und renoviert. Als klar war das es einen kleinen Jungen geben würde wurde alles hellblau gestrichen. Alle nötigen Utensilien wurden angeschafft, und kurz vor der Entbindung war das Zimmer komplett eingerichtet. Der kleine Linus konnte kommen.
6 Tage vor dem geplanten Entbindungstermin, dem 7. März 2007 wachte Julia morgens auf und fühlte sich hundeelend. Jannik hatte in dieser Nacht zuhause bei seinen Eltern geschlafen und war nicht da. Julia schleppte sich runter zu ihrer Mutter die in der Küche am herum werkeln war.
„Mami, ich fühle mich ganz übel, irgendetwas stimmt nicht mit mir“ sagte sie und ließ sich schlapp auf einen Küchenstuhl fallen.
Ihre Mutter legte das Messer und die Zwiebel zur Seite und eilte zu Julia.
„Was hast du denn Juli, ist Dir schlecht oder was?
Julias Mutter nahm ihre Tochter in den Arm.
„Das ist normal Julia, als ich Dich bekommen habe war es mir auch jeden Tag kotzübel.“
Julia musste Grinsen obwohl es ihr schwerfiel.
„Ich fühle mich total mies Mama, so als würde ich krank werden, mir ist abwechselnd heiß und kalt und ich könnte nur noch heulen.“ Julias Mutter legte ihre Hand bei Julia auf die Stirn.
„Du bist ja total heiß Julia, du hast Fieber. Wir müssen sofort in Krankenhaus fahren, irgend etwas stimmt hier nicht. Kannst Du Dich alleine anziehen oder soll ich Dir helfen“ fragte Julias Mutter.
„Nein, es geht schon irgendwie. Ruf aber bitte Jannik an damit er in die Klinik kommen kann. Ich will das er dabei ist.“ Julias Mutter hetzte durch die Küche und zog sich gerade die Schürze aus und schaltete alle Herdplatten auf Null. „Beeile Dich Julia, zieh dich um. Ich rufe auf jeden Fall Jannik an, kannst Dich drauf verlassen.“
10 Minuten später saßen Mutter und Tochter im Auto und fuhren in Richtung Krankenhaus. Julia wurde mittlerweile von Krämpfen geplagt. „Vielleicht sind das ja schon die Wehen Mama.“ Julias Mutter schaute besorgt zu Julia hinüber. „Vielleicht, ja, aber das Fieber macht mir Sorgen.“
Als Julia und ihre Mutter im Krankenhaus angekommen waren liefen sie direkt in die Notaufnahme. Sie schilderten das Problem und wurden sofort vorgezogen. Julia musste sich auf einen Rollwagen legen und eine junge Ärztin hörte mit einem Stethoskop den Bauchraum ab.
„Ich kann die Herztöne des Babys nicht hören“ sagte sie nervös. „Wir müssen sofort einen Kaiserschnitt vorbereiten“. Die Ärztin ging zu einem Telefon das an der Wand hing, wählte eine kurze Nummer und redete hektisch auf die Person am anderen Ende der Leitung ein. Dann kam sie zurück zu Julia und ihrer Mutter und sagte „Kreißsaal 3 ist gerade frei. Die Kollegen oben sind schon alles am vorbereiten. Wenn wir im Kreißsaal angekommen sind können wir sofort mit dem Kaiserschnitt beginnen“.
„Mama“, Julia schaute angstvoll zu ihrer Mutter. „Was machen die jetzt mit mir?“
„Alles wird gut Julia“ redete ihre Mutter beruhigend auf sie ein, „alles wird gut, wirst schon sehen“. Die Ärztin sagte in ruhigem Ton „Wir müssen jetzt, wir dürfen keine Zeit mehr verlieren. Du und Dein Baby ihr seit auf jeden Fall in den besten Händen hier. Du darfst jetzt keine Angst haben.“
Eine Stunde später lag Julia völlig erschöpft auf dem Bett und hielt den leblosen Körper des kleinen Linus im Arm. Linus war auf unerklärliche Weise im Mutterleib gestorben. Niemand wusste warum. Jannik war mittlerweile eingetroffen und saß auf dem Rand der Liege auf der Julia lag. Beide waren am Weinen. „Warum?“ schluchzte Julia. „Warum musste der kleine Linus sterben?“
Jannik drückte Julias Hand. Julias Mutter kam einen Schritt näher und sagte „Gottes Wege sind manchmal unergründlich und ...“
„Halts Maul“ schrie Julia. „Von eurem Scheiß Gott will ich nichts hören. Wenn der daran Schuld ist das der Kleine gestorben ist dann soll er für immer und ewig in der Hölle schmoren“.
Julia schaute ihre Mutter mit leidvollem Blick ins Gesicht.
„Hast ja recht Julia, wenn er Schuld daran ist dann soll er in der Hölle schmoren.“
Der kleine Linus der das Licht der Welt noch nicht erblickt hatte wurde vier Tage später beerdigt.
In den darauf folgenden Wochen kapselte Julia sich immer mehr von ihrer Familie ab. Nur noch mit Jannik konnte sie zusammen sein. Im Sommer 2007, kurz nach ihrem 17. Geburtstag zogen Julia und Jannik zusammen in eine kleine Zwei Zimmer Wohnung in der Limburger Wallstraße. Dort lebten sie drei Jahre bevor sich die Möglichkeit mit dem Bauernhof in Offheim ergab.