Читать книгу Die Wiege des Windes - Ulrich Hefner - Страница 10
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ОглавлениеSie kamen im Schutz der Dunkelheit. Seit Stunden hatten sie das schäbige Haus in der Ahrstraße belauert, wo der ehemals weiße Putz graue Ränder trug und von der Wand bröckelte.
Die hölzerne Eingangstür war unverschlossen. So wie an jedem Tag. Sie waren gestern schon einmal hier gewesen. Ihn hatten sie nicht angetroffen. Er blieb verschwunden, als wüsste er, dass sie nach ihm suchten.
Die Treppen knarrten, als sie ungesehen die vier Stockwerke nach oben gingen. Er hatte unter dem Dach ein kleines Zimmer mit einer Dusche und einer Kochnische. Zu mehr hatte er es nicht gebracht. Ein Versager, ein Niemand. Er hatte noch nichts in diesem Leben geleistet. Er hatte die Zeit, die ihm gegeben war, damit zugebracht, Farbbeutel gegen Wände zu werfen und Leuten auf die Nerven zu fallen. Das alles wussten sie, denn sie hatten sich über ihn erkundigt. Sie hatten ihre Quellen, und es gab keinen Zweifel: Niemand würde ihn vermissen.
Die altersschwache, gelb gefleckte Holztür war kein Hindernis. Sie brauchten knapp dreißig Sekunden, bis das Schloss aufsprang. Abgestandene und modrige Luft empfing sie. Das Zimmer lag im Dunkeln. Direkt neben dem Eingang war das Bad, gegenüber die Garderobe, an der zwei schäbige Jacken hingen. Der Strahl ihrer Taschenlampen huschte kurz darüber. Einer von ihnen durchwühlte die Taschen, die anderen machten sich über das Zimmer her. Bedächtig öffneten sie die Schubladen, vorsichtig durchsuchten sie die Schränke und den Schreibtisch. Niemand sollte bemerken, dass sie hier gewesen waren.
In der rechten Ecke stand ein alter Mahagonischreibtisch. Viel zu wuchtig für den kleinen Raum, in dem sich noch die Kochnische, das Bett und eine Couch befanden.
»Schau dir das an!« Der Größere deutete auf eine Weltkarte über dem Schreibtisch. Mit einem roten Stift waren Markierungen und Daten eingezeichnet. In der Arktis und Antarktis, in Südamerika, im Persischen Golf, in Russland und an der Nordseeküste befanden sich solche roten Punkte, die bei genauer Betrachtung einem Totenkopf ähnelten.
Der Kräftige zog einen Packen Papiere mit aufgeklebten Zeitungsartikeln aus einem Regal und überflog die Überschriften. Es waren Artikel über Abholzungen im Regenwald und Ölbohrungen in der Arktis. Mörder hatte jemand mit krakeliger Handschrift unter die einzelnen Artikel geschrieben. »Ein Spinner.«
Der Großgewachsene lächelte verächtlich und fuhr damit fort, die Schubladen des Schreibtisches zu durchsuchen.
Unerwartet pfiff der Kräftige leise durch die Zähne. »Schau mal, das ist ein ganz schönes Früchtchen.« Er hielt dem Großen mit seinen von Latexhandschuhen überzogenen Fingern ein Blatt Papier unter die Nase.
»Was soll das, du weißt, was wir suchen.« Der Große widmete sich dem Computer auf dem Schreibtisch.
»Es ist nicht hier, ich habe alles auf den Kopf gestellt«, sagte der Kräftige nach einer Weile.
»Sonst etwas Brauchbares?«
»Ein paar nicht ganz jugendfreie Briefe von seiner Freundin.«
»Mit Absender?«
»Ja.«
Der Hüne griff in seine Jackentasche und zog ein Handy hervor. »Sie ist also seine Freundin, so etwas«, flüsterte er, als er die Ziffern wählte.
*
Larsen schlief schlecht. Alpträume plagten ihn. Immer wieder erschien der dunkle Riese und krümmte den Zeigefinger. Plötzlich war die Hand des Hünen nicht mehr leer. Eine großkalibrige Pistole lag darin. Kurz bevor der Riese abdrücken konnte, erwachte Larsen schweißgebadet.
Er schaute auf seine Armbanduhr. Kurz nach fünf. Er ging ins Bad und wusch sich das Gesicht. Dann setzte er sich auf die Couch und lauschte Töngens Schnarchen. Er verwarf den Gedanken, ihn zu wecken, zog seinen dicken Parka über und verließ das Haus.
Die Fähre lief gegen sieben Uhr in den menschenleeren Hafen ein. Larsen hatte den Weg zu Fuß zurückgelegt und im Schutz des Bahnhofsgebäudes beim spärlichen Licht der wenigen Hafenlaternen gewartet. Der erwartete Schnee war zum Glück ausgeblieben. Es war nicht mehr so kalt wie am Tag zuvor und der Wind hatte nachgelassen.
Er kannte den Kapitän. Gut eine Stunde später lief die Fähre in Richtung Norden wieder aus. Larsen stand an Bord und blickte über die Reling. Er war der einzige Passagier. Kein Wunder im November.
Es war gut so. Larsen fühlte sich so sicherer. Cordes Anruf hatte ihn aufgewühlt. Larsen hatte Angst. Ein lähmendes Gefühl kroch auf seine Mitte zu. Er musste unbedingt mit Corde reden. Er griff in die Hosentasche. Noch ganze drei Mark und fünfundzwanzig Pfennig hatte er bei sich. Von der Bank hatte er ebenfalls nichts mehr zu erwarten. Er war pleite.
Rike hatte ihm oft Geld gegeben. Jetzt war sie weg. Sie waren im Streit auseinander gegangen. Nach vier Jahren war sie einfach fort und er hatte das Gefühl, dass sie es diesmal ernst mit der Trennung meinte.
Nachdem die Fähre im Hafen von Norddeich festgemacht hatte, suchte er drüben am Kutterhafen nach Holm, einem Kapitän, dem er schon ein paar Mal geholfen hatte und der ihn bestimmt nach Greetsiel fahren würde. Doch der Kutter war nicht an seinem Liegeplatz. Fluchend ging er über die weite Wiese. Im Reif der kalten Nacht hinterließ er seine Spuren. Bis in die Stadt hinein konnte er laufen, aber wie kam er nach Greetsiel?
Ein Polizeiwagen bog um die Ecke. Larsen zog den Kragen hoch. Die Bullen konnte er jetzt am wenigsten gebrauchen. Bestimmt stand er schon wieder auf der Fahndungsliste. Die Briefe, die er vor kurzem an die Ämter abgeschickt hatte, wurden ihm garantiert übel genommen, da verstanden sie keinen Spaß, diese ignoranten Nichtstuer in den Verwaltungsbüros. Beamte nannten sie sich, aber Ahnung hatten sie keine. Da waren alle gleich. Auch die Gelbbäuche in den grün-weißen Autos gehörten zu dieser Sorte. Er bog in einen Hinterhof ein und wartete, bis der Streifenwagen vorbeigefahren war.
*
»Wir haben ihn nicht gefunden«, drang die kehlige Stimme aus dem Telefon.
»Hinweise?«
»Eine Freundin, mehr nicht.«
»Das ist doch schon was«, erwiderte der Kahle. »Ihr müsst ihn finden, um jeden Preis.«
»Da ist noch etwas. Er hat Probleme mit den Behörden. Er gehört zu diesen linken Chaoten und ist so was wie ein Umweltschützer. So ein Spinner, der sich an Bahngleise kettet.«
Der Kahle erhob sich. In seinem Kopf arbeitete es fieberhaft. Ein Umweltschützer, auch das noch. Diese Typen meinten immer, sie müssten hinter jedem herschnüffeln. Stets auf einem Kreuzzug, wie diese bornierten Beamten in den Ämtern. Dabei war es gerade in dieser Phase wichtig, dass es keine Auffälligkeiten gab. Zwischenfälle konnten sie sich nicht leisten.
»Findet ihn!«, sagte der Kahle, und beendete das Gespräch.
*
Der dritte Wagen, den Larsen auf der Landstraße von Norddeich in die Westermarsch anzuhalten versuchte, war der Milchlaster. Der Fahrer nahm ihn mit nach Greetsiel. An der Straße nach Pewsum ließ er Larsen aussteigen. Es war kurz nach acht und die Dämmerung erhellte langsam den Himmel, als Larsen den Weg in das malerische Dorf einschlug.
Hier draußen war der Wind stärker als in Norden. Larsen zog den Reißverschluss seiner Jacke höher. Ob Corde schon auf dem Kutter war?
Als er über den leeren Parkplatz ging, auf dem sich im Sommer Wagen an Wagen reihte, fielen die ersten Schneeflocken aus den grauen Wolken. Sein Freund Töngen hatte also doch Recht behalten. Obwohl dessen Gehirn vom vielen Bier, den Kurzen und den Joints bestimmt schon zerfressen war, hatte er noch immer ein Gespür für das Wetter. Damals, als sie in dem kleinen, altersschwachen Boot zwischen den Sandbänken herumgefahren waren und die pelzigen grauen Körper gezählt hatten, die leblos im feuchten Sand lagen, hatte er immer vorausgesagt, wenn das Wetter umschlug. Nur einmal waren sie in einen Sturm geraten. Das war im Nordland gewesen und Töngen vollgekifft wie ein Bus jamaikanischer Reggae-Musiker. Doch sie hatten überlebt. Überlebt, um die Zahl der toten Körper dieses Tages ins Forschungszentrum zu melden. Und wofür?
Er hatte gedacht, dass es besser werde, wenn Esser den Chefposten der Naturschutzbehörde übernehmen würde. Doch es blieb alles beim Alten. Die Schutzzonenverordnung war ein stumpfes Schwert. Noch immer warfen die Kapitäne ihren Unrat über Bord oder spülten ihre Tanks mit Nordseewasser aus, um es voller Öl und Schmiere wieder zurück ins Meer zu pumpen. Worte, nichts als Worte. Und er hatte für diese Farce sein Leben und seine Gesundheit riskiert. Nie wieder würde er so blauäugig sein.
Larsen ging über die Brücke und bog in den Weg zum Hafen ein. Der Schneefall wurde stärker. Die weißen Flocken tanzten wild im Wind. Hinter der Mauer tauchten die Masten der Kutter auf, die an der Mole vertäut lagen. Die Molly schaukelte friedlich im seichten Auf und Ab des Hafenbeckens. Corde war nicht hinausgefahren. Larsen atmete auf.
Töngens Worte kamen ihm noch einmal in den Sinn. Container mit bunten Träumen. Vielleicht lag da draußen wirklich irgendetwas auf dem Grund des Meeres. Wertvoll musste es sein, sonst würde sich der Aufwand nicht lohnen. Zumindest musste es etwas sein, das man nicht gerne dem Zoll offenbarte. Drogen, Diamanten für Rotterdam, Gold, Falschgeld, radioaktives Material für irgendwelche arabische Extremisten. Vielleicht war die Ladung gar nicht für Deutschland bestimmt. Zwar lag die Stelle, an der er das rote Schiff ausgemacht hatte, im Roten Sand, aber immer noch außerhalb der Drei-Meilen-Zone und abseits der viel befahrenen Schifffahrtsrouten.
Larsen blieb an der Mauer stehen. Von Corde keine Spur. Aber der würde bestimmt noch kommen. Er war jeden Tag auf seinem Kutter, selbst wenn er nicht hinausfuhr. Es gab immer jemanden hier, mit dem er reden konnte. Anders als in der Abgeschiedenheit seines Gehöftes.
Larsen ging auf die Treppe zum Anleger zu.
»Da bist du ja endlich!«, ertönte eine Stimme hinter ihm.
Die Worte trafen ihn wie ein Peitschenhieb. Langsam drehte sich Larsen um. Sein Gesicht war starr vor Schrecken.
»Eine schöne Überraschung«, sagte der blasse junge Mann, der sich wie ein Schatten von der roten Hauswand gelöst hatte. »Du dachtest wohl, ich finde dich nicht?«
Larsen schluckte seine Angst herunter, trotzdem klang seine Stimme belegt. »Du! Ich habe nicht …«
»Dienstag war Zahltag«, fiel ihm der andere ins Wort. »Und jetzt steht schon das Wochenende vor der Tür. Ich will mein Geld.«
»Ich hatte Probleme. Ich brauch noch etwas Zeit.«
Der Blasse baute sich breitbeinig vor ihm auf. »Zeit? Noch einmal eine Woche?«
Larsen nickte.
Die Faust traf ihn nur Millimeter unterhalb der Nase auf der Oberlippe. Trotz des lauten Klatschens hörte Larsen ein Knirschen aus seinem Mund. Ein stechender Schmerz durchfuhr ihn. Das Wasser schoss ihm in die Augen und fast gleichzeitig schmeckte er das Blut, das ihm über die Zunge rann. Dann schlug er die Hände vors Gesicht.
»Heute bezahlst du, Larsen!«, sagte der andere.
Larsen spuckte den abgebrochenen Teil seines Schneidezahnes in die Wiese. Vom Schmerz war er immer noch benommen.
*
Der frostige November ging und ein nasskalter und trüber Dezember hielt Einzug. Dennoch wurden die Schaufenster der Läden von einem hellen Glanz erfasst, Nikoläuse und Weihnachtsmänner lösten die herbstlichen Drachendekorationen ab und das Jahr trieb unaufhaltsam auf das Weihnachtsfest zu.