Читать книгу Die Wiege des Windes - Ulrich Hefner - Страница 14

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Rike schlich sich zur Wohnungstür und horchte angestrengt ins Treppenhaus. Zwar hatte das Schaben aufgehört, dennoch spürte sie instinktiv, dass sich auf der anderen Seite der Tür ein Mensch befand. Vielleicht Larsen? Er war in letzter Zeit oft in krumme Geschäfte verwickelt gewesen. Konnte sein, dass er nicht gesehen werden wollte. Aber warum klopfte er dann nicht?

Oder kam der Einbrecher zurück? Aber warum? Hier gab es nicht viel zu holen. Die Einrichtung war zwar nicht von schlechten Eltern, doch von den 7500 Mark, die sie im Bad hinter einer Kachel versteckt hatte, konnte nicht einmal Larsen etwas wissen. Draußen knackte es erneut. Rike erschrak. Sie beobachtete die Türklinke, doch nichts tat sich. Wie war der Kerl nur ins Haus gekommen? Außer ihr bewohnte niemand das Gebäude, und das Immobilienbüro hatte schon seit Wochen geschlossen. Einen Augenblick lang überlegte sie, die Polizei zu rufen, doch sie verwarf den Gedanken. Seit sie vor knapp einem Jahr in Hamburg nach der Demo gegen die fortschreitende Globalisierung und die immer himmelschreiender werdende Armut in den Ländern Afrikas einem Polizisten das Nasenbein gebrochen hatte, war ihr Verhältnis zu den Ordnungshütern gespalten. Eigentlich war es Notwehr gewesen, weil der Polizist sie begrabscht hatte. Er hatte sie angefasst, obwohl sie nur friedlich auf dem Boden gesessen und sich bei ihren Mitstreitern eingehakt hatte. Der Richter hatte über ihre Einwände nur gelacht und sie verurteilt. Achttausend Mark hatte sie der Spaß gekostet.

Das Knacken wiederholte sich. Rike legte vorsichtig die Hand an die Türklinke. Hochkonzentriert lauschte sie in die Stille. Dann hörte sie leise Schritte, die sich entfernten. Es knackte erneut, weiter weg diesmal. Zweifellos knarrte die dritte Stufe der alten Holztreppe. Jemand ging die Stufen hinunter.

Sie rannte in das Wohnzimmer, immer bedacht darauf, keinen Lärm zu verursachen. Verborgen hinter dem Vorhang beobachtete sie die Straße, die im Schimmer der Laternen unter ihr lag. Ein Mann, dunkel gekleidet, etwa einen Kopf größer als sie und muskulös, ging auf den BMW zu. Auf der Beifahrerseite blieb er kurz stehen und schaute in ihre Richtung. Erschrocken zog sie den Kopf zurück. Das Gesicht des Mannes lag im Dunkeln, aber im Widerschein der Straßenlaternen und einer Weihnachtsgirlande am Geschäft gegenüber hatte sie ein glänzendes Brillengestell erkannt.

Sie ließ sich zu Boden gleiten und spähte erneut aus dem Fenster. Der Mann stieg in den Wagen. Das Auto fuhr unter ihrem Fenster vorbei und bog in Richtung Kirche ab. Sie hatte vergebens gehofft, einen Blick auf die Gesichter zu erhaschen.

Verdammt, was sind das nur für Typen, fragte sie sich. Sie überlegte fieberhaft. Es blieb nur eine Erklärung: Larsen. Bestimmt waren sie hinter ihm her. Sie wusste, dass er sich nicht nur mit Gras und Shit begnügte, sondern auch diesem synthetischen Zeug verfallen war, diesem Dreck aus den Labors der neuen Dealergeneration. Deswegen hatte er sich verändert und deswegen hatten sie in letzter Zeit oft Streit gehabt. Sie dachte an Maikes Worte. Eine große Sache, was mochte das sein? Schuldete er den Männern Geld? Das wäre typisch für ihn. Zwei Mann in einem großen BMW mit ausländischem Kennzeichen – diese Typen wollten nicht nur reden, die würden auch handeln.

Sie würde keine Minute länger in dieser Wohnung bleiben. Und sie musste unbedingt Larsen finden, jetzt.

Ihre Müdigkeit war verflogen. Fünf Minuten später verließ sie die Wohnung. Heimlich schlich sie sich durch die Hintertür. Sie nahm ihr altes Fahrrad und fuhr den Alten Postweg hinauf. Der BMW war verschwunden.

*

Kriminaloberrat Kirner war an diesem Tag früh im Büro. Der Feiertag war deutlich zu spüren. An den Ampeln hatte er nicht lange warten müssen und Parkplätze gab es in Hülle und Fülle. Es kam ihm vor, als wäre er der Einzige, der zum Dienst musste. Eigentlich kam ihm die Arbeit gerade recht. Es war Tradition im Hause Kirner, dass am ersten Feiertag die Verwandten zu Besuch kamen. Und zu seiner Schwiegermutter, dieser launischen und immerzu nörgelnden alten Dame, hatte er ein ausgesprochen angespanntes Verhältnis.

Köster war es tatsächlich gelungen, Fingerprints auf dem Briefumschlag zu sichern. Er hatte sie noch am gestrigen Abend in das automatische Fingerabdrucksystem des Bundeskriminalamtes eingespeist. Sollten dort bereits Vergleichsabdrücke gespeichert sein, war es nur eine Frage von Stunden, bis ein Tatverdächtiger ermittelt war. Schließlich ging es bei diesem Fall um ein Kapitaldelikt und die Kollegen vom Streifendienst, die vor Essers Haus Wache hielten, wären sicherlich an einer schnellen Aufklärung und ihrer Ablösung interessiert. Doch leider hatte der Computer noch nichts ausgespuckt. Auch das BKA in Wiesbaden war wegen der Festtage unterbesetzt.

Dennoch kam Kirner nicht ganz vergebens. Die Regis­tratur hatte den Strafregisterauszug von Friederike van Deeren geliefert, der Umweltschützerin, die ihre Studie in der gleichen Sorte Umschlag an Esser geschickt hatte, in der auch die Briefbombe gesteckt hatte. Kirner nahm die Akte zur Hand. Eine typische militante Umweltaktivistin. Farbanschläge auf Boote eines Yachtclubs, Beteiligung an einem Brandanschlag auf ein Baggerschiff, Einbruch, Landfriedensbruch, Nötigung, Beleidigung und – Kirner musste schmunzeln, als er den Tatvorwurf las – tätlicher Angriff auf einen Polizeibeamten in Tateinheit mit Körperverletzung. Trotzdem hatte der Richter im letzten Fall von einer Haftstrafe abgesehen. Alle Delikte standen im Zusammenhang mit ihrer Überzeugung. Nur bei dem Polizeibeamten in Hamburg hatte sie sich offenbar von ihrer Wut verführen lassen. Und jetzt einen Briefbombenanschlag auf den stellvertretenden Leiter der Nationalparkverwaltung Wattenmeer? Für Kirner passte das nicht zusammen. Dabei hatte er genügend Indizien in der Hand, sie als Hauptverdächtige anzusehen.

Sogar das Motiv hatte sie Esser ein paar Wochen zuvor mitgeteilt. Kirner legte die Akte beiseite und nahm die knapp zweihundertfünfzig Seiten starke Dokumentation zur Hand. Die Auswirkungen der Überbeanspruchung von Schutzzonen auf die Natur und Umwelt. Kirner las die ersten Zeilen. Die Überschriften legten dar, welche Themen von ihr untersucht worden waren. Sanfter Tourismus und dessen Auswirkungen auf die küstennahen Zonen. Ökonomische Nutzung des Wattenmeers in Betracht auf Flora und Fauna. Einfluss von Industrieanlagen auf die Hellerwiesen und die Marsch. Die Schifffahrtsrouten und das Robbensterben. Das Ausbleiben der Seehundpopulation im Roten Sand und die Auswirkungen der Felderbewirtschaftung auf den Bewuchs im Küstengebiet. Offenbar hatte sie sich große Mühe bei ihren Forschungsarbeiten gegeben. Eine intelligente und gescheite Frau. Sie hatte ihr Studium mit einer Traumnote abgeschlossen. Bestimmt war nur ihr zwielichtiges Privatleben daran schuld, dass sie nicht bereits bei irgendeiner staatlichen Stelle oder einem renommierten Labor arbeitete.

Besonders die letzte Seite ihrer Ausarbeitung war ein gefundenes Fressen für die Staatsanwaltschaft. Denn dort warf sie der Nationalparkverwaltung schwere Versäumnisse und falsche Entscheidungen vor, die in absehbarer Zeit die Natur irreparabel schädigen würden. Als Beispiel führte sie die Genehmigung des Ausbaus der Schifffahrtswege in der Alten Weser an, die ungeahnte Auswirkungen auf den Vogelbestand auf Mellum hätten. Aber auch die Rückstufung einiger Flachwassergebiete von der Schutzzone II in die Kategorie IV und die damit verbundene Zulässigkeit einer eingeschränkten wirtschaftlichen Nutzung sowie die Aufhebung einiger Verbote, die noch aus der Zeit des großen Robbensterbens Ende der achtziger Jahre stammten, wirkten sich nachteilig auf die Robbenpopulationen im Wattenmeer aus. Zu guter Letzt machte sie eine verfehlte Politik für das Desaster verantwortlich und forderte ultimativ die Rücknahme sämtlicher in den letzten Jahren getroffener falscher Entscheidungen. Unterschrift: Friederike van Deeren.

Sollten jetzt auch noch ihre Fingerabdrücke oder DNA-Spuren auf dem Briefbomben-Kuvert zu finden sein, dann wäre alles andere als eine Verurteilung ein Wunder. Bereits jetzt hätte das Material für einen Haftbefehl ausgereicht. Doch angeblich war Friederike van Deeren in Australien. Selbst wenn dieses Alibi stimmen sollte, konnten Komplizen das Kuvert zugestellt haben. Das würden die Ermittlungen schon noch ergeben. Dennoch zögerte Kirner. Bei jedem anderen Fall hätte er bereits mit dem Staatsanwalt telefoniert, einen Haftbefehl erwirkt und die Frau zur Fahndung ausgeschrieben, doch sein Gefühl sagte ihm, dass er noch warten sollte.

*

»Sauter hat abgesagt?!« Trevisan schlug mit der Faust auf den Tisch. »Ich glaube, ich spinne! Hat abgesagt, der feine Herr. So wie man ein Kaffeekränzchen absagt oder nicht zum Kurkonzert erscheint. Der hält sich wohl für etwas Besseres! Er ist aber noch nicht versetzt und gehört nach wie vor zu unserer Abteilung. Verdammt noch mal, wir haben da draußen eine Leiche!«

Johannes Hagemann schaute Trevisan unterwürfig an. »Was will ich machen?«

»Lutger ist tot und du bist jetzt der Chef«, antwortete Trevisan ungehalten. »Du wirst ihn jetzt noch einmal anrufen und ihn herzitieren.«

Johannes Hagemann schüttelte verlegen den Kopf. »Das ist nichts für mich. Ich bin kein Chef. Und nur weil ich der Älteste bin, schon zweimal nicht.«

»Verdammt, Johannes! Seit Monaten tanzt der schon aus der Reihe. Jetzt reicht es ein für alle Mal. Ich werde mir den Kerl zur Brust nehmen.« Trevisan ging zum Telefon.

»Aber denk doch an die Folgen«, hielt ihn Johannes zurück. »Bald geht er auf diese Schule und dann kommt er am Ende noch als dein Chef zurück. Und sein Onkel ist Staatssekretär.«

»Und wenn er Kaiser von China wäre! Das lassen wir uns nicht gefallen. Jeder von uns hätte heute Termine. Es ist schließ­lich Weihnachten.«

Die Tür wurde aufgestoßen und Dietmar Petermann betrat das Zimmer, im dunklen Anzug und einem weißen, mit Rüschen besetzten Hemd. Dazu trug er eine orange-grün gemusterte Krawatte. Er blickte griesgrämig drein. »Verdammt, ausgerechnet heute! Dabei hätte ich einen kleinen Solopart zu singen. Das macht jetzt Frieder. Wofür habe ich wochenlang geübt?«

»Tut mir leid«, antwortete Johannes. »Aber wir brauchen jeden Mann. Wir haben eine männliche Leiche.«

»Und die Suche nach seiner Identität wird schwierig«, warf Trevisan ein. »Der gute Mann hat nämlich keinen Kopf mehr.«

»Enthauptet?«

»Nicht direkt«, erklärte Hagemann. »Ein Bootsmotor hat ihm den halben Kopf zermatscht. Da ist nicht mehr viel übrig.«

»Absichtlich?«

»Das sollten wir seinen Mörder fragen«, erwiderte Trevisan.

»Die Obduktion ist um elf«, sagte Hagemann. »Ich werde mit Trevisan hingehen. Du kümmerst dich bitte um die Vermisstendateien und machst eine Überprüfung in Würzburg.« Hagemann erzählte Dietmar die weiteren Umstände des Leichenfundes und informierte ihn über den aufgefundenen Rucksack.

Dietmar Petermann sah sich fragend um. »Und wo ist Markus?«

»Der hat abgesagt«, antwortete Trevisan schnippisch. »Bereitet sich wohl schon auf seine Tage als Polizeidirektor vor. Und du weißt doch, wer führen will, muss frei sein – vor allem von Arbeit.«

»Der und Polizeidirektor«, entgegnete Petermann. »Da machen sie doch auch nur wieder den Bock zum Gärtner. Wenn sein lieber Onkel nicht wäre, würde der immer noch die Parkplätze am Bahnhof bewachen.«

Ein Hustenanfall schüttelte Johannes. Es schien, als ob er keine Luft mehr bekäme. Trevisan klopfte ihm auf den Rücken, während Dietmar Petermann ein Glas Wasser einschenkte.

Als sich Johannes wieder beruhigt hatte und zusammengesunken auf dem Stuhl saß, musterte ihn Trevisan. »Wäre es nicht besser, wenn ich mit Dietmar zur Obduktion ginge und du würdest dich um die Vermisstenfälle kümmern?«

Hagemann schüttelte vehement den Kopf. »Du weißt, dass ich Computer hasse. Das geht schon, lasst mich nur ein paar Minuten ruhig hier sitzen. Noch lebe ich.«

Die Wiege des Windes

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