Читать книгу Die Wiege des Windes - Ulrich Hefner - Страница 11
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ОглавлениеDer Postbote trug wie jeden Werktag eine große, gelbe Kiste durch die Drehtür des gläsernen Bürohauses am Theodor-Tantzen-Platz. Heute etwas schneller als sonst, denn es goss in Strömen. Über das Wochenende hatte eine milde Brise die Temperaturen auf zwei Grad Plus ansteigen lassen. Glatteis und eine Serie von Verkehrsunfällen in der vergangenen Nacht waren die Folge gewesen. Nun spülte der Regen die grauen Schneehaufen durch die Straßen. Die Kanalisation wurde von den Wassermassen überfordert und überall verteilten sich riesige Lachen in den Asphalttälern der Stadt.
»Moin!«, rief ihm der Pförtner hinter seinem Tresen zu. »Sauwetter, was?«
Der Postbote nickte, eilte den dunklen Gang entlang und verschwand hinter einer Glastür mit der Aufschrift Poststelle.
»Guten Morgen«, grüßte die blonde junge Frau ihn freundlich. Ihre dunkelhaarige Kollegin saß hinter ihrem Schreibtisch und leerte einen feuchten Karton auf die Tischplatte.
»Weiß nicht, was an dem Morgen gut sein soll«, knurrte der Postbote. »Draußen ist die Hölle los. Überall kracht es. Auf der Hindenburgstraße ist ein Stau bis raus nach Wechloy. Ein Laster ist gegen drei geparkte Autos gerutscht. Ich musste fast eine Stunde warten.«
Die ältere Kollegin schaute auf die Wanduhr über der Tür. Es war kurz nach neun. »Stimmt, du bist spät dran.«
»Spät ist gar kein Ausdruck. Heute wird’s mindestens drei, bis ich überall durch bin. Dabei habe ich zu Hause noch so viel zu tun.« Der Postbote lächelte verschwörerisch. »Das Kinderzimmer ist immer noch nicht fertig.«
»Wann ist es denn so weit?«, fragte die Blonde.
»Ich hoffe, dass die beiden bis Mittwoch nach Hause dürfen.« Der Postbeamte nahm seine gelbe Kiste vom Tresen. »Ich freu mich so auf meinen Sohn, ich kann’s kaum erwarten.«
»Mal sehen, was du sagst, wenn dich der Kleine mitten in der Nacht aus dem Tiefschlaf schreit«, unkte sie.
»Na hör mal, der schreit nicht. Der geht nach mir und weiß, was sich gehört.«
»Ähhh … – was ist denn das für eine Schweinerei!« Die schwarzhaarige Kollegin sprang auf. Sie rieb sich die Hände und blickte voller Ekel auf den großen, grauen Umschlag, den sie auf den Schreibtisch geworfen hatte. Die grüne Schreibunterlage war von einem hellen Pulverfilm überzogen. Aus einem kleinen Spalt des Kuverts rieselten noch immer kleine Kristalle.
Der Postbote fuhr vorsichtig mit dem Finger über die Tischplatte. Dann hob er ihn unter die Nase. »Das riecht irgendwie … chemisch.« Er schaute auf das Kuvert. Neben einem maschinengeschriebenen Adressatenaufkleber prangten drei Briefmarken. Ein Absenderfeld fehlte. Vorsichtig schob er den grauen Briefumschlag zu sich heran. Drei kleine blaue Delfine waren links oben neben der Falz zu erkennen. »Woher stammt das?«
Die Dunkelhaarige schaute ihn entgeistert an. »Ich habe das Kuvert heute Morgen aus unserem Hausbriefkasten geholt.«
»Das ist komisch«, sagte der Mann nachdenklich. »Es sind Briefmarken drauf, aber kein Poststempel. Also, von uns ist es nicht.« Der Brief war an den stellvertretenden Direktor der Bezirksregierung Doktor Thomas Esser gerichtet. Persönlich war unter dem Namen zu lesen.
»Sollen wir Esser anrufen?«, fragte die Blonde.
»Ich denke, ihr solltet besser die Polizei anrufen«, entgegnete der Postbote.
Betroffen schaute die dunkelhaarige Frau auf. »Du meinst, das könnte eine Bombe sein?«
Der Postbote zuckte mit den Schultern.
*
Rike hielt sich mit aller Kraft an den Seilen fest, während ihr Schlauchboot in halsbrecherischer Fahrt über die Wellen schoss. Der große Walfänger blieb unbeeindruckt von der rauen See. Bald würden die grauschwarzen Körper wieder durch den tiefblauen Vorhang aus Wasser an die Oberfläche stoßen. Der Walfänger befand sich in Schussweite. Das zweite Schlauchboot hatte Position vor seinem Bug bezogen und versuchte den Steuermann zu ständigen Kursänderungen zu nötigen, damit der Kanonier an der Bugharpune keinen gezielten Schuss anbringen konnte.
Gestern hatten sie das japanische Walfangschiff südlich der Kerguelen-Inseln ausgemacht und die Verfolgung aufgenommen. Die Arctic Sunrise war ein ehemaliger Robbenfänger und eigens für den Zweck umgebaut, Walfänger südlich des 40. Breitengrades ausfindig und ihnen ihren Fang so schwer wie möglich zu machen. Die Japaner waren gestern Abend auf eine Gruppe Minkwale gestoßen, die westwärts auf die Südatlantische Schwelle zuhielten. Den ersten Abschussversuch heute Morgen hatten die Männer und Frauen an Bord der Schlauchboote noch verhindern können, aber der Walfänger hatte die gemächlich nach Westen schwimmende Gruppe Wale bald wieder eingeholt. Nun setzte er erneut zum Abschuss an und wieder riskierten die Umweltschützer in den wendigen Schlauchbooten ihr Leben.
Rike hatte beinahe zwei Wochen im Camp bei Bremen für diesen Einsatz geübt, bevor sie vor einer Woche in Perth an Bord der Arctic Sunrise gegangen war, doch dass es so hart werden würde, hatte sie nicht gedacht.
»Come on, closer!«, rief Bob, der aus Wellington stammte und schon zum achten Mal mit von der Partie war. Bob führte das Boot, das sich zwischen den Walfänger und die Tiere schieben sollte, falls die anderen den Japaner nicht zur Kursänderung zwingen konnten.
Jean, ein Belgier aus Gent, hielt mit beiden Händen das Ruder des 240 PS starken Außenbordmotors umklammert. Harry aus dem amerikanischen Newport und Rike stabilisierten das Boot. Sie hatten sich angeleint und versuchten, nicht über Bord zu fallen. Das alleine war schon schwierig genug. Plötzlich durchstießen direkt neben ihnen die grauen Körper der Minks die Oberfläche.
»Slow down … slow down!«
Eiskaltes Wasser spritzte in Rikes Gesicht. Jetzt war der Walfänger direkt hinter ihnen. Die aufgewirbelte Gischt nahm ihr zeitweise die Sicht. Dann ertönte ein Donnern. Ein Rauschen überlagerte den gedrosselten Motorenlärm, doch es war nicht das Rauschen der Wellen. Es steigerte sich zu einem immer höher werdenden Sirren, dann schoss der Pfeil an ihnen vorbei und bohrte sich mit einem lauten Klatschen in den Leib eines Tiers. Der Luftzug des Seiles klang wie ein hilfloser Aufschrei.
Rike schlug die Hände vors Gesicht. Die Schaumkronen der Wellen verfärbten sich rot.
»This crazy guy!«, fluchte Bob.
Im Todeskampf peitschte die mächtige Schwanzflosse des zehn Meter langen Tieres durch die Luft. Jean riss das Ruder herum und Bob fiel nach vorne. Rike erwischte ein Stück seiner Jacke. Bobs Oberkörper hing im eiskalten Wasser, doch Rike verhinderte, dass er über den glatten Wulst in die Fluten stürzte.
Jean drosselte den Motor und Harry hechtete zum Bug, um Rike und Bob zu helfen. Gemeinsam zogen sie den Neuseeländer zurück ins Boot. Er fluchte und schüttelte seine Faust, als der Walfänger nur wenige Meter entfernt an ihnen vorüberfuhr. Die Wale waren wieder abgetaucht. Alle, bis auf einen.
»Manchmal glaube ich, Larsen hat Recht«, murmelte Rike, während sie in einiger Entfernung zusahen, wie der Walfänger seinen mittlerweile leblosen Fang längsseits zog. »Es reicht nicht, sie abzudrängen. Versenkt müssten sie werden.«
»Was meinst du?«, fragte Jean mit französischem Akzent.
»Ach, nichts … Ich dachte gerade nur an einen Freund von mir«, antwortete Rike.
»Okay, there’s nothing more to do, let’s go back«, sagte Bob.
Mit feuchten Augen wandte sich Rike ab. Die Arctic Sunrise wartete auf sie.
*
Dr. Thomas Esser, stellvertretender Direktor der Bezirksregierung Weser-Ems, war Landtagsabgeordneter der Grünen gewesen, bis er bei der letzten Wahl seinen Sitz verlor und an seinen Schreibtisch nach Oldenburg zurückkehren musste. Er hatte noch immer sein Parteibuch und war von den Programmen seiner Partei überzeugt. Vor allem lag ihm der Schutz der Küste und des Wattenmeers am Herzen. Nun stand er der Nationalparkverwaltung Wattenmeer in Wilhelmshaven vor. Vielleicht, so dachte er oft, war es ein Wink des Schicksals, dass er seinen Platz im Landtag hatte aufgeben müssen. Als verantwortlicher Leiter der Nationalparkverwaltung konnte er viel mehr für die Umwelt und seine Überzeugungen tun.
Obwohl es seit dem gestrigen Abend in Oldenburg regnete, war er wie jeden Tag mit seinem Fahrrad von Bürgerfelde zur Arbeit gefahren. Wenn es auch kalt und ungemütlich war, diesen aktiven Beitrag zum Schutz der Umwelt ließ er sich nicht nehmen. Den Bus benutzte er nur, wenn die geschlossene Schneedecke das Radfahren nicht mehr zuließ.
Vor vielen Jahren, als er noch jung und ungebunden gewesen war, mit langen Haaren und mit grünem Parka, hatte er Stunden im Wind und im Regen zugebracht. In Camps, in wilden Lagern und Zelten. Vor Gorleben, an der Startbahn West bei Frankfurt oder im Hamburger Freihafen, er hatte keine Gelegenheit ausgelassen, den Regierenden sein klares »Nein« zu ihren Entscheidungen entgegenzuschreien.
Vielleicht war er reifer geworden – oder vielleicht resultierte die Verlagerung seiner Aktivitäten aus einem längeren Gespräch mit seinem Vater, der ihm unmissverständlich klar gemacht hatte, dass er kein Geld mehr erhalten werde, wenn er sich nicht endlich selbst um seine Zukunft kümmerte. Natürlich hatte zunächst der Rebell in ihm gesiegt, schließlich gehörte sein Vater als erfolgreicher Zahnarzt dem Establishment an, das er damals zutiefst verachtete. Letztlich siegten die Einsicht, der Hunger und die Vernunft.
Er hatte Jura studiert – denn »Biologie hat keine Zukunft!«, hatte sein Vater getönt – und gelernt, seine Ideologien in demokratischer und konstruktiver Form zu vertreten. Er heiratete, tauschte den grünen Parka mit einem dunklen Anzug. Machte sein Praktikum am Amtsgericht in Oldenburg, knüpfte Kontakte und begann seine Karriere bei der Bezirksregierung. Und nach dem kurzen Ausflug in die Landespolitik hatte ihm nun der Bezirksdirektor die Aufsicht über die Nationalparkverwaltung Niedersächsisches Wattenmeer in Wilhelmshaven übertragen. Eine Aufgabe, die er mit Freude übernahm.
Sein Dienstsitz blieb in Oldenburg, doch jetzt hatte er endlich das Gefühl, in seine Vergangenheit zurückgekehrt zu sein. Er war seinen Überzeugungen und seinen Prinzipien wieder ganz nahe.
Doktor Thomas Esser fuhr mit seinem Rad über den freien Platz, vorbei am schmucklosen Tannenbaum mit den hellen Glühbirnen, der in aller Eile aufgestellt worden war, und wunderte sich, dass vor dem Haupteingang zwei Streifenwagen und ein grauer Audi standen. Was war hier passiert?
*
»Da ist er ja endlich!« Horst Liebler zeigte auf den hageren Hünen, der die Halle durch die Glastür betrat und auf die Aufzüge zuging.
Kriminaloberrat Kirner wandte sich um. »Das ist Doktor Esser?«, fragte er den Verwaltungsbeamten.
Liebler nickte und hielt Esser auf. »Stell dir vor, was passiert ist! Sie haben eine Briefbombe in der Post gefunden. Wir mussten alle unseren Arbeitsplatz räumen, bis das Kuvert abtransportiert war. Alles war in heller Aufregung.«
»Guten Morgen, Herr Doktor Esser.« Kirner streckte dem Leiter der Nationalparkverwaltung seinen Dienstausweis entgegen. »Mein Name ist Kirner, ich bin vom Landeskriminalamt. Ist es möglich, dass wir uns irgendwo ungestört unterhalten?«
Mit dem Aufzug fuhren sie in den zweiten Stock, dort befand sich Essers Büro.
»Kann ich erfahren, was genau passiert ist?«, fragte Esser.
»Eine Mitarbeiterin Ihrer Poststelle hat in der Tagespost ein Kuvert entdeckt, aus dem ein helles, kristallines Pulver gerieselt ist«, erklärte Kirner, nachdem beide Platz genommen hatten. »Ihr kam das verdächtig vor, deshalb hat sie die Polizei verständigt. Tatsächlich handelt es sich bei dem Pulver um Kaliumchlorat, einen leicht entzündlichen Stoff, der schon bei geringsten Verunreinigungen oder Berührungen reagieren kann. Da es sich hier um eine staatliche Organisation handelt, wurden wir hinzugezogen. Unsere Spezialisten haben bestätigt, dass es sich um eine Briefbombe handelt. In einem innen liegenden zweiten Kuvert befindet sich offenbar eine weitere Substanz. Über eine kleine Knopfzelle, ein Blitzlicht ohne Abdeckung und eine elektrische Schaltung sollte das Päckchen gezündet werden. Ich hoffe, dass wir das Paket entschärfen können und nicht sprengen müssen. Dann gibt es vielleicht einige Spuren, die uns weiterhelfen.«
Esser sank sichtlich erschüttert in seinem Stuhl zurück. »Wer sollte die Bombe öffnen?«
»Der Brief war ausdrücklich an Sie persönlich adressiert.«
Aus Essers Gesicht wich allmählich die Farbe und machte einem Grauton Platz. »Ich … wieso ich …?«
»Können Sie sich irgendeinen Grund vorstellen?«
Esser schüttelte den Kopf. »Was wäre passiert, wenn …«
»… wenn Sie den Umschlag geöffnet hätten?«, fiel ihm Kirner ins Wort. »Ersten Schätzungen nach dürften sich etwa fünfzig Gramm Sprengstoff im Inneren des zweiten Kuverts befunden haben. Das hätte eine ordentliche Explosion gegeben.«
Esser schluckte. »Ich glaube, mir wird schlecht.« Er erhob sich und ging an einen Aktenschrank, öffnete die untere Schranktür und holte eine Flasche Cognac hervor. Er schenkte ein Glas voll und leerte es in einem Zug.
»Haben Sie Feinde?«
»Natürlich macht man sich Feinde, wenn man einen solchen Posten ausfüllt«, erklärte Esser. »Fischer, die gerne in manchen Schutzzonen fischen würden, Umweltfanatiker, denen unsere Verordnungen nicht weit genug gehen. Es gibt da eine große Zahl von Leuten, denen man hier und da auf die Füße treten muss. Aber deswegen eine Briefbombe?«
»Gab es in letzter Zeit etwas Ungewöhnliches, wurden Sie bedroht?«
Esser öffnete eine Schreibtischschublade, nahm ein Bündel Briefe heraus und warf sie auf den Tisch. »Wer etwas tut, schafft sich automatisch Gegner. Nur wenn Sie still sind und sich aus allem heraushalten, dann passiert so was nicht.«
Kirner starrte wie gebannt auf ein großes, graues Kuvert mit drei kleinen, blauen Delfinen in der linken oberen Ecke. »Woher haben Sie das?«
»Der kam vor drei Wochen mit der Post.« Esser wollte nach dem Umschlag greifen, doch Kirner sprang auf und packte ihn an der Hand.
»Von wem?«
»So eine Umweltschützerin. Darin befand sich eine lange Studie, über die negativen Auswirkungen des zunehmenden Tourismus auf die Flora und Fauna des Wattenmeers. Wieso ist das so wichtig?«
Kirner griff in seine Jackentasche und holte ein Polaroidfoto heraus, das die Briefbombe mit den gleichen kleinen Delfinen auf dem Kuvert zeigte. Kommentarlos reichte er es Esser.