Читать книгу Die Wiege des Windes - Ulrich Hefner - Страница 15
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ОглавлениеDas Telefon klingelte mitten in der Nacht. Alexander Romanow wälzte seinen üppigen Körper auf die rechte Bettseite und suchte schlaftrunken nach der Nachttischlampe. Er war entgegen seiner sonstigen Gewohnheiten alleine im Bett. Griesgrämig griff er nach dem Telefon auf dem Nachttisch. Ein krächzendes »Ja«, mehr hatte er für den Anrufer nicht übrig.
Das Gespräch dauerte nicht lange, dennoch war Romanow eine Spur zuversichtlicher, als er den Hörer zurück auf die Gabel legte. Er fuhr sich mit der Hand über den kahlen Schädel. Endlich kam die lang ersehnte Bewegung in die Sache. Vor zwölf Stunden hatte er fast geglaubt, es wäre alles verloren, sein Leben keinen Pfifferling mehr wert, doch nun strahlte seine Miene wieder Zuversicht aus, wenngleich Folgen der allzu kurzen Nacht in seinem Gesicht Furchen hinterlassen hatten.
Wenn nur erst einmal wieder die Daten in Sicherheit wären, dann könnte man sich getrost um den zweiten Schritt kümmern.
Damals, als er das Geschäft eingefädelt und die Investoren der Laufzeit zugestimmt hatten, war er glücklich gewesen wie ein kleines Kind. Er hatte die Hoffnung gehabt, endlich seine Träume realisieren zu können.
Vor mehr als zwanzig Jahren, als er hinter den roten Mauern im Kreml Akten und Geschäftsbriefe unterschrieben hatte, die das Papier nicht wert waren, auf dem man sie gedruckt hatte, hatte er hinter dem Bild von Breschnew eine Postkarte versteckt, die einen Sandstrand auf Mauritius zeigte. Vor nicht ganz zwei Jahren hatte er sich in den Westen aufgemacht, um seinen Traum zu verwirklichen. Und es hatte lange Zeit ausgesehen, als wäre alles nur noch eine Frage der Zeit. Doch dann kam die schicksalhafte Wendung, die ihn weit zurückgeworfen hatte. Und nun … Geld lagerte genug auf den schwarzen Konten, doch es gehörte nicht ihm. Wenn er sich daran vergriff, musste es gut vorbereitet sein, denn das Risiko war hoch. Er wusste, mit wem er sich eingelassen hatte und wie wenig Spaß die verstanden, wenn es um ein gebrochenes Versprechen ging. Erst wenn alles verloren war und er keine andere Möglichkeit mehr sah, würde er seinen Plan B in die Tat umsetzen.
Alles war ganz anders gekommen, als er es sich vorgestellt hatte. Sein perfektes Geschäft hing an einem seidenen Faden. Nicht nur die Steine, die ihm dauernd in den Weg gelegt wurden, auch das Versagen seiner Männer in letzter Zeit setzten ihm zu. Deshalb hatte er ein ultimatives Zeichen setzen müssen. Er hatte keine andere Wahl gehabt. Aber nur ein paar Tage später hatten seine Vertrauten schon wieder einen unsäglichen Fehler begangen. Dazu noch dieses verrückte Land, dieser Bananenstaat, bei dem Nein – Ja hieß und jawohl – vielleicht. Mit dieser Schildbürgeradministration hatte er nicht gerechnet. Im Osten war Deutschland der Inbegriff von Zivilisation und Wohlstand gewesen, von Rechtsstaatlichkeit und funktionierendem Sicherheitsgefüge. Inzwischen wusste er es besser. Dieses Land war unberechenbar und eigentlich auch unregierbar. Und wenn man eine Erlaubnis in den Händen hielt, dann war die heute genauso viel wert wie damals die Akten im Kreml.
Aber jetzt war doch noch Bewegung in die Sache gekommen. Und irgendwann mussten diese ewigen Fehlschläge ein Ende haben. Er konnte nicht sein ganzes Leben nur noch vom Pech verfolgt werden.
Er knipste das Licht aus und kuschelte sich in seine Bettdecke. Das Rauschen, das gedämpft durch das geschlossene Fenster ins Innere drang, war der Regen, der dem Wetterbericht nach eigentlich längst zu Schnee hätte werden müssen. Doch nicht einmal den Meteorologen konnte man in diesem Land trauen.
*
Rike hatte sich im Schutz der Dunkelheit über das Nachbargrundstück geschlichen und das Fahrrad über den Zaun gehoben. Den BMW hatte sie nicht mehr gesehen. Am ersten Feldweg war sie links in Richtung Neue Welt abgebogen. Die feuchte Kälte fraß sich langsam durch ihre schwarze Daunenjacke. In der Antarktis war es um ein Vielfaches kälter, aber das war eine für den Körper leichter erträgliche Kälte. Sie ärgerte sich, dass sie in der Eile vergessen hatte, ihre Thermowäsche anzuziehen. Wer dachte in so einer Situation schon an Unterwäsche.
Sie schaltete ihr Fahrradlicht nicht ein. Trotzdem erkannte sie im fahlen Mondschein den Weg. Sie warf des Öfteren einen Blick zurück. Diese Kerle hatten ihr einen gewaltigen Schrecken eingejagt. Der Mann vor ihrer Wohnungstür hatte einen Körperbau wie der Rausschmeißer einer Bar auf Sankt Pauli. Verdammt, in was für einen Schlammassel hatte Larsen sie gebracht?
Corde war der Einzige, der wissen konnte, was hier vorging. Er würde vielleicht auch wissen, wo Larsen steckte. Sollte der den Kerlen Geld schulden, dann würde sie es in Gottes Namen bezahlen, damit sie ihre Ruhe hatte.
Beim Leybuchtpolder bog sie in Richtung Greetsiel ab. Mittlerweile spürte sie ihre Finger nicht mehr und war gottfroh, als sie endlich kurz vor Hauen in den kleinen Feldweg einbog. Bald würde sie in eine warme Decke gewickelt auf Cordes Couch sitzen und eine heiße Tasse Tee trinken.
Plötzlich zerriss ein Schrei die Stille der Nacht. Rike fuhr zusammen. Ein Schuss dröhnte durch die Dunkelheit. Instinktiv zog sie den Kopf ein und lenkte das Rad in den Straßengraben. Sie fing den Sturz mit ihren Händen ab und kauerte sich auf den feuchten Boden.
»Verschwindet, ihr Hunde!«, dröhnte eine Stimme durch die Dunkelheit. »Ich habe noch genug Munition in meinem Lauf!«
»Verdammt, Corde«, murmelte Rike. Sie hob den Kopf und schrie: »Corde! Hör auf zu schießen! Ich bin es, Rike. Bist du verrückt geworden?«
»Bist du alleine?«
»Nein, ich habe hundert Mann bei mir«, schrie sie erbost zurück.
»Dann komm heraus!«
Rike richtete sich langsam auf und griff nach ihrem Fahrrad. Von weitem erkannte sie neben der Eingangstür die schattenhafte Gestalt eines Mannes, der ein Gewehr in der Hand hielt. Die andere Hand steckte in einem dicken weißen Handschuh. Er zielte auf sie.
»Mensch, Corde, nimm das Gewehr runter, bevor noch was passiert!«
Der Schatten entspannte sich.
*
Trevisan fröstelte, als er mit Johannes Hagemann den langen, weiß gekachelten Gang im Keller des Rechtsmedizinischen Instituts entlang schritt. Der Ort, wo den Toten die letzten Geheimnisse entrissen wurden, verlangte ihm viel ab. Schließlich lag auf dem kalten Aluminiumtisch ein Mensch. Und wenn er jetzt auch tot war, hatte er doch einmal gelebt, geliebt und gefühlt.
Hagemann klopfte an die Tür mit der Aufschrift Raum 1. Der Chefpathologe Doktor Mühlbauer öffnete. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Hallo, meine Herren. Sie sind ein paar Minuten zu früh. Aber kommen Sie nur herein.«
Trevisans Herzschlag beschleunigte sich. Er spürte das Pulsieren des Blutes in seinen Schläfen.
»Keine angenehme Sache«, sagte Mühlbauer. »Ausgerechnet heute und so kurz vor dem Essen. Bei uns gibt es in der Kantine Gans mit Knödeln und Rotkohl.«
Er lotste die beiden Kripobeamten durch eine weitere Tür in den Obduktionsraum. Der Tote lag mit einem weißen Leichentuch bedeckt auf dem Seziertisch in der Mitte des Raumes, einer einfachen Bahre mit Aluminiumoberfläche. Darüber verströmte eine Arbeitsleuchte aus starken Neonstrahlern ein helles und unnatürlich abweisendes Licht.
»Eine Wasserleiche ist immer eine ganz besondere Sache«, erörterte Mühlbauer mit einem deplatzierten Lächeln. »Vor allem, wenn sie ein paar Wochen alt ist. Also, wenn jemandem schlecht wird, dort ist die Toilette.« Er deutete auf eine Tür am Ende des Raumes.
Trevisan nickte. Er kannte sich hier aus.
Doktor Mühlbauer fuhr den kleinen Rollwagen mit seinen Instrumenten neben die Bahre und aktivierte das Mikrophon, das über ihm schwebte. Nach einem kleinen Funktionstest griff er nach dem Tuch und zog es in einem Ruck von dem Toten.
Die Leiche war aufgedunsen, die Haut bleich, fast schon alabasterfarben. Auf dem Oberkörper waren Striemen und Schnitte zu sehen, die unter dem Schein der Lampe violett erschienen. Vom Kopf war nur eine fleischige Masse übrig.
Trevisan wandte den Blick ab.
»Also, die Identifizierung wird nicht leicht«, erklärte Doktor Mühlbauer. »Mit dem Zahnschema kommen wir da nicht weiter. Auch mit den Fingerabdrücken sieht es nicht gut aus. Das wird wohl auf einen DNA-Test hinauslaufen. Und so viel ist auch sicher: Die Wunden am Kopf wurden weit nach seinem Tod zugefügt. Die Ränder sind ohne Einblutungen.«
Trevisan sah sich um. In der Ecke standen drei Plastikstühle. Er legte Johannes Hagemann die Hand auf die Schulter und deutete auf die Stühle.
»Nein, ich bleib hier stehen«, sagte Hagemann. »Aber setz dich nur. Du versäumst nichts. Auch da drüben wird es bald furchtbar stinken.«
Doktor Mühlbauer fuhr mit seiner Arbeit fort. »Obduktion einer männlichen Leiche zwischen 20 und 50 Jahre. Fundort: Großer Hafen, Nordufer. Die Hände sind auf dem Rücken mit einem Hanfstrick zusammengebunden. Oberflächliche Schnittwunden befinden sich auf der Brust, dem Oberkörper und dem Oberbauch …«
Mühlbauer hob die Leiche an und drehte sie auf die Seite. Trevisan erkannte einen Teil des Gebisses und eine leere Augenhöhle. Er wandte den Blick ab.
»… und auf dem Rücken«, beendete Mühlbauer den Satz. Dann stoppte er die Bandaufzeichnung. »Er ist kurz vor seinem Tod mit einem Messer malträtiert worden. Wirkt wie die Spuren einer Folterung.«
Die nächsten beiden Stunden waren für Trevisan eine Tortur. Zuerst stank es nach verfaultem Fleisch, dann roch es nach Urin, und als Mühlbauer mit einem spitzen Gegenstand vorsichtig in den Bauchraum stach, entwichen die Gase aus dem Leichnam und Trevisan würgte. Einen Augenblick lang hielt er es für angebracht, die Toilette aufzusuchen, doch er bekam sich wieder in den Griff.
Als Doktor Mühlbauer nach zwei Stunden die Säge zur Seite legte und die Handschuhe abstreifte, wussten die Ermittler, dass der Tote an die dreißig Jahre alt und seit etwas mehr als drei Wochen tot und zuvor mit teils tiefen Schnitten, ausgeführt mit einem extrem scharfen Messer oder Dolch, gefoltert worden war. Gestorben war er an in seine Lungen eindringendem Wasser, er war ertrunken. Die schweren Kopfverletzungen stammten von der Schraube eines Schiffsmotors.
Das passte in das Bild, das sie sich bereits am Tatort gemacht hatten. Der Körper hatte sich in den Wasserpflanzen auf dem Grund des Hafens verfangen und war, nachdem sich bei gerade mal vier Grad Wassertemperatur nur langsam die Fäulnisgase im Bauchraum gebildet hatten, Richtung Oberfläche getrieben. Erst dabei hatte vermutlich der Kopf des Toten Kontakt mit der Schiffschraube eines Außenbordmotors gehabt. Die restlichen um die Beine gewickelten Schlingpflanzen hatten die Leiche immer noch unter Wasser festgehalten. Erst als sich der Angelhaken des Fischers in ihrer Kleidung verfangen hatte und kräftig an der Angelschnur gezogen wurde, konnte der Tote im brackigen und trüben Wasser entdeckt werden.
Die Schiffsschraube hatte eine Identifizierung anhand eines Zahnschemas unmöglich gemacht. Darin lag das Problem. Ohne die Personalien des Toten waren weitere Ermittlungen äußerst schwierig.
*
Die Auswertung der Fingerabdrücke traf um 14 Uhr beim Landeskriminalamt in Hannover ein. Kriminaloberrat Helmut Kirner war nicht überrascht. Die Fingerabdrücke auf dem Kuvert der Briefbombe waren in den Dateien des BKA gespeichert. Sie gehörten Friederike van Deeren.
Das Dossier, das mögliche Motiv, der Umschlag und jetzt auch noch die Fingerprints, nun konnte er nicht mehr anders. Jetzt ließ es sich trotz des Feiertags nicht vermeiden, den Bereitschaftsstaatsanwalt ins Amt zu rufen, um einen Haftbefehl und eine Öffentlichkeitsfahndung zu erwirken. Der Tatvorwurf war eindeutig: Mordversuch in Tateinheit mit einem Verstoß gegen das Sprengstoffgesetz. Kirners Erfahrung nach bedeutete das mindestens zehn Jahre Haft für die junge Frau.
Er legte das Fax auf seinen Schreibtisch und griff zum Telefon.