Читать книгу Die Wiege des Windes - Ulrich Hefner - Страница 9
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ОглавлениеDer Raum war zu warm. Die trockene Heizungsluft und der Zigarrenrauch reizten ihre Augen und Schleimhäute, dennoch blieben die Fenster verschlossen. Niemand durfte von dieser Unterredung wissen. Zu viel stand auf dem Spiel.
»Die Zeit rinnt uns durch die Finger«, sagte der dunkel gekleidete, untersetzte und kahlköpfige Mann an der Stirnseite des Tisches. Er rollte das »r« in seinen Worten, als ob der Nachklang nie enden sollte. Die drei anderen Männer, in teuren Anzügen, gepflegt und distinguiert, nickten, ehe sie reumütig ihre Häupter senkten.
Der schwarzhaarige, drahtige Aufpasser, der abseits des Tisches neben der Tür saß, betrachtete ungerührt seine Fingernägel.
»Und wenn wir die Sache einfach stoppen?«, fragte einer am Tisch.
Der Kahlköpfige blickte ihn ungläubig an. Sogar der Mann an der Tür hob kurz seinen Kopf. Eine Weile herrschte düsteres Schweigen.
Plötzlich brach der Kahlköpfige in herzhaftes Lachen aus. Sein Bauch hüpfte auf und ab wie eine Jolle in schwerer See. »Natürlich. Wir packen einfach zusammen und gehen alle nach Hause. Das Geld spielt keine Rolle. Es ist ja nur bunt bedrucktes Papier.« Das Lachen erfror in eisiger Kälte. »Wir haben einen Kontrakt, meine Herren, und wir haben einen Weg gemeinsam zu gehen. Und wir werden ihn gehen, bis zum Ende.«
Ein dumpfes Hämmern an der Tür. Der Drahtige schnellte in die Höhe. Mit der rechten Hand fasste er unter seine Jacke. »Da?«, fragte er.
Unterdrücktes Gemurmel drang in den Raum. Der Wächter entspannte sich und drehte den Schlüssel herum. Durch den Türspalt schob sich ein stämmiger Mann in einem Nadelstreifenanzug aus den frühen Siebzigern in das Zimmer. Er verbeugte sich vor dem Kahlen, als wäre er zu nichts anderem als zum Dienen geboren.
»Es … es … gibt … Probleme!«, stammelte er unterwürfig.
Gemurmel erfüllte den Raum. Der Kahlköpfige schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Die Gespräche verstummten.
»Probleme?« Die Stimme des Kahlköpfigen klang noch eine Spur gefährlicher als zuvor.
*
Larsen ließ sich mit einem Seufzer auf dem zerschlissenen Sofa nieder und starrte an die Decke. Der Raum war schmuddelig und düster. Die beiden kleinen Fenster ließen nur wenig Licht herein. Zudem türmten sich dunkle Wolken am Himmel.
»Es wird bald schneien.« Töngen saß in einem fleckigen, rosafarbenen Ohrensessel. Er hielt Larsen seinen Tabaksbeutel hin. »Willst du auch eine? Der Stoff ist direkt aus Delfzijl.«
Larsen schüttelte den Kopf. »Ich brauche klare Gedanken. Sie sind wieder draußen, aber ich weiß nicht, was sie suchen.«
»Es muss wichtig sein, wenn sie bei diesem Schietwetter hinausfahren.« Töngen fuhr mit der Zunge über den Klebestreifen des Zigarettenpapiers. »Was ist mit Rike?«
»Rike spinnt«, erwiderte Larsen. »Sie ist wieder im Camp und bereitet sich auf eine Aktion vor. Wir hatten Zoff. Sie meint noch immer, es reicht, ein paar Plakate in die Höhe zu halten. Wir müssen die Kerle da treffen, wo es wirklich weh tut. Nur dann können wir etwas bewirken.«
»Darüber hast du früher auch anders gedacht.«
Larsen seufzte und schaute dem Rauch nach, den Töngen in die Luft blies. Schließlich griff er nach dem Tabaksbeutel auf dem Tisch. »Und wohin hat uns das gebracht?« Der Beutel fiel ihm aus der Hand und klatschte auf den staubigen Boden. Ein Teil des Inhalts krümelte über die wurmstichigen Holzbohlen.
»Mensch, pass doch auf, das Zeug ist teuer!«, fauchte Töngen.
»Schon gut. Hast du nichts Stärkeres?« Larsen kniete sich auf den Boden und klaubte den Inhalt des Beutels wieder zusammen.
»Wie soll ich das bezahlen? Außerdem brauchst du doch einen klaren Kopf, dachte ich, oder?«
Larsen betrachtete seine schmutzigen Hände. »Du könntest ruhig mal sauber machen.«
Töngen lächelte. »Ist doch egal, ob wir ein bisschen Dreck mitrauchen. Ist sowieso nur Verschnitt. Der Markt ist wie leergefegt.«
Larsen setzte sich wieder auf das Sofa und drehte sich eine Zigarette.
»Die Holländer haben Lieferprobleme«, sagte Töngen. »Immer mehr Bullen tummeln sich auf Booten und in den Häfen, seit sie an den Grenzen nichts mehr zu tun haben. Drei Lieferungen haben sie letzten Monat abgefangen. Es wird langsam eng.«
Larsen zündete seine Zigarette an. Er legte den Kopf zurück und entspannte sich. Sie schwiegen eine Weile und rauchten.
»Du hast gesagt, es sind Russen?« Töngen schnippte die Asche auf den Boden.
»Russen, Schweden, Chinesen, wo ist der Unterschied?«
»Na, die Russen sind mittlerweile für alles gut, Gift oder Uran, Plutonium …« Töngen blies den blauen Rauch stoßweise in die Luft. »Vielleicht liegen da draußen ein paar Container voller bunter Träume im Wasser und die suchen danach.«
»Du spinnst.«
»Wieso, was würdest du tun, wenn ein Zollboot auf dich zuhält, um dir dein schönes Pulver abzujagen?«
»Es sind Forscher«, antwortete Larsen. »Sie haben ein Boot mit allem technischen Schnickschnack und sie lassen etwas ins Wasser …«
»… und sie haben eine Genehmigung von ganz oben. Die fahren doch winkend an jeder Streife vorbei.«
»Aber die Computer an Bord und die Sonargeräte?«, wandte Larsen ein.
»Mit was würdest du rausfahren, wenn du offiziell Studien machen willst? Mit ’ner Jolle? Mensch, denk doch nach, Junge«, entgegnete Töngen. »Wie viel bezahlen wir heutzutage für die Unze? Zwanzig, fünfundzwanzig Mark. Die schicken das Zeug tonnenweise, da fallen doch die Miete für so ein Boot und die paar Kröten für das Schmieren einiger Beamter gar nicht ins Gewicht.«
Larsen zerdrückte seine Zigarette im Aschenbecher. Er ging zum Fenster und warf einen Blick nach draußen. Noch hielten die dunklen Wolken ihre kalte Fracht zurück.
Er nahm seine graue Daunenjacke vom Haken. »Wo steht dein Fahrrad?«
»Was hast du vor?«
»Ich fahre ins Dorf. Ich muss etwas überprüfen«, antwortete Larsen.
»Bring ein paar Flaschen Bier mit. Ich sitze schon seit gestern auf dem Trockenen und mir ist es zu kalt, um ins Dorf zu fahren.«
»Hast du Geld?«
»Keinen Pfennig«, entgegnete Töngen grinsend.
Larsen öffnete die Tür. Ein Schwall eiskalter Luft ergoss sich in das Zimmer.
»Pass auf dich auf! Mit Russen ist nicht zu spaßen.«
Larsen nickte und trat hinaus in die Kälte.
*
»Das ist der Preis dafür, dass man hier draußen in aller Ruhe wohnt«, sagte der Polizist und nahm die Kamera vors Gesicht.
Das Blitzlicht schmerzte in Cordes Augen. Mit einem Kopfschütteln besah er sich das Zimmer. Die Schubladen der beiden Schränke waren herausgerissen und mit dem Inhalt auf dem Boden verteilt. Die alte Stehlampe lag in der Ecke, der Tiffanyschirm war zerbrochen. Corde atmete tief ein. Die Stehlampe bedeutete ihm viel. Es war die einzige Hinterlassenschaft eines verstorbenen Freundes.
Die Einbrecher hatten ganze Arbeit geleistet und sogar den Stoffbezug des Sofas mit einem Messer aufgeschnitten. Die wenigen Bücher aus dem Regal lagen zerfleddert daneben. Corde fuhr sich mit der linken Hand durch die Haare. Die rechte Hand steckte in einem dicken Gipsverband.
»Oben sieht es genauso aus«, sagte er. »Ich frage mich, wer so etwas macht? Haben die etwas Bestimmtes gesucht?«
»Da gibt es genug, die dafür in Frage kommen«, antwortete der Polizist und fotografierte erneut. »Und die suchen immer nach etwas Bestimmten. Geld und Wertsachen. Da gibt es die tollsten Verstecke. Und Ihnen fehlt wirklich nichts, sagen Sie?«
Hilko Corde schüttelte den Kopf. »Ich besitze nichts und ich vermisse auch nichts. Schauen Sie sich das Haus an. Sieht es aus, als ob hier drinnen Reichtümer verborgen wären?«
Der Polizist nickte verlegen. »Das kann man nie wissen. Und Junkies geben sich auch mit wenig zufrieden. Hauptsache, das Geld für den nächsten Schuss springt heraus.«
Cordes Handy klingelte. »Entschuldigung«, murmelte er und ging in den Flur. Er drückte umständlich den grünen Knopf mit dem Telefonsymbol und meldete sich.
»Hallo, Hilko, ich bin es«, drang Larsens Stimme aus dem Lautsprecher. »Ich habe nur wenig Geld. War Rike schon bei dir? Hast du ihr den Brief gegeben?«
»Rike? Mensch, Junge, ich habe andere Sorgen. Bei mir ist gerade eingebrochen worden. Alles durchwühlt. Sogar das Sofa haben die Kerle aufgeschnitten.«
»Hast du überhaupt schon mit ihr gesprochen?«
»Junge, ich sagte doch, ich habe gerade andere Sorgen.«
Ein greller Signalton unterbrach Corde. Er schaute ratlos auf das Display. Das Gespräch war abgebrochen. Corde ging kopfschüttelnd zurück in das Zimmer.
Der Polizist packte den Fotoapparat wieder ein. »Sie gehen mit der Zeit und haben ein Handy«, stellte er überrascht fest.
Corde lächelte. »Ich mache im Sommer Kutterausflüge ins Watt und wenn der Herbst kommt, fahre ich Gesellschaften oder einzelne Fahrgäste, manchmal auch Waren hinaus auf die Inseln. Ein Handy ist da Gold wert. Ich bin nicht oft hier zu Hause.«
Der Polizist deutete mit dem Kopf an die Decke. »Dann werde ich mich jetzt mal um das Chaos dort oben kümmern. Aber ich will Ihnen keine Hoffnungen machen. Spuren habe ich nicht gefunden. Wahrscheinlich trugen sie Handschuhe.«
Corde nickte und griff sich an den rechten Arm. Die Schmerzen kehrten langsam zurück.
*
Larsen legte nachdenklich den Hörer zurück auf die Gabel. Hatte er richtig gehört? Hatte Onkel Hilko wirklich gesagt, dass bei ihm eingebrochen worden war? Larsen suchte nach Kleingeld, doch außer einem Zehnmarkschein in der Hosentasche hatte er nichts bei sich. Er musste unbedingt zurück aufs Festland, aber die Frachtfähre würde erst morgen früh wieder anlegen. Und das auch nur, wenn sich das Wetter nicht wieder verschlechterte.
Er rieb mit den Fingern über den Zehnmarkschein. Hing der Einbruch bei Corde mit dem angeblichen Forschungsschiff zusammen?
Er überlegte, ob er das Geld wechseln sollte. Er wollte mit Rike telefonieren. Larsen ging zu dem kleinen Laden an der Ecke. Im Sommer tummelten sich in dieser Straße die Touristen, da gab es nicht einmal Sitzplätze in den Straßencafés. Jetzt wirkte das Dorf wie ausgestorben.
Hatte Töngen Recht? Suchten die Kerle im Boot tatsächlich nach ein paar versenkten Containern mit Rauschgift oder sogar nach radioaktivem Material? Wenn die Russenmafia dahintersteckte, hätten die längst herausgefunden, wem der Kutter gehörte, von dem sie dort draußen abseits des Mellumer Fahrwassers im Roten Sand beobachtet worden waren. Schließlich stand der Name Molly in großen Lettern am Bug. Wenn sie in Hilkos Haus eingebrochen waren, dann hatten sie sich bestimmt auch schon den Kutter vorgenommen. Ob sie das Versteck gefunden hatten? Er schüttelte den Kopf. Nein, das Versteck auf dem Kutter war einfach zu gut, nicht einmal Hilko selbst würde es entdecken. Die Beute seines nächtlichen Besuches auf dem Kreuzer musste ja sehr wichtig für die Kerle sein, wenn sie danach suchten. Welches Geheimnis verbarg sich dahinter? Wenn ihm jemand helfen konnte, dann war es Rike. Doch die trieb sich in dem Greenpeace-Camp rum und spielte Umweltaktivistin.
Manchmal fand er sie naiv. Sie glaubte noch immer, dass man mit Sprüchen und Protestaktionen die Welt verändern konnte. Doch auf der anderen Seite war sie intelligent. Und stark. Er erinnerte sich noch daran, wie sie einem aufdringlichen Verehrer mit ihren fernöstlichen Kampfkünsten fast den Arm gebrochen hatte. Du frigide Zicke, hatte der Kerl sie angebrüllt, als er in der schlammigen Pfütze lag, nachdem sie ihn mit einem eleganten Fußfeger zu Boden gebracht hatte. Rike war weder frigide noch war sie ein Mannweib, wie die anderen Kerle aus der Gruppe damals behauptet hatten. Sie wusste, was sie wollte. Vielleicht fehlte sie ihm auch deshalb so sehr. Er musste unbedingt mit ihr reden.
Die Ladenglocke bimmelte zweimal, der Verkaufsraum war leer. Bier und etwas zu essen brauchte er jetzt. Dafür genügte sein Zehnmarkschein, aber wenn er danach noch mit Rikes Handyanschluss telefonieren wollte, würde es kaum für ein »Hallo, wie geht’s dir« reichen. Sinnlos.
Morgen würde er diese Insel verlassen. Er musste in Erfahrung bringen, was es mit diesem ominösen Einbruch auf sich hatte. Vielleicht war alles nur ein dummer Zufall.