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ОглавлениеPaul Krog trug einen weißen Papieranzug über seiner Kleidung. Er stand unweit des weißen Sprinters der Spurensicherung und macht sich Notizen auf einem Schreibbrett. Trevisan trat an seine Seite und schaute ihm über die Schulter. Krog nahm das Schreibbrett zur Seite und blickte ihn fragend an.
»Martin Trevisan, Kripo Wilhelmshaven. Können Sie schon was sagen?«
Der Kollege aus Oldenburg, Trevisan schätzte ihn auf Mitte dreißig, schüttelte den Kopf.
»War es ein Einzeltäter?«
»Es ist noch zu früh, um etwas zu sagen.«
»Unsere Leute von der Fahndung sollten ungefähr wissen, nach was sie suchen«, sagte Trevisan. »Ich denke, wir müssen miteinander sprechen. Oder sollen wir uns einen Logenplatz im Zuschauerraum suchen?«
»Ich habe meine Methoden, Sie haben Ihre.«
Trevisan lächelte. »Na ja, vielleicht können Sie mich ja an Ihren Methoden teilhaben lassen, ich lerne gerne noch dazu.«
Krog wandte sich ihm zu. »Wir sind die Spurensicherung und jeder von uns hat seine Aufgabe. Meine Methode ist es, erst alles zusammenzutragen, bevor wir die Pferde scheu machen, und diese Methode hat sich in den letzten Jahren immer bewährt. Und jetzt entschuldigen Sie mich, wir haben noch eine Menge Arbeit vor uns.«
Trevisan trat dem jungen Kollegen in den Weg. »Wer ist Ihr Vorgesetzter, Maierling oder Uthof?«
»Wieso interessiert Sie das?«
»Weil ich verdammt noch einmal diese Ermittlungen leite und weil ich es gewohnt bin, über den Sachstand informiert zu werden und vielleicht auch, weil wir keine Sitzplätze für dieses Theater hier bekommen haben«, entgegnete Trevisan trocken. »Auch wenn Sie aus Oldenburg kommen und zu einer anderen Abteilung gehören, dieser Fall wird vom Kriminalkommissariat Wilhelmshaven bearbeitet, also von mir und meiner Dienststelle. Deshalb arbeiten wir nach meinen Methoden. Ich hoffe, Sie haben mich verstanden, oder soll ich zuerst in Oldenburg anrufen?«
Krog blickte Trevisan abschätzend an. Er schluckte ein paarmal, schließlich räusperte er sich. »Vier Leichen, mit einer Axt erschlagen und mit einem Messer attackiert, dazu noch ein erschlagener Hofhund an der Rückseite der Scheune. Tatwaffe könnten eine Axt und ein Messer gewesen sein.«
Trevisan grinste. »Das weiß ich bereits, haben Sie auch etwas Neues für mich?«
»Wir arbeiten daran, aber bislang gibt es nur ein paar grobstollige Stiefelabdrücke, die vermutlich vom Täter stammen. Gummistiefel, würde ich sagen. So wie es aussieht, ein Einzeltäter.«
»Besonderheiten zu den Tatwaffen?«
Krog zuckte mit der Schulter.
»Gibt es sonst noch etwas, das ich wissen sollte? Wie ging der Täter vor, wie kam er ins Haus, haben sich die Opfer gewehrt oder wurden sie überrascht?«
»Das steht später alles im Bericht«, entgegnete Krog.
»Hören Sie, Herr Kollege, ich habe schon Mörder festgenommen, da lümmelten Sie noch auf der Schulbank in Nienburg herum, also kommen Sie mir nicht mit einem Bericht. Erzählen Sie mir einfach, was Sie bislang herausgefunden haben, diese Methode hat sich über Jahre hin bewährt und es gibt sie schon, seit Menschen gelernt haben, aufrecht zu gehen.«
Krog runzelte die Stirn. »Wie meinen Sie das?«
»Menschen kommunizieren, tauschen sich aus, diskutieren und geben Informationen weiter, das meine ich damit. Was der eine nicht weiß, hat der andere entdeckt. Genau deshalb ist Kommunikation wichtig. Also, reden wir offen miteinander!«
Krog wurde unsicher. »Ich … Wir … Es ist ein großer Tatort, das ganze Haus sieht aus wie ein Schlachtfeld. Wir werden noch eine ganze Weile brauchen, bis wir alles durch haben.«
»Und diese Zeit haben Sie auch, aber es wäre sinnvoll, bevor wir alle hier stundenlang dumm rumstehen, dass Sie Ihr bislang erworbenes Wissen mit mir teilen. Vielleicht ließe sich dann zumindest gezielt nach dem Täter fahnden.«
»Ich habe die Hundestaffel angefordert, wir müssen auch das Umfeld absuchen.«
»Klar«, bestätigte Trevisan. »Und jetzt zu den Details. Auch Vermutungen interessieren mich.«
Krog zeigte ihm das Schreibbrett, auf dem er eine grobe Tatortskizze auf Millimeterpapier erstellt hatte. »Das Wohnhaus und die Scheune sind hälftig zusammengebaut und haben einen gemeinsamen Zugang. Wir gehen davon aus, dass der Täter durch die Scheune in das Haus gelangte. Dort traf er auf den Großvater und erschlug ihn. Einbruchspuren haben wir nicht gefunden, deshalb nehmen wir an, dass die Tür zur Scheune und die Zwischentür zum Wohnhaus unverschlossen waren.«
»Abwehrverletzungen?«
Krog schüttelte den Kopf. »Den Großvater hat es wohl aus heiterem Himmel erwischt. Anschließend öffnete der Täter die Tür zum Haus, dort traf er auf den Bauern, der sich dort seine Stiefel auszog. Auch hier hat er unvermittelt zugeschlagen, außerdem hat er ein Messer benutzt und mindestens drei- bis viermal zugestochen. Da lag das Opfer bereits auf dem Boden. Von dort aus führen blutige Stiefelspuren ins Schlafzimmer, wo er die Ehefrau des Landwirtes mit dem Messer und dem Beil ermordete. So wie es sich darstellt, hat die Tochter des Hauses etwas mitbekommen und kam die Treppe herunter. Als sie merkte, was los war, ist sie in das Badezimmer geflüchtet. Sie wollte dort aus dem Fenster steigen, aber der Täter war schneller. Er hat sie erwischt und erschlagen.«
»Ziemlich sicher ein Einzeltäter?«
»Davon gehen wir nach derzeitiger Spurenlage aus.«
»Seine Kleider müssen voller Blut gewesen sein.«
»Nicht zwangsläufig«, erwiderte Krog. »Im Badezimmer kam es wohl zu einem Kampf. Die junge Frau hatte Abwehrverletzungen, außerdem hielt sie ein Stück Plastikfolie zwischen den Fingern, eine Klarsichtfolie, wie man sie bei einfachen Regencapes findet. Der Täter könnte so etwas getragen haben, um seine Kleider vor dem Blut zu schützen.«
»Hat man eine der Tatwaffen gefunden?«
Krog schüttelte den Kopf. »Deswegen habe ich die Hundestaffel angefordert. An der Rückseite der Scheune gibt es eine Tür, dort haben wir Fußspuren und Blutanhaftungen festgestellt. Der Täter hat das Areal wohl über diesen Ausgang verlassen und dabei den Hund erschlagen, der dort an einer Hundehütte angeleint war.«
»Dort hinten liegt Friederikensiel«, murmelte Trevisan.
»Zunächst sind dort Felder und Wiesen, dann folgt ein Weg, der zum Wangermeer führt. Wir lassen alles absuchen, vielleicht finden die Hunde eine Spur.«
Trevisan kratzte sich am Kopf. »Vier Menschen und ein Hund, und niemand bekommt etwas davon mit.«
»Mit der Intensität und dem Vernichtungswillen, den der Täter bei der Tatausführung an den Tag legte, dauerte dieses Massaker kaum mehr als ein paar Minuten. Nur bei der Tochter, die ins Badezimmer flüchtete, brauchte er ein klein wenig länger. Die Badezimmertür war kein großes Hindernis, er hat sie einfach mit dem Beil eingeschlagen. Ich würde sagen, der Täter ging mit äußerster Brutalität vor.«
»Das heißt, Hass könnte als Motiv in Frage kommen?«
Krog nickte und wies in den dunklen Himmel. »Ich habe aufgrund der Größe des Tatortes eine zweite Spurensicherungseinheit angefordert, die sind bereits auf dem Weg. Ich hoffe, es bleibt trocken.«
Eine Windböe fegte um das Haus. Trevisan nickte. »Wenn der Wind pfeift, dann treibt er den Regen ins Festland. Wir haben gute Chancen, dass es trocken bleibt.«
Er kehrte zu Monika Sander zurück, die neben dem Dienstwagen stand und sich locker dagegen lehnte. »Abgrundtiefer Hass«, sagte er, als er an ihre Seite trat und ihr ein Lutschbonbon reichte.
»Hass auf die ganze Familie?«
»Möglich. Unbändiger Vernichtungswille, meint der junge Kollege von der Spusi.«
*
Johannes Leußner schaute auf seine Uhr. Es war kurz nach vier. In wenigen Minuten hatte er Feierabend. Er rangierte den LKW in die Parklücke und schaltete den Motor ab. Morgen in aller Frühe würde er mit Maschinenteilen an Bord in den Süden nach Turin fahren. Eine Tour, die inzwischen zweimal im Monat anstand. Seit drei Jahren arbeitete er bereits für die Spedition Vader in der Stellmacherstraße, dem Industriegebiet von Norden, das vor der Stadt direkt an der B 72 lag. Eigentlich war LKW-Fahrer immer sein Traumjob gewesen. Schon als Kind hatte er davon geträumt, wenn die großen Laster wie der G5 oder Jahre später der W50 voll beladen mit Getreide über den Hof donnerten und er das Zittern der Erde spürte. Dann wollte er hinter dem Steuer eines dieser Riesen sitzen und damit in die weite Welt und über alle Grenzen hinweg fahren. Und nun fuhr er so ein Gefährt, viel größer noch als damals, einen Actros Megaliner mit vierzig Tonnen. Manchmal hinauf bis in den hohen Norden, nach Stockholm oder Kristiansand oder hinunter in den Süden, nach Turin, Rom oder Rijeka. Sogar in Warschau und in Kauna war er schon gewesen.
Doch inzwischen war nicht mehr viel von der Fernfahrerromantik geblieben. Die Elektronik beherrschte das Fahrzeug und der Disponent beherrschte den Fahrer. Zeit war der Faktor, der am meisten störte und inzwischen zum Feind aller Fernfahrer geworden war. Die Räder mussten rollen. Stillstand bedeutete Schmälerung des Gewinns. Außerdem hatte der Verkehr auf den Straßen in einer Intensität zugenommen, dass kilometerlange Staus zur täglichen Realität geworden waren. Der Stress, dem die Fahrer Tag für Tag ausgesetzt waren, brachte viele dazu, vorzeitig den Job zu schmeißen und für weitaus weniger Einkommen als Lagerist, Mechaniker oder in einer Fabrik am Band die Brötchen zu verdienen.
Johannes Leußner war sechsundfünfzig Jahre alt, fühlte sich aber immer noch fit und der Aufgabe gewachsen. In der Firma hielt man große Stücke auf ihn, denn die Fahrer von heute waren oft unzuverlässig und warfen bei den geringsten Schwierigkeiten die Flinte ins Korn. So kam es auch, dass er trotz seiner relativ kurzen Zeit in der Firma bereits einen Schlüssel zum Lager besaß, so dass er selbstständig und nach seinem eigenen Zeitplan den Lastwagen für die Abfahrt vorbereiten konnte.
»Wann fährst du los?«, fragte der Disponent, als Johannes das kleine Büro betrat, um seinen Fahrzeugschlüssel in dem dafür vorgesehenen Fach zu deponieren.
»Ich starte um vier, alles beladen und vollgetankt.«
»Vergiss meine Zigaretten nicht.«
»Ich weiß, MS Rosso, wie immer.«
»Ja, und denk daran, nach der Tour muss der Service gemacht werden, du musst dann auf den MAN umsteigen.«
»Der MAN ist eine alte Klapperkiste.«
»Für Rotterdam wird er reichen.«
»Okay, dann bis nächste Woche.«
Der Disponent nickte. »Gute Fahrt und hetze ihn nicht wieder.«
Johannes Leußner verkniff sich eine Antwort. Der junge Mann hinter dem Schreibtisch, ein Neffe des Juniorchefs, hatte sowieso keine Ahnung. Schließlich gab es inzwischen Regler und Begrenzer in den Fahrzeugen, außerdem lauerte beinahe an jedem Autobahnkreuz der Straßenzoll oder die Polizei. Er verließ das Büro und stieg in seinen Opel. Er musste dringend Farbe kaufen, Jenny wartete auf ihn.
Jenny war keine Frau, keine Freundin oder Lebensgefährtin, sondern ein schlankes, gut motorisiertes Boot, das in einem Bootshaus an der Leybucht auf ihn wartete und das er vorgestern mühsam von der alten Farbe befreit hatte, um ihm für den Frühling einen neuen Anstrich zu gönnen. Johannes Leußner lebte alleine, eine Frau gab es in seinem Leben nicht. Zweimal hatte er kurz davor gestanden, doch beide Male hatte er einen Rückzieher gemacht und nun fühlte er sich zu alt für eine feste Beziehung. Er hatte sein Leben eingerichtet und so sollte es auch bleiben. Auch wenn ihm Helga aus dem Lager immer wieder schöne Augen machte.
Als er in die Wurzeldeicher Straße einbog, hätte er vor lauter Gedanken beinahe einen Radfahrer überfahren, doch er sah ihn noch rechtzeitig und bremste. »Blöder Hund!« Der Radfahrer überquerte unmittelbar vor ihm die Fahrbahn und warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. Aus dem Radio dudelte leise Shanty-Musik. Johannes Leußner schüttelte den Kopf und legte den ersten Gang ein. Er hatte heute noch viel zu tun.