Читать книгу Kalteiche - Ulrich Hefner - Страница 16

9

Оглавление

Um sieben Uhr war er losgefahren. Es war ein trockener Tag und er war gut vorangekommen, bis ihn ein Unfall auf der A3 bei Rösrath ausgebremst hatte. Drei Lastwagen und ein Personenwagen waren ineinandergekracht, der Rettungshubschrauber war gelandet und die Strecke für beinahe zwei Stunden total gesperrt. Anschließend wurde der Verkehr einspurig an den Unfallfahrzeugen vorbeigeleitet. Ihn fröstelte, als er an dem vollkommen zerbeulten Wrack des Personenkraftwagens vorbeifuhr. Auf den ersten Blick war nicht mehr zu erkennen, um welche Marke es sich gehandelt hatte. Johannes Leußner bezweifelte, dass noch jemand lebend herausgekommen war.

Beinahe vier Stunden verlor er durch den Stau und kurz vor der deutschen Grenze bei Basel ging es gerade so weiter. Sieben Kilometer Stau in Höhe von Neuenburg meldete der Sprecher im Radio. Gut, es war Freitag, das Wochenende in Sicht und der Verkehr nahm an diesem Tag erfahrungsgemäß zu, denn viele Menschen nutzten die freien Tage, um nach Hause zu fahren oder irgendwo auszuspannen. Es war kurz nach zehn Uhr in der Nacht, als er die Grenze passierte und seinen Laster auf einen Parkplatz kurz hinter Basel manövrierte. Über zwanzig Lastwagen parkten bereits dort, um das nächtliche Fahrverbot abzuwarten.

Er packte seine Vesperbox aus und kramte aus dem Handschuhfach einen Umschlag hervor. Nachdem er sich seiner Schuhe entledigt hatte, zog er sich in die Schlafkabine zurück und nahm die Fotos aus dem Umschlag. Es waren Bilder seiner Yacht, die er im letzten Jahr gekauft hatte und mit der er im Frühjahr eine längere Tour über die Nordsee bis hoch nach Irland plante. Jenny war ein Kajütboot vom Typ Condor, hergestellt von der Rosenheimer Klepperwerft, das er zu einem günstigen Preis vom Yachtclub in Greetsiel erstanden hatte und dessen Renovierung er in den letzten Monaten seine gesamte Freizeit gewidmet hatte. Blau hatte er den schlanken Bootskörper gestrichen, blau und weiß, die Farben des Meeres.

Obwohl er im tiefsten Binnenland, mitten zwischen Wäldern, Hügel und Tälern, aufgewachsen war, hatte es ihn schon seit frühester Kindheit ans Meer gezogen. Früher war es die Ostsee gewesen, wo er mit der Familie oder im Freizeitheim der FDJ auf Rügen seine Ferien verbracht hatte, und nachdem der Staat zerfallen war und die grenzenlose Freiheit Einzug ins Land gehalten hatte, waren es die Kreuzfahrten, die ihn faszinierten. Ob Bergen, Trondheim, Oslo, ob Reykjavik, Paamiut oder die Arktis, ob die Barentssee oder Spitzbergen, keine Strecke war ihm zu weit, wenn er die Dünung des Meeres spürte. Er war alleine, unabhängig, verdiente gut, weil er sich für nichts zu schade war, schruppte Überstunden, sprang ein, wenn Not am Mann war, und sparte jeden Cent, um sich seinen Traum vom eigenen Boot zu erfüllen. Und im letzten Jahr war es dann so weit gewesen, er hatte genau das Boot gefunden, das zu ihm passte. Nicht zu groß, nicht zu klein, gut zu bedienen und motorisiert, wenn ihn einmal der Wind im Stich lassen sollte.

Er blätterte sich durch die Fotos und betrachtete sie lange und eingehend. Er konnte es überhaupt nicht erwarten, dass endlich der Frühling kam und er an Bord seiner Jenny wieder über das Wasser der Nordsee gleiten konnte. Der aufgesparte Urlaub und die Überstunden, alles in allem zwei Monate, würde er nutzen. Die Einsamkeit war er gewohnt, es war nichts anderes als auf dem LKW. Es schaukelte vielleicht ein klein wenig mehr, war gefährlicher, denn das Wetter im hohen Norden neigte dazu, oft stürmisch und wenig freundlich daherzukommen, doch es bedeutete grenzenlose Freiheit und Abenteuer.

Er schob die Bilder zurück in den Umschlag, schüttelte sein Kissen auf und löschte das Licht. Die lange Fahrt und die vielen Staus hatten ihn müde gemacht. Morgen in aller Frühe würde er aufbrechen. Von Basel bis nach Turin würde er noch gut sechs Stunden brauchen und bis zwölf Uhr musste er die Schweiz verlassen haben, um nicht noch eine weitere Pause einlegen zu müssen. Wenn er endlich in Italien war, dann hatte er freie Fahrt. Nach dem großen Sankt-Bernhard-Tunnel und wenn der das Aostatal hinter sich gelassen hatte, war es nur noch ein Katzensprung. Die Firma, bei der er abladen sollte, kannte er gut. Schon das achte Mal fuhr er diese Route, deshalb wusste er, dass der alte Luigi auf ihn warten würde, auch wenn es die eine oder andere Verzögerung gab.

Er dachte an Jenny, die in Norden in einem Schuppen stand und auf ihn wartete, als seine Augen schwerer und schwerer wurden.

*

Trevisan saß in seinem Büro und blickte aus dem Fenster, an dem kleine Wassertropfen herabrannen. Es hatte zu regnen begonnen und eine frische Brise wehte über die See in das Landesinnere. Vor sich hatte er eine Akte ausgebreitet. Monika Sander hatte über das Gemeindeamt von Jöhstadt alles besorgt, was über Christan Habich und seinen Sohn Rolf in Erfahrung zu bringen war. Auch das Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde hatte sie nicht vergessen, in dem ein reichhaltiger Fundus von alten Akten aus der DDR schlummerte. Gerichtsakten, Strafvollzugsakten, aber auch Akten des Ministeriums für Nationale Verteidigung, für Volksbildung oder auch die eine oder andere Akte des Verteidigungsministeriums.

Christian Habich war im Jahr 1936 in Jöhstadt geboren worden. Über seine Kindheit und die Jugend, die in den ersten zehn Jahren mitten in den Wirren des Zweiten Weltkrieges lag, war nur wenig bekannt. Erst im Jahr 1952 tauchte sein Name das erste Mal in den Akten auf. Als Sechzehnjähriger wurde er zum Unterführer in der Freien Deutschen Jugend des Verwaltungsbezirks von Karl-Marx-Stadt gewählt und drei Jahre später absolvierte er bei der neu gegründeten Nationalen Volksarmee die Unteroffiziersschule in Weißkießel, um anschließend bei der 4. Motorisierten Schützen Division in Erfurt zu dienen. Aus dem Jahr 1972 stammte ein Eintrag aus den Akten der SED, in dem Christan Habich als Sprecher der LPG Merxleben tituliert wurde, dem für die herausragenden Leistungen in der Ernteschlacht zum Wohle des Sozialistischen Vaterlandes der Junkerorden von Landwirtschaftsminister Georg Ewald persönlich verliehen wurde.

In den nachfolgenden Jahren tauchte Habichs Name immer mal wieder in Verbindung mit der Landwirtschaft der DDR auf, bis er im Jahr 1979 auf dem Volkseigenen Gut Birkenhof in der Nähe seines Geburtsortes die Funktion des Produktions­leiters übernahm. Einer der wenigen größeren Gutshöfe auf dem Staatsgebiet der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, der nicht der Eingliederung in eine LPG zum Opfer gefallen war und als unabhängiger Betrieb für Pflanzen- und Viehzucht erhalten blieb. Zum damaligen Zeitpunkt lebten und arbeiteten neben den Habichs – Christian Habich war inzwischen verheiratet und sein Sohn Rolf und seine Tochter Gabriele bereits geboren – noch weitere zwei Familien auf dem Areal des VEG, so die offizielle Abkürzung in der damaligen Zeit.

Wiederum klaffte eine Lücke von beinahe zehn Jahren in den Aufzeichnungen. Dem nächsten Eintrag lag ein eher trauriger Anlass zugrunde. Habichs Tochter Gabriele verunglückte im zarten Alter von zwölf Jahren bei Erntearbeiten im Gewann Kalteiche tödlich. Drei weitere Male wurde er in den alten DDR-Akten namentlich erwähnt, denn offensichtlich erwirtschaftete das von ihm geführte Volkseigene Gehöft durchaus erfolgreiche Quoten. So wurden ihm mehrfach Urkunden, Leistungsabzeichen und Auszeichnungen überreicht, unter anderem im Jahr 1983 die Ehrennadel für herausragende Verdienste im sozialistischen Bildungswesen und zuletzt 1985 die Silbermedaille als Sieger der Sozialistischen Landwirtschaft. Zwei Jahre nach der Wende starb seine Ehefrau und er zog zusammen mit seinem Sohn vom Birkenhof nach Jöhstadt um, wo er bis zu seiner Übersiedlung in den Westen lebte.

Trevisan blickte erneut aus dem Fenster in den verregneten Tag. Vor seinen Augen tauchte noch einmal der Jakobshof auf. Er erhob sich und warf einen Blick hinaus in den Flur, doch von Monika war weit und breit nichts zu sehen. Er kehrte auf seinen Stuhl zurück und nahm den nächsten Ordner aus dem Postkorb. Er schlug ihn auf und las.

Rolf Habich, 1962 in Annaberg in einem Krankenhaus geboren, besuchte die Grundschule in Erfurt und wechselte dann, vermutlich bedingt durch das Berufsleben seines Vaters­, an die Polytechnische Oberschule nach Langensalza, und später an die Erweitere Oberschule, wo er 1979 seinen Abschluss machte und anschließend an der Technischen Hochschule in Mittweida Agrarwissenschaften und Maschinen­kunde studierte. Er kehrte 1982 auf den Birkenhof zurück und übernahm dort die Wartung des Maschinenparks. Auch er wurde in einigen Urkunden und Anerkennungen erwähnt und erhielt im Jahr 1987 die Auszeichnung Maschinenwart, als Unterkategorie des Kampfordens für das sozialistische Vaterland. Er war, ebenso wie sein Vater, langjähriges Partei­mitglied der SED und sogar zeitweise Vorsitzender des Verbandes für Jungjunker des Sozialismus im Erzgebirge. Laut den Aufzeichnungen war er nie verheiratet gewesen. Rolf Habich war nach der Wende arbeitslos gemeldet, bis er eine Anstellung bei einem Sägewerk nahe Königswalde fand. Dort arbeitete er bis zu seiner Heirat und seinem Umzug in das Wangerland. Polizeilich waren weder er noch sein Vater in Erscheinung getreten.

»Steht etwas Interessantes in den Akten?«, fragte Monika, die mit zwei dampfenden Kaffeetasse in der Tür stand.

Trevisan schlug den Aktendeckel zu und schüttelte den Kopf. »Nichts, was auf den ersten Blick interessant genug erscheint, um als Motiv für diesen Mord in Frage zu kommen.«

Sie reichte ihm eine Tasse. »Es ist wirklich schön, dass du wieder hier bist.«

Trevisan nickte und schaute hinüber zum Fenster. »Auch wenn das Wetter hier oben manchmal die kalte Schulter zeigt, bin ich froh, wieder hier zu sein. Hannover war … wie soll ich sagen … war mir viel zu hektisch, und Oldenburg ist eben auch nur eine Stadt wie viele, ich habe mich die ganzen Jahre über immer wie auf dem Sprung gefühlt. Erst als Lea und ich den Hof kauften und wir wieder hierher kamen, hatte ich das Gefühl, zu Hause zu sein.«

»Was glaubst du, hinter wem war der Mörder her?«

Er hielt die Akte in die Höhe. »Ich hatte gehofft, hier drinnen etwas zu finden. So etwas wie Stasispitzelei oder Hochverrat, aber offenbar war der alte Habich ein ganz passabler Landwirt. Über seinen Sohn gibt es nur wenige Informationen. Sie waren beide treue Mitglieder in der SED, aber das waren damals wohl alle, wenn man was erreichen wollte.«

»Ich habe noch eine Anfrage beim BStU laufen, aber das dauert eine Weile«, entgegnete Monika.

»BStU?«

»Früher mal Gauck-Behörde. Die Bearbeitungszeit beträgt sieben bis vierzehn Tage, vorher werden wir nichts erfahren, wenn es dort überhaupt eine Akte über die Habichs gibt.«

»Notfalls müssen wir eben eine Dienstreise machen«, entgegnete Trevisan.

Sie zog sich einen Stuhl heran. »Der Birkenhof ist übrigens 1996 in Flammen aufgegangen.«

»Woher weißt du das?«

»Ich habe die Kollegen vom Polizeirevier in Annaberg angerufen.«

»Vier Jahre, nachdem die Habichs den Hof verlassen haben«, murmelte Trevisan nachdenklich. »Konnten die Kollegen Näheres dazu sagen?«

Monika Sander zuckte mit der Schulter. »Offenbar stand der Hof leer, man nimmt an, dass es sich um fahrlässige Brandstiftung handelte und ein Penner dort übernachtet hat, dem wohl ein Missgeschick passiert ist. Auf alle Fälle fand man eine Petroleumlampe, von der wohl das Feuer ausging. Alles ist niedergebrannt. Vier Häuser, drei Hallen und eine große Scheune.«

»Gibt es dort keine Feuerwehr?«

»Der Kollege aus Annaberg sagte, dass das Gehöft mitten in der Wildnis in einem Tal lag, beinahe drei Kilometer von Jöhstadt entfernt. Der Brand muss in den frühen Morgenstunden ausgebrochen sein, deshalb wurde er erst bemerkt, als es bereits zu spät war. Bis die Feuerwehr ausrückte, war alles bis auf die Grundmauern niedergebrannt.«

»So, so, Brandstiftung, sagst du«, wiederholte Trevisan nachdenklich.

»So steht es im Bericht der Annaberger Kollegen.«

»Warum stand das Gehöft leer? Ich meine, da lebten doch Menschen. Drei Familien sollen es gewesen sein. Hat er darüber auch etwas gesagt?«

Monika nickte. »Da gab es offenbar Ärger mit den Besitzrechten. Jemand aus dem Westen hat es zurückgefordert. Es war einmal Privatbesitz und wurde zu DDR-Zeiten zwangsenteignet. Nach der Wende gab es eine Rückforderungswelle von zwangsenteignetem Staatsbesitz in der ehemaligen DDR, und nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts sah es für die Kläger gar nicht schlecht aus. Möglicherweise war das der Grund dafür, weshalb das Gut aufgegeben wurde.«

»Konnte der Kollege auch etwas über die Habichs berichten?«

Sie erhob sich und schüttelte den Kopf. »Leider nein, er kannte sie nicht einmal.«

»Dieses Jöhstadt, gibt es dort eine Polizeidienststelle, eine Station oder einen Posten?«

»Fehlanzeige. Das ist eine Kleinstadt. Zweitausend Einwohner mit allen Gemeinden. Tendenz fallend, Annaberg ist dafür zuständig.«

Auf dem Flur waren eilige Schritte zu hören. Trevisan schaute auf, als jemand klopfte. Thorke Oselich stand im Türrahmen. »Es ist so weit, der Staatsanwalt ist da.«

Trevisan blickte auf seine Armbanduhr. Es war kurz nach zehn und draußen hatte der Himmel alle seine Schleusen geöffnet.

Kalteiche

Подняться наверх