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Zehn Kolleginnen und Kollegen hatte Thorke Oselich in der Eile zusammengetrommelt. Trevisan war überrascht, als er zusammen mit Lisa Bohm den Besprechungsraum im zweiten Stock des Dienstgebäudes betrat. Monika Sander stand wie eine Lehrerin an der Stirnseite vor dem langen Tisch, wo an einer Pinnwand inzwischen Landkarten des Bezirks Skizzen und Tatortfotografien angeheftet waren, und erklärte den Anwesenden, was in den heutigen Morgenstunden auf dem Jakobshof unweit der Küste geschehen war.

»Oh, hallo, Martin«, sagte sie verlegen. »Ich habe schon mal angefangen, damit alle auf dem gleichen Stand sind. Ich hoffe, das ist für dich okay. Ich wollte dir nicht vorgreifen.«

Er lächelte. Mit Monika hatte er lange Jahre zusammengearbeitet und damals war daraus etwas wie eine Freundschaft entstanden. Jeder wusste, dass er sich auf den anderen verlassen konnte, doch die lange Zeit der Abwesenheit hatte Spuren hinterlassen und Monika schien unsicher, wie sie mit seiner Rückkehr auf die Dienststelle umgehen sollte.

Trevisan trat an ihre Seite und tätschelte freundschaftlich ihre Schulter. »Monika, ich bin immer noch der gleiche Kerl, der damals weggegangen ist«, flüsterte er ihr zu. »Und solltest du feststellen, dass ich mich zum Nachteil verändert habe, dann sag es mir bitte.«

Sie nickte. Während sich Trevisan einen Platz am Tisch suchte, fuhr Monika mit der Einweisung der Kolleginnen und Kollegen fort. Zehn Minuten später kam sie zum Ende und erteilte Trevisan das Wort.

»Danke, Monika.« Er erhob sich und trat vor die Pinnwand. »Ich bin Martin Trevisan, heute ist mein erster Arbeitstag auf dieser Dienststelle und offenbar geht es schon gut los.«

Alle schmunzelten.

»Wir bilden zusammen die Sonderkommission Jakobshof und wir haben viel zu tun, denn wir müssen detailliert den Lebensweg der Mordopfer nachvollziehen«, erklärte er. »Irgendwo werden wir, da bin ich mir sicher, auf eine Verbindung zwischen dem Täter und den Opfern stoßen. Allerdings ist das nicht ganz so einfach, denn nur die weiblichen Opfer stammen von hier. Die beiden Männer lebten zuvor in der ehemaligen DDR und sind erst vor fünf Jahren hier in die Gegend gezogen, was uns die Sache erheblich erschwert.«

»Raubmord können wir ausschließen?«, fragte eine junge uniformierte Kollegin, die zum hiesigen Revier gehörte.

Trevisan zeigte auf die Pinnwand. »Definitiv ausschließen können wir leider nichts, aber sagen wir, es gibt eine deutliche Tendenz. Fest steht, es wurde augenscheinlich nichts geraubt und auch nichts entsprechend durchsucht. Die Vorbereitung des Täters deutet eher nicht in diese Richtung. Wir werden uns aufteilen müssen. Eine Gruppe wird sich intensiv der Nachbarschaft, den örtlichen Behörden und den städtischen Einrichtungen widmen, den Vereinen, den Kirchen und der Gemeindeverwaltung. Die andere Gruppe wird dem Lebensweg der Opfer vom Todestag bis zur Geburt folgen. Monika, ich hätte gerne, dass du diese Gruppen von hier aus koordinierst und die Erkenntnisse entsprechend zusammenführst. Eike widmet sich zusammen mit Verena der Netzrecherche, Internet, Facebook, Communitys – eben alle Aktivitäten im Web, soweit diese nachvollziehbar sind.« Es klopfte an der Tür. »Herein!«

Paul Krog von der Spurensicherung betrat den Raum. »Wir sind draußen am Tatort und dem Fundort der Tatwaffen so weit fertig.«

»Und die Computer?«, fragte Trevisan.

»Es gab einen PC im Arbeitszimmer und den Laptop der Tochter. Wir haben alles eingepackt und bringen es der IT-Abteilung zur Auswertung.«

»Alles klar, dann suchen Sie sich einen Platz, Kollege.«

»Aber ich … Wir würden uns jetzt auf den Weg zurück …«

»Nach Oldenburg?«

»Klar.«

Trevisan schüttelte den Kopf. »Ich halte nichts von räumlicher Trennung. Am Ende kriegen wir von euch dann einen Bericht und das war’s … Nein. Ich denke, es ist viel besser, wenn jemand von der Spurensicherung direkt der Sonderkommission angehört, kein Telefonat kann ein persönliches Gespräch ersetzen. Außerdem ist es denkbar, dass wir hin und wieder Ihre Hilfe benötigen, da wäre ein Team vor Ort schon eine Bereicherung, finden Sie nicht auch?«

»Das ist aber so nicht vorgesehen«, entgegnete Krog. »Wir sind fertig hier und machen uns auf unserer Dienststelle an die Auswertung, das ist der normale Weg. Der Rest folgt schriftlich.«

Trevisan atmete tief ein. Von einer solchen Regelung hielt er nicht viel, denn Polizeiarbeit ließ sich nicht auf das Pinseln von Berichten und das Führen von Telefonaten reduzieren. Da sie nicht allein waren, vermied er jedoch eine Auseinandersetzung mit dem jungen Kollegen aus Oldenburg, der ihm seit der ersten Begegnung unsympathisch war. »Okay, dann gute Heimreise erst einmal. Den Rest kläre ich mit Ihrer Dienststelle.«

Krog nickte stumm und wandte sich um. Trevisan wartete, bis er die Tür hinter sich geschlossen hatte.

»Tja, wir hatten eine Reform, schon vergessen?«, seufzte Monika. »Wilhelmshaven ist jetzt nur noch ein kleiner und unbedeutender Ableger vom großen Oldenburg. Wer was werden will, der muss in die Zentrale.«

»Dann sind wir mal froh, dass aus uns schon was geworden ist«, scherzte Trevisan.

Sie waren noch eine ganze Stunde damit beschäftigt, die Teams einzuteilen und die Aufgaben zuzuordnen. Trevisan war froh, dass Monika ohne Murren die Koordination übernahm, denn er wusste, dass er sich auf sie verlassen konnte. Er selbst nahm sich vor, zusammen mit Lisa Bohm das Leben der männlichen Mordopfer zu durchleuchten, wobei eine Zusammenarbeit mit den Kollegen aus Sachsen wohl unvermeidbar war. Denn wie Monika inzwischen festgestellt hatte, waren Christian und Rolf Habich vor fünf Jahren aus einer kleinen Gemeinde namens Jöhstadt nahe der tschechischen Grenze ins Wangerland gekommen.

»Jöhstadt«, wiederholte Trevisan, als er sich mit Monika auf dem Flur unterhielt. »Habe ich noch nie gehört, wo liegt das?

»Das ist eine kleine Stadt im Erzgebirge, das Polizeirevier von Annaberg-Buchholz ist dafür zuständig.«

»Annaberg habe ich schon mal gehört.«

»Das liegt im Zuständigkeitsbereich der Polizeidirektion Chemnitz, etwa vierzig Kilometer südlich davon.«

Trevisan kratzte sich am Kinn. »Gut, da rufe ich morgen an. Was wir noch tun könnten, wäre eine Erkenntnisanfrage an alle Landeskriminalämter und das BKA, vielleicht gibt es unaufgeklärte Fälle mit ähnlichem Modus operandi.«

»Gute Idee, mache ich gleich, außerdem müssen wir die Staatsanwaltschaft noch informieren. Ich habe schon mal etwas zusammengeschrieben, du kannst es dir ja anschauen.«

Thorke Oselich trat durch die Schwingtür. »Hallo, Herr Trevisan, auf ein Wort.«

Trevisan entschuldigte sich bei Monika und führte die Direktorin in sein Büro, in dem noch immer seine Kartons mit den persönlichen Utensilien auf dem leeren Schreibtisch standen. Zum Auspacken war er noch nicht gekommen.

»Die Presse macht uns die Hölle heiß«, seufzte Thorke Oselich. »Zuerst waren es nur der Wangerlandbote und die Wilhelmshavener Nachrichten, aber jetzt kommen auch noch Anfragen von Bild und von RTL, die wollen wissen, was da passiert ist.«

Trevisan zuckte mit der Schulter. »Wir schreiben den üblichen Pressebericht und verweisen an die Pressestelle in Oldenburg.«

»Ich fürchte, das wird nicht reichen«, entgegnete die Direktorin. »Der Präsident hat auch schon angerufen und Hamann von der Pressestelle meint, das wäre alleine unsere Sache, er unterstützt uns, aber die Pressekonferenz wäre unsere Angelegenheit. Überdies sitzt mir Oberstaatsanwalt Lüderboom im Nacken, der ist politisch engagiert, das ist nicht so einfach.«

»Politisch, wie soll ich das verstehen?«

»Der kandidiert für den Landtag im nächsten Jahr und will unbedingt Karriere machen, Da kommt ihm ein solcher Fall gerade recht, verstehen Sie.«

»Ja, ich verstehe. Vier Menschen sind heute bestialisch ermordet worden und das soll nicht umsonst gewesen sein. So etwas kann man nutzen, wenn es weiterhilft.«

Thorke Oselich zuckte die Schultern. »Tja, so ist es eben, aber Lüderboom ist eigentlich ganz brauchbar. Hamann schlägt eine Pressekonferenz morgen früh um elf Uhr vor. Sie, ich, Lüderboom und er. Wir sollten uns genau abstimmen, was wir herausgeben können.«

»Okay, dann treffen wir uns morgen um zehn zur Besprechung, schlage ich vor.«

Sie nickte erleichtert. »Zehn Uhr, ich gebe Lüderboom Bescheid und hoffe, dass Ihnen die zusätzlichen Kräfte ausreichen, mehr können wir derzeit nicht abstellen. Wir sind nur eine kleine Dienststelle, ansonsten müsste ich Oldenburg um Unterstützung ersuchen.«

»Danke, ich denke, wir kommen klar«, entgegnete Trevisan. »Eine kleine Sache wäre da allerdings noch. Aufgrund meiner Erfahrung kann ich sagen, dass es Sinn macht, ein Team der Spurensicherung in die Soko zu integrieren. In der Vergangenheit hatten wir mehrfach Bedarf an Spezialisten und wenn ich dann jedes Mal warten muss, dass jemand aus Oldenburg hier heraufkommt, dann ist das … sagen wir: kontraproduktiv.«

Thorke Oselich fuhr sich durch ihre langen blonden Haare. »Uns ist die volle Unterstützung zugesichert, ich denke, da kann ich etwas für Sie tun.«

An seinem ersten Arbeitstag auf der neuen Dienststelle wurde es spät. Nach dem Bericht an die Staatsanwaltschaft und der Erkenntnisanfrage an das BKA und die anderen Polizeidienststellen verabschiedete sich Trevisan kurz nach zehn Uhr von Monika Sander. Eine halbe Stunde später traf er müde und ausgelaugt auf dem Peerenhof bei Horumersiel ein. Im Atelier brannte noch Licht. Lea war mit einer neuen Skulptur beschäftigt, eine Auftragsarbeit für eine Kirche in Aurich.

»Na, mein Großer«, empfing sie ihn mit farbverschmierten Händen und hauchte ihm einen zärtlichen Kuss auf die Wange. »Dir scheint es auf deiner neuen Dienststelle so gut zu gefallen, dass du gar nicht mehr nach Hause kommen willst.«

Trevisan erzählte ihr von dem Mord an den Bewohnern des Jakobshofes und wies auf die Tür. »Ich fände es gut, wenn du künftig abschließen würdest.«

»Oh, macht er sich Sorgen um mich«, scherzte Lea und wies auf das abstrakte Gebilde. »Wie gefällt dir übriges Lambertus, ist er nicht schön geworden?«

»Wer ist Lambertus?«

»Der Schutzheilige der Lambertikirche.«

»Oh«, brummte Trevisan. »Hätte ich fast nicht wiedererkannt. Bist du schon fertig?«

»In einer halben Stunde.«

»Dann gehe ich jetzt noch kurz mit dem Hund raus und anschließend sollten wir ein Glas Wein zusammen trinken, schließlich bin ich wieder zu Hause, das ist doch ein Grund zum Feiern.«

*

Polizeikommissarin Ohlstedt bremste den Streifenwagen ab und fuhr an den Straßenrand. Ihr Kollege, der auf dem Beifahrersitz gedöst hatte, erwachte und wischte sich die Müdigkeit aus den Augen. In der Dunkelheit sah er sich um.

»Was ist los, wo sind wir?«, fragte er benommen.

»In Hohenkirchen an der Kläranlage«, entgegnete die junge Kollegin.

Er richtete sich auf. »Was ist, weshalb hältst du?«

»Da liegt was.« Sie griff nach ihrer Taschenlampe.

Im Scheinwerferlicht des Streifenwagens erkannte er einen Schutthaufen, der mitten auf einem geschotterten Platz abseits des Feldweges lag. »Warte!« Auch er griff nach seiner Taschenlampe.

Gemeinsam verließen sie den Streifenwagen und gingen auf den Schutthaufen zu. Im Lichtkegel der Taschenlampe reflektierte ein gelbes Licht.

»Das ist ein Fahrrad«, sagte die Kollegin. Hinter dem Schutt vor einem Gebüsch zwischen den angrenzenden Feldern lag ein rotes Damenrad.

»Du hast gute Augen«, lobte der Kollege die junge Beamtin.

»Ich habe es gesehen, als ich um die Kurve gefahren bin.«

»Wenn das nicht das gesuchte Rad dieses Mörders ist«, murmelte der Polizist. Er untersuchte es und fand am unteren Teil des Rahmens eine Nummer. Er vermied es, das Rad zu berühren. »0335572, würde ich sagen.«

»Oder 75 am Ende«, fügte seine Kollegin hinzu.

»Warte kurz, ich frage die Datenstation.« Er ging zurück zum Streifenwagen und griff zum Funkhörer. Einen Augenblick später beugte er sich aus dem Wagen. »Was ist es für eine Marke?«, rief er ihr zu.

»Winora, Domingo, sechsundzwanzig Zoll und eine Ketten­schaltung von Shimano.«

Der Kollege zog sich in den Streifenwagen zurück. Nach kurzer Zeit tauchte er wieder auf. »Bingo. Das Rad wurde vorgestern in Jever gestohlen. Würde mich nicht wundern, wenn es dem Mörder vom Jakobshof gehört.«

»Was machen wir nun?«

»Wir sollen hier warten. Sie schicken jemanden vom Kriminaldauerdienst und einen Bus.«

Es dauerte beinahe eine Stunde, bis die Kollegen eintrafen. Wortlos musterten sie das Fahrrad. Als kurz darauf ein VW-Bus eintraf, beratschlagten sie, was zu tun war.

»Wir nehmen es einfach mit auf die Dienststelle«, schlug einer vor.

»Das wird den Leuten von der Soko gar nicht gefallen.«

»Wieso?«

»Hier könnten überall Spuren sein, auch das Fahrrad ist ein Spurenträger.«

»Was willst du tun?«

»Ich rede mit dem Schichtführer.« Der Kollege vom KDD zog sein Handy hervor. Er ging ein Stück abseits, ehe er nach kurzer Zeit wieder auftauchte. »Großräumig abriegeln und nichts verändern. Die Spurensicherung kommt.«

»Aus Oldenburg?«

»Ja, die brauchen etwa zwei Stunden, bis sie hier sind.«

Kalteiche

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