Читать книгу Hermann T. - Ulrich Hermann Trolle - Страница 11
ОглавлениеAber wir wollen nicht abschweifen.
Wir bleiben in der Küche und beim ausgeschalteten Radio neben dem Tisch. Nach dem Morgenkaffee beginnt in dem Haus mit der verlockenden Rasenfläche im Garten und dem rosa Phlox an der Seite mit der grellen Nachmittagssonne neben dem unvollendeten Weg ein ganz normaler Tag. Es wird kein besonderer, auch kein bemerkenswerter Tag für Hermann werden. Auch die folgenden Tage in der bevorzugten Wohngegend außerhalb des S-Bahnringes von Berlin werden dem heutigen in nichts nachstehen. Wenn wir Hermann eine Weile in die Winkel und Ecken seines Tun und Denkens gefolgt sind, ihn erlebt und ihm zugesehen haben, wird manch einer unter uns glauben, den Blick des Hermann auf sich und auf seine Umwelt verstehen zu können. Mitunter wird sich unsere Beobachtermentalität so ausrichten, als gäbe es in Hermann die Facetten eines ausgefüllten, äußerlich freundlich bis missmutig gleichgültigen, aber irgendwie anmaßend erscheinenden Bürgers zu erkennen, der aus Angst um nicht erfüllte eigene Ansprüche sich lästernd bis hysterisch über andere aufregen kann, sich selbst aber über andere erhebt und in letzter Minute durchaus zutraut, bisher nie wesentlich Erprobtes, nur Erahntes, seinem Wesen und seiner Seele nach aber Eigentliches, sittsam Unterdrücktes, Ungefordertes endlich einmal zu wagen. Hermann will die aus dem Inneren anklopfenden Impulse nicht mehr glätten. Er attestiert seinem Ego, die über den Alltag hinaus gehenden Energien bislang unzureichend, nicht erschöpfend, wenig konsequent und am wenigsten ichbezogen genutzt zu haben. Das gegenwärtige Sein, die Handlungen, Abläufe und Denkvorgänge gestatten ihm deshalb gerade jetzt ein Ausbruchsverlangen. Er will eine Erklärung für sich und für sein Dasein finden. Er will irgendwann verpatzte Chancen wettmachen und etwas Neues, wenn nicht sogar Höheres als alles Bisherige versuchen. Noch versuchen und nicht verzagen. Hermann will sich nichts Illusorisches, nichts Fernliegendes abringen. Soweit ist er sich im Klaren. Wenn Hermann aber tatenlos zusehen müsste, wie er ohne Bodensatz, sozusagen rückstandsfrei ins Alter gleite und sich bar verabschiede, würde es ihm große seelische Qualen bereiten. Und als er alles Aufgebauschte seiner Gedanken abstreifen konnte, fand er den wahren Grund seines Wollens: Er will nicht ins Leere laufen und er will kein Garnichts in den Äonen hinterlassen. Diejenigen, die ihm nahe stehen, sollen Konkretes in seiner Hinterlassenschaft aufzählen können. Das Motiv ist durchaus erklärlich. Das ist gewollte Endzeitabsicht. Hermann ist sicher nicht der einzige Mensch auf der Welt, der damit schwanger geht. Bis zur konkreten Gestalt der Endzeitabsicht aber muss etwas getan werden. An der Realisierung der Hinterlassenschaft ist zu werkeln, der Guss muss eine Gestalt haben. Doch Achtung. Die Hinterlassenschaft liegt doch noch in der Zukunft. Sie soll doch noch werden. Sie wird erst in der Zukunft erkennbar werden. Jenes Ergebnis aber wird mit ihrer Erschaffung bereits wieder Vergangenheit sein. Endzeitabsicht und erschaffenes Ergebnis liegen eng beieinander und doch in zwei Zeitzonen. „Wie kann ich also davon reden, ich will denen, die mir nahe stehen, etwas hinterlassen. Ich muss doch sagen dann: die mir nahe standen. Denn wenn jene meine Hinterlassenschaft aufzählen, bin ich selber tot, bin ich Vergangenheit und aus dem Sein heraus geworfen. Das reicht mir aber jetzt.“ Inwieweit Hermann in dieser Einschätzung der Wahrheit näher kommt oder er sich selber täuscht, wissen wir nicht. Es kann nicht gelingen, alle Teile von Hermanns gedanklichem Ich vollständig aufzufinden und zusammen zu puzzeln. Es sind zu viele Ungenauigkeiten enthalten und zu viele von Eitelkeit hinein getragene Fehleinschätzungen. Wie auch ein Zuviel an Vermutungen und subtilen Empfindungen vorliegt. Zunächst aber und für den Leser dargelegt als unverfälschte Position und zugleich frei von hermeneutischen Deutungen, kann über Hermann gesagt werden, dass er mit einer absichtlichen Neugier versehen ist und mit einem nach Verstehen suchenden Interesse auf die Dinge und die Menschen schaut und sich mit diesem Interesse durchaus einen vergnüglichen Stand eingerichtet hat. Hermanns Blick, seine Augen, sind seinen anderen Sinnen immer ein Stück voraus. Wenn wir uns derart auf den Hermann verständigen, werden wir die beste Sehweise haben. Und dann schauen wir zu, wie er mit sich und den anderen umzugehen versteht. Wer kann das schon und wer hat schon eine solche Gelegenheit über einige wenige Monate hinweg? Es ist wunderbar, sich das eigene Dasein mit neugierigen Blicken auf andere zu verschönern und aus dem Gesehenen vielleicht ein Gerücht zu streuen, eine Unwahrheit in Umlauf zu setzen oder eine Story zu machen, so wie diese hier über Hermann. Und es kann schon so sein, dass uns das an Hermann Beobachtete auf einmal irgendwie bekannt vorkommt. Ein Dé-jà-vu sagen wir vielleicht am Ende. Und wir sagen noch, so ein Hermann könnte ja auch in uns selber vorhanden sein. Doch wir fragen gleich darauf, ob wir uns wirklich selber beschreiben wollen, unser Innerstes freiwillig ungeschönt der Öffentlichkeit preisgeben wollen? Die Verlockung, sich darzustellen, ist gegeben. Der Abgrund jedoch, den wir fürchten, der sich beim Selbsterkennen und beim Zeigen und Benennen der eigenen inneren Antriebe möglicherweise auftut, vorausgesetzt man ist dazu in der Lage, scheint tief, voller Gefahren und lässt uns zittern. Der Abgrund ist ein Schlund, unüberwindlich. Aber unten, da unten sprudeln auch Quellen. Die Mühen des Ausharrens, wenn über Hermann und über seine Wochen während des für ihn ereignisreichen Sommers hier berichtet wird, und wir haben bereits aus den vorangegangenen Seiten vieles erfahren, lohnt allerdings nicht für jeden. Es wird Geduld abverlangt und ein wenig Lust auf das Ende. Bereits das eben verwendete Wort ’berichten’ deutet auch auf Anstrengung hin. Anstrengung lässt die Erwartung, etwas Besonderes zu erfahren und locker konsumieren zu können, schwinden. Es soll durch ein anderes Wort ersetzt werden. Was im Alltag bemerkenswert ist oder gar heraustritt, darüber lässt sich besser erzählen als berichten. Wir sehen dem Hermann auch über die Schulter und in seine Seele, um zu einer Meinung über uns selbst zu gelangen. Hermann kommt immer auf uns zurück, unmerklich und vielleicht auch erst mit Verzögerung. Es geht uns mit dem Hermann so, als würden wir Staub wischen und dabei überlegen, wie kriegen wir das Zeug nur endlich aus dem Zimmer heraus, und wie kommt es nur immer wieder und jeden Tag neu herein und legt sich auf die Möbel und die Bücher und manchmal auch auf den Geist. Und somit könnte für diesen oder jenen das hier über Hermann breit Erörterte und über alles, worüber noch gesprochen werden wird, auch nichts weiter sein als Klatsch und schriftlich befriedigte Neugier. Die wie warnend vor ihrem weiteren Gebrauch dargelegte Mühe des Lesens bedeute folglich nichts weiter, als dass man sich Zeit zum Lesen nehmen sollte. Aller gelesener Inhalt kann für manchen von geringster Bedeutung sein, gar keines Aufwandes bedürfen und von noch viel schüchterner Nutzungsberechtigung sein als das Verfolgen des Aktienkurses realtime im Internet oder das tägliche Führen eines Halshaltsbuches am Küchentisch einer sozial prekären Familie, um mal Zahlenwirkung ins Bewusstsein zu rufen, weil hier nur Buchstaben vor den Augen stehen. Es kann auch sein, dass kein Mensch, kein Leser sagen wird, er habe an Hermann und seiner Existenz tatsächlich etwas entdeckt und für derart würdig gehalten, um es sogleich umfänglich in seiner Bedeutung zu erfassen und weiter zu erzählen. Die Tage des Hermann scheinen nichts von Bedeutung zu haben, nichts, was sofort ins Auge springen, dem Erlebten in seinem Haus und drum herum einen höheren Wert verleihen könnte, außer ihres vergangenen, unwiederholbaren Vorüberseins und ihrer einzigartigen Existenz neben den anderen einzigartigen Anwesen in dieser verkehrstangierten Wohngegend mit ihren beinahe geräuschlosen Menschen in ihren Häusern, in der ansonsten lauten und sich einzigartig prollig gebenden Hauptstadt, in der man zum Trinken aus Bierflaschen mit einzigartig großen Plakaten angefeuert wird. Mancher wird mit dem hier Erzählten klar kommen und es zu Ende wissen wollen, um alles über Hermann zu erfahren und um sich am Schluss zu sagen, der Hermann ist kein Relikt einer aussterbenden Generation, ist nicht bereits verabschiedet aus dieser Gegenwart, und die Vielfalt seiner Gedanken und Taten ist mir verständlich, und manches in seinen Tagen ist mir vertraut und nahe, und so einen Menschen wie den Hermann habe ich in meiner Bekanntschaft, den einen Menschen kenne ich ganz gut, er heißt nur anders. Aber dass der Hermann so in Kleinigkeiten und Feinheiten verknüpft zu denken vermag, war bisher nicht so deutlich. Hermann wird den Tag, der mit seiner Beobachtung des Tautropfens auf dem Phlox am kühlen Morgen beginnt, gut überstehen und auch die folgenden Tage und die sich anschließende Jahreszeit, in der sich Merkwürdiges um Hermann herum ereignen wird, muss er ertragen. Soviel ist nochmals voraus zu schicken. Und Hermann wird danach versuchen, mit sich und der Welt in seinem kleiner und überschaubarer gewordenen Lebensradius wieder klar zu kommen, wenn all das chaotische in seinem Kopf, in seiner Gemütslage und in seinen Eingeweiden ausgelaufen ist. Und Hermann wird später alles Geschehene einer tragischen Verknüpfung nicht beeinflussbarer Zufälle zurechnen, die er selber nicht zu verantworten hat, beziehungsweise deren Verlauf abzuwenden er nicht in der Lage gewesen war, weil er Zufälle ja nicht steuern kann und die Dinge nicht in der Form erkennen konnte, wie sie sich ihm im Nachhinein darstellen. Alles Geschehen wird in seinem Bewusstsein zu einer sich nach und nach verengenden fremd wirkenden Episode formen, die er verbal nicht mehr aus der Erinnerung herausholen und schildern kann. Aber er wird trotz der Ernsthaftigkeit des dramatischen Ausganges eine gewisse Befriedigung in sich empfinden und sich auch seiner inneren schweigenden Genugtuung über den Verlauf der Dinge nicht schämen, sich allerdings auch zu Niemandem über den Ausgang der Ereignisse genugtuend äußern können. Hermann wird zu seiner inneren Ruhe zurückfinden. Und die gierigen, sein Gemüt zerstörenden äußerlichen Angriffe werden abgewendet sein. Unauffällig und wie im alten Gleichmaß wird Hermann seinen Ideen folgen, sie zu skurrilen Geschichten zusammenfügen, seinen Intentionen nachgeben und das scheinbar Banale des Alltages wie bisher zwischen den Schreibpausen einordnen und erledigen, möglichst dann, wenn eine A4 - Seite voll beschrieben, und die nächste Seite noch leer ist und darauf wartet, die Gedanken abzulichten, die in Hermann ein und ausgehen und ihn lächelnd stimmen und die zu enträtseln niemand sich die Mühe macht. Hermanns Schreibarbeit ist eine stille, mit leisem Atem und mit ewigem Grübeln ausgeführte Tätigkeit. Wer wie Hermann aus Lust Geschichten schreibt, bei dem klappert eine Computertastatur, bei dem kratzt der Drucker, rauscht der Lüfter und alles geschieht gar nicht mit Stille, sondern mit etwa 50 dB(A). Solch ein Schreiber wie Hermann will jeden Tag neue Sätze produzieren. Auf dessen Arbeitstisch oder dessen Schreibpult liegen keine Unmengen bekritzelter Manuskriptseiten herum. Bei dem findet man vielleicht nur eine Handvoll Zettel mit stichwortartig festgehaltenen Gedankenfetzen. Der Rest ist im biologischen Kopf und in der den Kopf entlastenden Festplatte. Das ist aber schon alles. Die Falten in Hermanns Gesicht glätten sich bei dem klappernden Geräusch seiner alten IBM-Tastatur. Wenigstens für ein paar Stunden am Tag ist das so. Am Abend pfeift es dann manchmal in Hermanns Kopf, seitlich, weiter hinten, und ganz hoch. Hermann hat den Grund dafür erfasst, ihn herausgesucht aus den verursachenden Möglichkeiten für eine körperliche Beeinträchtigung und deutet sie als das Ergebnis seines langen und einförmig grüblerischen aufreibenden Nachdenkens und Stillsitzens vor dem PC. Denkbar ist für ihn auch, dass sich der grelle Widerschein des Bildschirms, dem sich die Augen nicht so recht anpassen wollen, in eine latente nervliche Überbelastung verwandelt und Signale aussendet. Das ist der pfeifende Ton. Immer der gleiche. Immer die gleiche Höhe. Ununerbrochen, wie eine hundertmeterweit entfernt drohende Kreissäge. Hermann macht sich darüber Sorgen. Sollte ihm das Schreiben am Text derart schlecht bekommen, dass er zwar körperlich nicht ermüdet, höchstens erlahmt, aber unbekannte Bereiche seines Körpers mehr erholsame Pausen anfordern, als sein Verstand registriert? Der HNO-Arzt würde ihm, falls er sich dort vorstellte, sicher einen Tinnitus bescheinigen. Aber das will sich Hermann nicht antun wollen. Er kann sich einen Tinnitus selber bescheinigen, dann ist der Tinnitus zu ertragen. Außerdem will er sich nicht noch eine Malaise vom Arzt anhängen lassen. Die eigene Diagnose verleiht seinem Tinnitus etwas Vages, umgibt alles mit einer Wahrscheinlichkeit, aber setzt keine Gewissheit. Eine Gewissheit ist ohne Hoffnung auf Besserung. Die Wahrscheinlichkeit ist ergebnisoffen. Damit kann Hermann sehr gut auskommen. Vielleicht sollte Hermann nicht kompliziert denken und schreiben, sondern einfacher formulieren. Das könnte seinen Zustand schon verbessern und die hohen schleifenden Schwingungen im Kopf könnten abnehmen. Vielleicht lädt sich Hermann zuviel auf seine Schultern. Vielleicht gibt Hermann zuviel von sich preis und ist darüber immer wieder unsicher, ob das richtig ist, was er da macht. Wenn ein menschliches Wesen immer wieder unsicher wird, zersetzt sich sein Gefüge und es bekommt psychische Defekte, rote Flecken am Hals oder eine geschwollene Leber. Hermann ist frei davon, aber er hat eben den einen singenden Ton im Ohr. Ausgesucht hat er sich den Ton nicht. Der Ton kam von selbst wie ein zugelaufener Hund. „Er kann bleiben“, sagt Hermann am Morgen und schreibt weiter nach dem Morgenkaffee und wird am Abend dann agen: „Ich habe etwas geschafft, ich bin vorwärts gekommen mit dem Schreiben an meinem Text.“ Hermann schreibt jeden Tag an seinen Geschichten, wenn er ungestört bleiben kann. Und er ist jeden Tag verheiratet mit Lisa, ziemlich lange schon. Der Umstand der Ehe wird hier noch einmal ausdrücklich erwähnt, obwohl er bereits durch mehrere Andeutungen auf die Person der Lisa und die Vergleiche zwischen den Ansichten beider Eheleute im vorangegangenen Text festgestellt werden konnte. Das Wort ‚verheiratet’ fand bisher keine sinnvolle Verwendung. Nun an dieser Stelle ist das Wort in seiner Bedeutungsganzheit nicht mehr zu umgehen, da der Begriff Störung gefallen ist. Es gibt eine amüsierende Verbindung zwischen Lisa und dem Vorgang der Störung in Hermanns schreibendem Dasein. Dazu wird aber bei Gelegenheit mehr ausgeführt, auf einigen Seiten zuvor wurde bereits etwas darüber gesagt, allerdings einseitig, zugegeben, nämlich nur aus der Sicht des Hermann. Wer will, kann sich dennoch ein Bild von den beiden machen und entweder noch einmal vertiefend zurück blättern oder weiter lesen. Das alles musste hier mit etwas gewollter Ausführlichkeit und, wie man gewiss bemerkt, mit einem verschmitzten Lächeln noch angefügt werden, bevor Hermanns Gedankenwelt wieder den Duktus der Zeilen bestimmen wird, wie den in seinen ersten beiden Sätzen am Anfang der Geschichte auf der Seite eins.