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Für die Geschichte von und über den Hermann

muss nun ein Umweg gegangen werden. Der Umweg ist in Kauf zu nehmen, damit das Geschehen im Bad verständlich bleibt und der Grund sichtbar wird, warum Hermann sich morgens etwas länger als es die hygienische Sorgfalt erfordert, im Bad aufhält, und sich seine Finger auch noch mit einer angerissenen Packung Tabletten abmühen. Derweil, also während des zu erzählenden Umweges, soll Hermann am Fenster stehen bleiben, und sich nicht davon weg bewegen. Er soll in seinen Garten schauen und vielleicht die Reihenfolge der an diesem Tag von ihm zu erledigenden Arbeiten gedanklich noch einmal durchgehen. Vom Stehen am Fenster werden Teile der einen halben Stunde Wartezeit bis zur einsetzenden Wirkung der Tablette gegen das Wachstum des Knotens in der Schilddrüse verstreichen. Hermann soll ja die eine halbe Stunde Zeit vollständig einhalten, um die Tablette nicht umsonst eingenommen zu haben. Den Auftakt für seinen Gang zu den Tabletten gab Hermann selber, als vor etwa einem halben Dutzend Jahren seine Schilddrüse bei einer Routinekontrolle ins ärztliche Visier geriet. Bis dahin schien Hermann dieses winzige Organ in seinem Körper unbekannt gewesen zu sein, und wenn unbekannt nicht ganz zutrifft, so verhielt er sich diesen Drüsen gegenüber zumindest aber völlig gleichgültig. Jedoch bei dem erwähnten Gesundheitscheck mit einbezogener Blutanalyse zeigte sich eine Auffälligkeit. Der Hausarzt vermutete eine Fehlfunktion der Schilddrüse und in der Sonografie wurde ein unerwarteter Knoten in der rechten Seite des Halses sichtbar. In den darauf folgenden Tagen bis zur vereinbarten Biopsie verbrachte Hermann die Stunden des Tageslichts nervös und gereizt. Äußerlich jedoch, er wäre sonst nicht Hermann, blieb er gelassen. Im Inneren aber konnte er die immer wieder aufkeimende Unruhe nur wenig vertreiben. Er geriet in noch größere Verdrießlichkeit, je mehr er sich einredete, er habe nun eine ernsthafte Erkrankung. Er rang sich zeitweilig aber eine spöttische Seite seines Zustandes ab, in dem er sich die Frage stellte, ob mit der Diagnose, der Knoten befände sich in der rechten Schilddrüse, die rechte Körperhälfte aus seiner Augensicht gemeint sei oder vielleicht die rechte Seite seines Körpers aus der Blickrichtung des Arztes. Die Biopsie brachte kein Ergebnis, sie misslang. Hermann nahm es hin. Er wollte sich die offensichtlich handwerkliche Unfähigkeit des Arztes nicht bewusst machen. Er verlangte keine nähere Erklärung für den Fehlschlag. Er begnügte sich mit der Auskunft, man habe in dem entnommenen Gewebe nichts finden können und ließ seinen Zweifel am Wahrheitsgehalt der ärztlichen Aussage nur eine Weile noch in sich. Sicherlich ist die Biopsie einfach falsch gemacht, vielleicht an falscher Stelle, oder am gesunden Gewebe vorgenommen worden, sagte er sich und ging fortan mit der Existenz seines Knotens um, als wäre es sein unabwendbares Schicksal. Hermann wollte nichts wissen über Gut oder Böse seines Knotens. Es war ihm sogar recht, nichts Weiteres von ärztlicher Seite her in dieser Angelegenheit zu vernehmen. Und auf seine schüchtern und verwundernd fragende innere Stimme, warum er den Gleichgültigen abgebe und sich abspeisen lasse, gab er nicht Acht. Da Hermann an seinem Körper und an seinem täglichen Dasein auch nichts anderes feststellen mochte, als dass alles an und in ihm einen vorzüglichen, tauglichen und sportlichen Zustand habe, ja es ihm alles genauso vorkommen wolle, als wäre der Knoten nie festgestellt worden, vergaß er allmählich und ohne Anstrengung die gedankliche Beschäftigung mit diesem Teil an seinem schon faltig gewordenen Hals und die Angelegenheit geriet über den Notwendigkeiten der immer ausgefüllten, nie langweilig dahingehenden Tage, Wochen und Monate wieder zurück in die verdunkelten Abstellwinkel seines Gleichmutes. Aber irgendein verschlungenes und unbenennbares Areal in seinem Gehirn, aus dem wohl auch die Verwunderung hinsichtlich seiner Gleichgültigkeit hergekommen war, musste die einmal entstandenen Fakten doch verknüpft und Hermann eines frühen Morgens im Bett zu einigen geistigen Aufhellungen geführt haben. Hermann bemerkte an diesem besagten einen Morgen in sich nicht nur ein plötzliches Misstrauen gegen den diagnostizierenden Arzt, sondern in ihm kam auch die Absicht auf, einen neuen Radiologen und einen anderen Hausarzt zu bemühen, sobald er eine ungewöhnliche Reaktion an seinem Hals spüren werde. Hermann wartete deshalb darauf, dass sein Hals nun immer mehr anschwellen würde. Er schaute von Zeit zu Zeit genauer in den Spiegel, tastete und fühlte die linke und die rechte Seite der Halspartie nach Veränderungen ab, stellte sich vor, dass er bald einen Kropf am Hals haben werde, so einen, wie ihn die alte Tante Profalla aus seiner Kindheit besaß, die pustend die Treppe heraufstieg, wenn sie zum Sonntagskaffee an den Familientisch eingeladen worden war. In Gedanken zählte er schon die Hemden in seinem Schrank ab und rechnete sich aus, wie viele Drückknöpfe er ungefähr noch annähen könne, um dem bald mehr und mehr anschwellenden Ungetüm an seinem Hals ausreichend Platz zu schaffen und trotzdem der Hemdkragen noch zuzuknöpfen möglich bleiben sollte. Sein empfindsamer Hals sollte solange gewärmt bleiben, bis durch den angeschwollenen Umfang der Kauf neuer Oberhemden unausweichlich würde und die neue Halsweite den Kropf dann auch ohne Druckknöpfe wieder verbergen könnte. Die neuen Hemden hätten dann allerdings einen immensen Halsumfang. Sie entsprächen dann bestimmt nicht mehr seiner normalen Körpergröße, wären viel zu weit und besäßen Ärmel so lang wie für einen Schimpansen. Hermann verpönt den Kauf neuer Dinge, wenn die alten noch nicht verschlissen oder aufgebraucht sind. Aber bei einem Kropf wollte er eigentlich nicht kleinlich sein. Jedoch an seinem Hals zeigte sich weder ein Verschleiß noch eine körperliche Schwellung, noch irgendeine andere Auffälligkeit. Die Missbildung blieb aus. Der Kropf an seinem Hals kam nicht. Und so behielt Hermann seine Hemden mit der Kragengröße vierzig im Schrank. Alle zwei Tage zog er ein frisches hervor und knöpfte sich bis oben hin zu. Der Kauf neuer Hemden konnte aus der Liste seiner geplanten Erledigungen gestrichen werden. Und die alte Dame Profalla verschwand samt ihrem Kropf wieder im Erdreich des heimatlichen Gottesackers, in dem sie bereits seit Jahrzehnten ruhte. Die Druckknöpfe die Hermann besaß, noch aus seiner Mutter Aussteuer, verstaubten weiter unberührt im Nähkasten. Und die zurückliegende misslungene Biopsie versteckte sich samt Hermanns halbherziger, nie ernsthaft gestellter Fragen hinter dem alltäglichen Kleinkram in seinem Kopf, als ginge sie ihn überhaupt nichts mehr an, als gäbe es für Hermann keinerlei Anreiz, die Biopsie in sein aktuelles Denken weder in positiver noch in negativer Art und Weise zurück zu holen. Nicht ein einziger, seine Ignoranz kontrollierender Zweifel stellte sich in ihm ein. Und über diesem allen freut sich Hermann immer noch der seinerzeit von ihm gezeigten Gelassenheit gegenüber der aufregenden Situation um die fehl gelaufene Biopsie. Und auch darüber, dass er damals nicht sogleich mit der ersten Aufwallung den Arzt gewechselt hatte, sondern erst dann Weiteres zu unternehmen als geeignet ansah, wenn sich ein tatsächlicher Handlungsbedarf etwa durch Schmerzen oder durch Wachstum am Hals bemerkbar gemacht hätte. Hermann sah sich dadurch in seiner Überzeugung bestätigt, dass gesunder Menschenverstand dem nervösen Aktionismus überlegen ist, überlegen sein muss. Zudem erleichterte ein fremder und von außen kommender Umstand Hermann den Verbleib in der gewohnten ärztlichen Praxis seines Wohnviertels. Überraschend übernahm nämlich eine junge Ärztin jene vertraute Hausarztpraxis, zu der sich Hermann bisher alle zwei Jahre wegen der seinem Alter geschuldeten Vorsorge aufmachte, und in deren Räumen all seine gesundheitliche Unzufriedenheit aufgespeichert herum schwebte, weil sie ja dort angefangen hatte. Er wollte ursprünglich diese Praxis verlassen und zu einer anderen wechseln, sobald sich ein Kropf an seinem Hals entwickeln würde, weil er dann diesem alten Hausarzt wirklich nicht mehr vertrauen könne, da dieser ihn dem handwerklich unfähigen Radiologen anempfohlen hatte. Dieser Grund zum Wechseln war nun nicht mehr gegeben. Aber eine klamm heimliche Freude erfasste Hermann dennoch, dass er sich auf so unerwartet leichte natürliche Art und Weise und ohne eigenes mutwilliges Zutun doch in die Obhut eines neuen Arztes begeben konnte, ohne dem alten über Gebühr zu zürnen. Einzig, dass der Arztwechsel ihm nicht vorher bekannt gegeben worden war, stimmte Hermann ein klein wenig nachdenklich. Er musste sich eingestehen, für den bisherigen Hausarzt doch nicht so ein bevorzugter Patient gewesen zu sein, wie er sich selber vorgekommen war, ja, wie er sich eingebildet hatte. Er war also nicht so ein Patient, dem der beabsichtigte Ruhestand des bisherigen Arztes aus Gründen des über die Jahre aufgebauten persönlichen Vertrauens, oder des sozialen Selbstverständnisses wegen, oder aus Gründen des erfolgreichen weiteren Heilungsverlaufes in einem vertraulichen Gespräch hätte mitgeteilt werden sollen. Dachte sich Hermann. Der alte Arzt aber dachte anders, hatte wohl eine andere Sicht auf seinen unzufriedenen, meist skeptisch redenden Patienten Hermann gehabt. Den ersten Termin bei der neuen ärztlichen Besetzung trat Hermann aus freien Stücken an, übrigens wie bisher auch. Er tat damit auch diesmal wieder der turnusmäßig fälligen Gesundheitsvorsorge Genüge. Ihn begleitete vor allem eine gewisse Neugier auf den ihn erwartenden unbekannten Zustand, eine Neugier, die wohl immer mit der Änderung gewohnter und dem Erscheinen neuer Dinge einher geht, und die in Hermann das Augenmerk auf den Verlauf des ersten Kontaktes hinzielen ließ, in diesem Fall auf die Tonlage der Stimme, die seinen Namen aufrufen und in das Sprechzimmer zu kommen auffordern würde, und auf den ersten Händedruck bei der Begrüßung zwischen ihm, dem Patienten und ihr, der neuen jungen Ärztin. Wie oft in seinem Leben hatte doch der erste Eindruck von einem Zusammentreffen Hermanns Verhältnis zu einem Fremden dauerhaft und meist ohne wesentliche Korrekturen in der Folgezeit, bei manchen sogar über Jahrzehnte hin bestimmt. Hermann trat mit einem etwas indolenten Gesichtsausdruck und einer verschlafen wirkenden Körperhaltung in das Sprechzimmer der Ärztin, als er aufgerufen wurde. Er wollte aber in der Lage sein, sofort lebhaft zu werden, sofort eine freundliche Miene aufzulegen, wenn die Situation es erfordere und eine solche Wandlung nötig mache. Nicht die Feststellung seiner gesundheitlichen Verfassung, sondern die Wirkung dieser neuen Person auf ihn, die für sie gefühlte Sympathie oder Antipathie sollten das Primäre und Grundlegende sein an diesem Termin. Und von diesem eigenwilligen Ranking wollte Hermann dann seine Entscheidung abhängig machen, in dieser Praxis weiterhin Patient zu bleiben oder doch endlich zu wechseln. Hermann durchzuckte es beim Eintreten. Hermann war sogar entsetzt, weil die Ärztin, auf die er zuging, allem Anschein nach das Alter von dreißig Jahren gerade erreicht oder nur unwesentlich überschritten haben musste. Ihr glattes Gesicht, von keinen Falten und Fältchen beeinträchtigt, ihre engen auf ausgewaschen getrimmten Jeans und der sehr an Modeschmuck erinnernde Ring am Mittelfinger der linken Hand, herrjeh, mit solchem Zeug staffiert sich jemand aus, der einen Partner anlocken will, aber nicht, wer Patienten zu behandeln hat und das fünf Tage in der Woche und bei dem Mittwoch Nachmittag noch ein halbes Dutzend Untersuchungstermine im Seniorenstift der Caritas im Terminkalender vorgemerkt sind. Diese junge Frau, dieses schmale Person hier, ist doch wohl ein Witz. Sie ist vielleicht eine verspätete Studentin im endlich erreichten letzten Semester, oder sie ist eine in Weiß getarnte Heilpraktikerin. Wann will diese Puppe denn ihre Approbation erhalten haben? Hermann bedauerte innerlich, im Wartezimmer auf dem harten Stuhl gesessen und dem Aufruf mit übertriebenem Interesse entgegen gesehen zu haben. Er bedauerte, überhaupt auf diesen Termin eingegangen zu sein, anstatt sich gleich eine neue Arztpraxis zu suchen. Sein Instinkt hatte ihn doch ständig gemahnt, er soll sich einem behandelnden Arzt im gesetzten Alter in die Hände begeben. Und hatte er sich das nicht manchmal schon frühmorgens im dösigen Zustand des Aufwachens vorgenommen, aber diese ureigenste antreibende Absicht vernachlässigt, weiß der Teufel warum? Und nun steht er vor so einer hier! Hermann sah keine sichtbaren Anzeichen dafür, dass sie deutlich über Dreißig ist. Wonach hätte er sinnvoll suchen sollen? Welche weiblichen Zeichen hätte er deuten müssen, um ihr geschätztes Alter davon abzuleiten? Vielleicht die mutige Farbkombination zwischen dem Schmuck und ihren Streetwear-Klamotten von s.Oliver, die lustig zerzaust wirkende, kurzsträhnig gestylte Frisur, die flüchtige Zeichnung der schattigen Augenränder, das vom Ausschnitt des T-Shirts halbverdeckte winzige Tattoo auf der noch spannglatten Haut zwischen Hals und den allerdings etwas klein und flach geratenen Brüsten, denen ein Büstenhalter besser stehen würde, als überhaupt keine Körbchen. Sollte Hermann nach den Spuren eventueller Küchenarbeit an ihren Fingern suchen, zum Beispiel nach der Färbung an Daumen und Zeigefinger infolge der geschälten Mohrrüben, die sie leicht in Butter gedünstet auf den Esstisch der Familie am Vorabend kredenzte? Oder nach der frappierenden Übereinstimmung ihres Habitus mit dem jugendlich flatternden textilen Weibsbildern aus den Werbebeilagen der Tagespresse? Ach was! Eine Allgemeinmedizinerin muss a priori über Dreißig sein, zürnte Hermann unter der Zuchtkappe seiner äußeren Höflichkeit. Zugleich wurde ihm aber unheimlich zumute, dass er wie ein Heißsporn schnell und ohne irgendeine Vorsicht weitere Vorbehalte und unausgegorene Gedanken aus seinem Unmut heran schleppte, und er all den oberflächlichen Meckerkram hemmungslos gegen die Neue auffahren konnte, mit dem er sie und die für ihn lästige Situation innerlich beschimpfte. Der Missstand überforderte ihn. Der Missstand kam zu plötzlich in sein Bewusstsein und konnte nicht verarbeitet werden. Hermann musste etwas im Innern geschehen lassen und mit einer gewissen sekundenschnellen Neugier spannte er darauf, welche Seite seiner inneren Aufgewühltheit ausschlagen werde, die Vernunft oder die grobe Gehässigkeit. Hermann war handlungsgehemmt und er musste dem folgen, worauf er keinen Einfluss hatte. Letztendlich kam es so, dass er innerlich weiter zeterte: Diese Generation von jungen Ärzten schaut dich als Kassenpatienten nur oberflächlich an. Es fehlen ihr Lebenserfahrung und Einfühlungsvermögen, ganz klar. Sie schaut nur kurz an dir herunter, checkt dein Outfit und glotzt dann viel länger auf den Computerschirm, ob deine Angaben an richtiger Spalte der Patientendatei eingetragen sind. Und sie achtet darauf, dass die Behandlungszeit aus Kostengründen nicht überzogen wird. Trotzdem wartest du als Patient über den Bestelltermin hinaus unter der hustenden und rotzverschleimten Klientel des Wartezimmers. Hermann war in Rage geraten. Er merkte aber, wie sein größter Ärger sich über ihn selbst und sein unkontrolliertes Schimpfen ergoss. Und trotzdem gelang es ihm nicht, sein dummes inneres Gerede zu unterdrücken. Er ließ sich gehen. Und Hermann dachte noch zusätzlich und mit Genugtuung: Nun habe ich doch Grund genug, die Arztpraxis zu wechseln. Plötzlich spürte Hermann die Hände der Ärztin unter seinem Kinn, sie tastete seinen Hals und er erschrak, wie sie ihn abrupt und hart aus seinen Gedanken wach rief: „Das muss ich mir mal genauer anschauen.“ Ihre Hände glitten von Hermanns Hals ab, nestelten an der Tasche des Kittels. Sie bewegte sich in kurzen Schritten auf den Schreibtisch zu. Diese Frau, der die weichen Hände gehören, muss erst ausreifen, dachte Hermann erneut. Wer vor ihrer Reife hier Patient ist, wird Misstrauen gegen sie aufbauen. Er begann sich wieder zu ärgern. Und ihm fiel auf, dass die junge Ärztin in ihrer Bemerkung kein pluralisierendes, die Situation verwässerndes „wir“ gebrauchte. Hatte er anderes erwartet, oder das „wir“ nur überhört? Er sann der Bemerkung noch einmal nach. Sie hatte tatsächlich den generösen Plural, die lässige Geringschätzung, die mit der Verbrüderungsrhetorik des „wir“ einhergeht, vermieden. Hermann stoppte sofort die Überlagerung aufgekommener alter Gedanken auf die neuen. Er ist doch Patient in der Gegenwart. Da gibt es das „wir“ nicht, sondern das Abstand haltende „Sie“. In der Gegenwart nimmt der Arzt den Patienten ernst. Aber vom letzten Jahrhundert holte Hermann aus seinem Gedächtnis die Erinnerung herbei, dass sich der Arzt hie und da das Vertrauen beim Patienten durch eine lässige Entpersönlichung und Verniedlichung der Krankheit erschlich, was ihm leicht gemacht wurde, da der Patient zum Arzt hoffnungsvoll aufschaute. Der Arzt machte die Krankheit klein und rückte sehr nahe heran an den Patienten mit näselnder Stimme: „Ja, wo fehlt es uns denn? Was machen wir denn für Sachen?“ Hermann sah den groß gewachsenen dicken Doktor seiner Kinderzeit vor Augen, der ihm gegen die häufig auftretende Mandelentzündung Tabletten verschrieb, das abendliche und morgendliche Gurgeln ans Herz legte und Bettruhe verordnete. Und eines Tages kam dieser dicke Arzt auch an Mutters Bett, wegen ihrer Koliken, die wohl von der Galle herkamen, da Mutter gern fett aß. Der kleine Hermann war deshalb zuvor an eben diesem Tage mit der anderen, der Gott erbarmenden Angst um die kranke Mutter zum dicken Arzt gerannt, natürlich vom Vater auch zusätzlich geschickt, damit der auch Anteil habe am Gesunden seines Weibes und nicht nur unschlüssig herum stehen, und zwischen Bett und Küche irgendwie nur fehl am Platze scheinen sollte. Und das Kind Hermann war mehr als gerannt, bis ihm die Luft weg blieb und die heiße Lunge nichts mehr hergab außer Keuchen und Röcheln an dem einem Nachmittag mitten in der Arbeitswoche. „Du, sage deiner Mutter, ich komme in einer Stunde“, antwortete der dicke Arzt. Und dann kam er in einem sehr alten Auto vorgefahren, ging ins Haus, fand das Schlafzimmer. Er setzte sich an den Bettrand sprach mit Hermanns Mutter, tastete sie ab. Und Hermann hörte ihn zu Beginn seiner Untersuchung eben dieses fragen, woran er sich jetzt erinnerte: „Ja, wo fehlt es uns denn? Was machen wir denn für Sachen?“ Mutter sah ihn in gläubiger Erwartung und tränennassen Augen an. Hermann hatte immer gedacht, der Dicke da an Mutters Bett sei ein Kinderarzt und würde nur die Kinder der Straße gesund machen, und nur die Kinder in der Stadt duzen. Im Krankenbett aber liegt das Du anscheinend immer näher als außerhalb des Bettes. Oder war Mutter in ihrem Bett wieder Kind geworden? Sie heulte ja wie ein Kind und krümmte sich. Mutter hatte Schmerzen in ihrem Leib und die Angst vor den Schmerzen noch obendrein. Die Angst vor dem Schmerz löscht die Persönlichkeit aus. Und eine kranke erwachsene Mutter heißt dann eben wie ein Kind: Du. Die Ärztin, vor der Hermann jetzt zur Untersuchung saß, sprach unbeteiligt, ja, wie es Hermann vorkam, sogar ein wenig gleichgültig im Tonfall und mit einem sachlichen Abstand, der wohl dem Altersunterschied zwischen ihr und dem Patienten Hermann hätte geschuldet sein können. „Ich werde Sie noch einmal untersuchen. Nehmen Sie bitte im Untersuchungszimmer 2 auf dem Stuhl platz. Dort, auf diesem da.“ Und sie zeigte durch eine geöffnete Tür in den anderen Raum auf einen dort mittendrin platzierten drehbaren Stuhl ohne Armlehnen. „Die Jacke können Sie anlassen. Aber den zweiten Hemdknopf bitte öffnen. Ja, noch ein wenig weiter aufmachen. Geht das? Ja, so reicht es schon.“ Hermann vernahm ihre schnellen kurzen Schritte hinter sich, verspürte einen leichten Lufthauch aus ihren Körperbewegungen. Sie nimmt kein Deodorant, dachte er noch, da waren ihre Hände auch schon wieder an seinem Hals, legten sich vom Rücken her um ihn. Leichtes Gleiten, Drücken und Tasten mit den zweiten und dritten Fingern. Es wurde still. Ihr Atem kam sanft aus ihrem Mund strich um Hermann herum. Hermann begann zu pumpen, auf einmal bebte sein Brustkorb. Hermann wurde aufgeregter auf seinem Stuhl. Er sah links von sich eine angejahrte flache Liege stehen auf schlicht gedrechselten Holzfüßen. Die vorderen Füße waren schief, als hätte jemand wütend dagegen getreten. Über der dunklen Bespannung erkannte er eine durchsichtige glänzende Folie. Darauf lag lose und leicht herabhängend eine weißliche Papierbahn, länger als ein menschlicher Körper und wie es aussah, für die weitere Benutzung vorbereitet. Hermann spürte, wie sein Arm sich nach dieser Liege ausstrecken wollte, wie es ihn drängte, sie zu berühren, als sei er erst dann überzeugt von der realen Körperlichkeit der Liege und von seiner eigenen Anwesenheit hier in der Praxis. Wenn er doch die Liege jetzt benutzen könnte, die harte Unterlage unter sich fühlen könnte, anstatt auf dem Drehstuhl sitzen zu müssen so aufrecht, dass es ihm Mühe machte. Erst auf der Liege würde er das Gefühl haben, wirklich in ärztlichen Händen zu sein. Der Kittel der jungen Ärztin berührte Hermanns Rücken. Zu beiden Seiten schoben sich ihre schlanken Beine um den Drehstuhl. Er sah ihre hellen Socken, schaute auf die Riemen ihrer Sandalen, auf das grüne Linoleum des Fußbodens. Ihr Atem strömte wieder geruchlos, umfächerte seinen Hals, durchfuhr seine Haare. Hermann versuchte zu entspannen, irgendwie aus der Beklemmung zu kommen und aufzuweichen, um seinen Groll endlich zu überwinden. Da hieß sie ihn: „Machen Sie sich bitte mal frei. Nur oben ´rum.“ Hermann stand auf. Er bekam erneut Gänsehaut. Er zog die Jacke aus, raffte kurzerhand mit überkreuzten Armen sein T-Shirt samt Unterhemd, zog beides über den Kopf und legte die baumwollenen Sachen lose über den Rand der Liege mit den schiefen Beinen. Die Ärztin prüfte seine Haltung und die Waagerechte seiner Schultern. Dann fuhr sie mit einem Gegenstand, den Hermann nicht erkennen konnte und der in ihm ein elektrisierendes Gefühl verursachte, an der Wirbelsäule entlang. Sie fragte ihn nach dem Wachstum der braunen Flecken auf seiner Haut, ließ ihn ein paar Mal kräftig durch den Mund ein- und ausatmen, das Stethoskop dabei auf verschiedene Stellen von Hermanns Rücken und auch noch auf Brust und Bauch haltend. Die Arzthelfrein kam und fragte nach den Werten der Blutdruckmessung. 135 zu 81 hörte er die Ärztin sagen, dann ging die andere wieder aus dem Raum. Hermann und die junge Ärztin standen sich allein gegenüber. Ihre Haare..., dachte Hermann auf einmal. Hermann sollte sich erneut umdrehen. Sie pochte ihm auf den Rücken, hämmerte mit ihren Händen in seine Nierengegend und fragte, ob ihm das Schmerzen bereiten würde. Wenn ja, wo am heftigsten. Hermanns Gesicht begann sich zu röten. Er empfand keine Schmerzen. Und als wäre es nicht genug, forderte die Ärztin während des Drückens und Klopfens Hermann auf, für das nächste Mal einer Blutprobe zuzustimmen, die er zu dem neuen Termin auf nüchternen Magen, natürlich frühmorgens vor halb acht Uhr, im winzigen Laborraum nebenan, von der ebenfalls neuen Krankenschwester vornehmen lassen sollte. „Sie sind doch damit einverstanden.“ Halb verdutzt, halb sich schnell befragend antwortete er: „Ja.“ So kam er zum zweiten Mal vor die junge Ärztin, schneller als ihm lieb war. Mit einer fixen Körperdrehung, die Hermanns Eintreten galt, warf ihm die Ärztin hinter ihrem Schreibtisch, noch bevor Hermann auf dem Behandlungsstuhl wieder Platz nehmen konnte, mit freundlichem Gesicht die Frage an den Kopf, warum er, der mündige Patient Hermann, den Knoten an seinem Hals nicht habe bereits behandeln lassen. Der Knoten sei inzwischen, äußerlich zwar nicht erkennbar, innerlich aber unzulässig gewachsen. Das ergebe sich mit hoher Wahrscheinlichkeit aus einem Vergleich mit den Daten der ersten Untersuchung, die vor einigen Jahren erfolgt war und die aus Hermanns alten, aber noch nicht im Archiv abgelegten Patientenunterlagen herangezogen wurden. Und sogleich begann sie mit ihren jungen weichen Händen genau wie zum ersten Termin an Hermanns Hals zu tasten und zu fühlen. „Haben Sie Beschwerden beim Schlucken oder beim Sprechen? Wenn sie sich sputen, ist die Untersuchung im laufenden Quartal noch zu erledigen, und es würde keine neue Praxisgebühr anfallen. Die Überweisung für den Radiologen mache ich gleich fertig. Die Assistentin an der Aufnahme wird sie Ihnen aushändigen.“ Dem Wachstum entgegen zu treten heißt für Hermann jeden Morgen auf nüchternen Magen eine Tablette einzunehmen und geduldig, der heilenden Wirkung wegen, bis zum Frühstück dreißig Minuten zu warten und die Wartezeit mit dem auszufüllen, wofür sich tagsüber nie die richtige Gelegenheit bietet, das Ölen der Scharniere an der Haustür zum Beispiel, oder das Küchenfenster putzen, oder den Blick auf die Leute aus dem Haus gegenüber etwas länger ausdehnen. Aber davon später.

Hermann T.

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