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Hermann erlebt in der Arztpraxis

auf dem Behandlungsstuhl ein Aufflackern. Eine Verlockung, eine Art dritter Variante erotischen Erlebens. Eigentlich mehr. Eigentlich so etwas wie der Anflug eines Wunsches nach spontaner Verführung. Aber mit dem Wunsch zog auch gleich die Ernüchterung als Widerpart in Hermann ein. Die Ernüchterung, dass sexuelle Verführung nichts weiter sein würde als eine flache, billige und gaukelnde Erwartung eines zweifelhaft bereichernden Erlebnisses. Die kann man aber auch im Internet abrufen, anschauen und sich selbst befriedigen. Hermann hat sich in seinen Gedanken verheddert und schweift ins Weite ab. Ach, wie ist das Leben ungerecht! Aber es ist so eingerichtet worden von den Menschen. Zu dieser Einrichtung gehört auch der drehbare Behandlungsstuhl in der Arztpraxis. Der spielt Hermann übel mit. Hermann schaut durch das Fenster der Praxis. Die langfahnige Gardinenverblendung lässt einen schmalen Spalt frei. Hermanns Blick fällt auf die gegenüber liegende Straßenseite, auf die wuchtigen dunklen Stämme der Bäume. Ein Mann mit gestutztem grauem Vollbart geht dort drüben gemessenen Schrittes den Fußweg entlang, den Staubmantel über der Schulter. Vielleicht geht der dort, sagt sich Hermann und er will sein Selbstvertrauen wieder herrichten, vielleicht geht der dort in diesem Augenblick mit ähnlichen Bildern und Gedanken, wie sie mich eben durchgeisterten, geradewegs zum Psychiater und legt sich dort auf das Sofa und erzählt von dem erotischen Aufleben in seinem Kopf. Vielleicht trägt er die Hoffnung in sich, seine Phantasien vor der Umgebung verbergen zu können, aber auf dem Sofa auf eine Erklärung für das bildhaft Gesehene zu erhalten und eine Antwort darauf zu finden, weshalb ihn in seinem fortgeschrittenen Alter noch sexuelle Erinnerungen unverblasst durchziehen und ob dieser Zustand auf einen psychischen oder pathologischen Schaden deutet oder ob er völlig normal denkt und empfindet und seine Vorstellungswelt durch eine repräsentative Studie eventuell bestätigt wird und unterstützende Belege dafür bereit hat. Das Sofa eines Psychiaters hat Hermann gelegentlich in US-amerikanischen Filmen bemerkt. Er verachtet Filme aus Hollywood wegen ihres Kitsches und ihrer flachen Story. Und eben wegen des häufig strapazierten Sofas. Der Doktor Freud bot den Patienten seinerzeit ein bequemes Sofa an, eine Couch, bedeckt mit einer großgemusterten gewebten Decke und einer Handvoll weicher Kissen. Ein heutiger Psychoanalytiker hat vielleicht statt der Kissen nur eine harte mit Papier überzogene Liege im Behandlungszimmer aus Beachtung der allgemeinen Hygienestandards. Wer will schon den Geruch des schwitzenden Vorgängers wahrnehmen, wenn er sich mental reinigen lassen möchte. Da ist so ein einfacher drehbarer Behandlungsstuhl wie dieser hier bei der jungen Ärztin viel praktischer. Hermanns abweisende Art und mäkelnde Unruhe ist nur Oberfläche. Ginge er klar an die Dinge, müsste er sich selbst der Flachheit bezichtigen. Er weiß nichts Genaues von amerikanischen Filmen, sieht sich keine an, hat lediglich ein paar Erinnerungen daran aus vergangenen Jahrzehnten und er weiß ebenso nicht, welches Interieur die Praxis eines Psychoanalytikers heute ausmacht. Er war noch bei keinem und würde dort freiwillig auch niemals berichten wollen und „freie Einfälle“, wie von Freud erwartet, würde er sowieso nicht auf dem Sofa zustande bringen können. Sicher muss derjenige, der sich getraut, die Psyche analysieren zu lassen, von seinen Einfällen berichten. Solche Einfälle eben, wie sie Hermann als sexuelle Erinnerungen bei der Untersuchung seines Halses bildhaft gesehen hat. Aber vielleicht muss er seine Einfälle, wie sie Hermann erlebte, mangels Couch nur auf einem solchen einfachen Behandlungsstuhl beschreiben und darüber berichten. Das wird dem Berichten und dem Beschreiben aber nicht entgegen kommen, sondern es schwieriger machen, weil der Stuhl sich leicht hin und her dreht, und es dem auf dem Stuhl Sitzenden ja ohnehin schon innerlich dreht, je nach seiner Verfassung. Wie sollen auf einem solchem Stuhl erotische Sehnsüchte und sexuelle Einfälle mit Worten beschrieben werden können, wenn die Unterlage wackelt? Am besten lässt man die Beschreibung bleiben und lässt den Psychiater unbehelligt mit der Frage nach den sexuellen Spiegelbildern. Erotische Vorstellungen in Worte zu fassen ist von vornherein und mit großer Wahrscheinlichkeit ein Unding. Erotik ist eine persönliche Welt, eine Körpererregung, eine ganz private Empfindung und keine Prosa für irgendjemandes Ohren, noch dazu, wenn sich aus der individuellen Erotik sexuelle Vorlieben und Erlebniswünsche frei machen. Was der Analytiker aus der Richtung der Couch oder des unruhigen Drehstuhles zu hören bekäme, müsste er, es ist ja seine Aufgabe, statt zu wiederholen in neue Worte fassen, und zudem in eine Fachsprache kleiden, diese brieflich zurück oder weiter an den überweisenden Hausarzt richten, und dieser würde dann dem Probanden-Patienten auf dem angenommenen drehbaren Behandlungsstuhl wiederum die Diagnose rückvermitteln. Er würde versuchen, ihm begreiflich zu machen, warum ihn solche Bilder narren. Ob dem erotisch Verwirrten oder Verirrten, dem angefochtenen Patienten hilft, helfen kann, überhaupt helfen soll, was zuvor mehrmals übersetzt und in andere Worte transponiert werden musste? Übersetzungen sind Fehlerquellen und der Anfang von falschen Interpretationen. Und kann der Psychiater überhaupt alles verstehen, was der Patient empfunden hat? Beide, Patient wie auch der Arzt, haben eine Vorstellung geäußert. Sie ordnen jeweils ihren Worten einen Sinn zu. Ist es der gleiche Sinn? Haben sie das gleiche Empfindungsvermögen, die gleiche sprachliche Gewandtheit? Was passiert, wenn der auf der Couch Liegende oder auf dem Stuhl Sitzende nicht die zutreffenden Worte findet für die Schilderung seiner sexuellen Vorstellungen oder für den Spaß oder für die unerfüllte Suche nach Befriedigung? Liefert er dem Psychiater nicht dadurch ungewollt den Stoff für eine halbwahre Diagnose? Und demzufolge für eine fragwürdige Therapie? Wir sind alle viel zu gebildet, um diese Frage beantworten zu wollen. Hermann richtet sich auf seinem Stuhl in der Arztpraxis wieder empor und strafft sich soweit es geht. Er erinnert sich wieder seiner Frage, wofür die empfohlenen und auf Rezept verordneten Tabletten gut sein mögen. Die Ärztin hat ihm noch nicht geantwortet. Die Millisekunden Reaktionszeit im Kopf der jungen Ärztin sind längst vorüber. Und Hermann ist jetzt auch wieder in der Lage, auf seine Art über diesen misslungenen Untersuchungstermin nachzudenken, während er sich das Hemd überstreift. Die Antwort der jungen Ärztin gerät ausführlicher, als es Hermann recht ist. Die Antwort erscheint ihm aber zu lang und zu ernst auf seine doch deutlich und mit gespielt lockender Naivität gestellte Frage. Als er zurückgekehrt ist und vor seiner Haustür steht, bemerkt er das leichte Zittern in seinen Händen. Er fingert am Schloss herum. Das Schlüsselbund rasselt. Im Haus hängt er seine leichte Sommerjacke lose an den Haken. Wo er doch sonst den Bügel benutzt. Hermann wäscht sich die Hände und beginnt im Bad zu hantieren. Er stellt sich vor den Spiegel. Er hinterfragt sich, was er da in der Arztpraxis eigentlich für einen Typen abgegeben hat, warum er sich so sperrig verhielt. Er hat sich unvernünftig und gestelzt aufgeführt. Er hat sich daneben benommen, glaubt er. Er wird den Vormittag brauchen, um sich wieder aufzubauen und wieder der alte zu werden. Und an die erklärenden Worte der jungen Ärztin kann er sich im Moment auch nicht mehr genau und nicht mehr eindeutig erinnern. Er fühlt sich zu abgespannt, zu müde. Die Erinnerung an die Worte der Ärztin würde jetzt nur oberflächlich gelingen. Er versucht es trotzdem. Er stellt sich vor, Lisa würde ihn danach fragen. Also strengt er sich an. Die Antwort gelingt ihm nur bruchstückhaft. Seine Erinnerung gebiert Worte, die nur indirekt den Zweck der verordneten Tabletten beschreiben. Lisa müsste sich damit zufrieden geben. Aber so richtig will sich Hermann jetzt überhaupt nicht im Kopf mühen und will nicht wortgetreu und auch nicht ausführlich die Empfehlung der jungen Ärztin rekapitulieren. Zwar hatte er sie vernommen, hatte genickt, als würde er ihr zustimmen und mit dem Nicken signalisieren, er habe nicht nur die Worte verstanden, sondern auch die darin enthaltenen Informationen über den Zweck der Therapie abgespeichert. Während die Ärztin zu ihm sprach, saß er ja vor ihr auf dem Behandlungsstuhl, aufrecht und endlich, endlich dann angelehnt, noch etwas beeindruckt von dem erlebten unverhofften erotischen Gefühlskino, so dass sich über die Erläuterungen der Ärztin zu den Tabletten und ihrem Zweck auch immer wieder die anderen Sinne drängten. Er bemerkte dabei auch, dass sein eigenes äußeres Gebaren vor der Ärztin noch keine feste Kopplung zu seinem Inneren fand, nach innen, zu seinem Reaktionskern. Hermann ereichte sich selbst nicht. Er reagierte zwar äußerlich, in seiner Haltung, normal, aber ohne die erforderliche Korrelation nach Innen. Die ärztlichen Informationen legte er grob sortiert irgendwo im Gedächtnis ab, nicht benutzbar für das sofortige Abrufen, für die verständliche Wiedergabe. Stattdessen durchforschte er sich. Er machte eine Gemütsstimmung in sich aus, die er als „mit mir zufrieden“ umschrieb. Er glaubte die Zufriedenheit zu haben bereits von dem Moment an, als er die ärztliche Praxis verließ. Und eine solche Stimmung ist für Hermann etwas Grundlegendes und Vorteilhaftes. Nach und nach würde er dann schon aus der Antwort der Ärztin mehr als nur Allgemeines und Emotionales herausfiltern können wollen, bagatellisierte er seinen Zustand. Jetzt puzzelt er sich im Bad eine Struktur aus dem Dialog mit der Ärztin zusammen. Er sortiert drei gedankliche Häuflein. Über dem ersten hängt er die meisten Fragezeichen auf. Er fragt sich: Welche Informationen habe ich eigentlich von der erklärenden Antwort der Ärztin einigermaßen schnell parat? Über dem zweiten Gedanken konzentriert er die Frage, was sich vom Inhalt der ärztlichen Sätze tiefer in ihm eingeprägt hat. Und das dritte gedankliche Häuflein umfasst diejenigen ärztlichen Worte, die ihm auch jetzt noch, lange nach der Untersuchung seines Halses, kompatibel mit seiner eigenen Auffassung erscheinen. Wenn Hermann ein Statement hätte abgeben sollen, diese fiktive Gelegenheit gibt er sich öfter vor, auch um seine Konzentration und die Formulierungsfähigkeit zu trainieren, dann würde er folgende Sätze in der Öffentlichkeit vortragen: „Es gibt ein therapeutisches Ziel aber keinen punktgenauen Effekt in der Behandlung durch Tabletten. Es gibt kein: Entweder tritt dies ein oder jenes; kein: Wir werden dies oder jenes erreichen. Das Ergebnis der Therapie wird erst am Ende der zu verabreichenden Tablettenserie feststellbar sein.“ Und damit wäre er zufrieden und mit seinem Statement fertig und ginge seiner Wege. In der Tat gibt es kein konkretes Ziel, an das Hermann sich im Nachhinein erinnert. Im Moment erinnert er sich nicht an Konkretes. Er könnte und würde auch nichts von dem konkret Gesagten zusammenfassen und benennen wollen. Gedächtnisstreik, jedenfalls in solcher Form oder ähnlicher. Nicht einmal grobe Details hat er sich merken wollen. Hermann ist unter Stressbedingungen nicht zu sonderlichem Ehrgeiz auf Details bereit. Feinheiten parat zu halten und abzuwägen unterliegen einer strategischen Orientierung. Die große Lage muss herausgefiltert werden. Hermann muss die weite Aussicht haben. Details bleiben folglich für Hermann in seiner noch nicht wieder normal geordneten Sinnesverfassung hinsichtlich des Knotens am Hals wenig evident. Erst einmal will er sein Inneres psychisch auf die neue Lebenslage einstimmen, wenn nicht sogar sein tiefstes Inneres mit ihr verbünden. Deshalb hat sich Hermann von einigen Sinnen abgekoppelt. Der neue Zustand strengt ihn an. Ihn interessieren nicht die Jodwerte, nicht die Unter- oder Überfunktion, nicht der TSH-Wert. Das Wachstum des heißen oder des kalten Knotens hat er bisher nicht bemerkt. So kann es jetzt auch unbewertet bleiben, bis Hermann sein konfuses Ist beherrscht und nicht umgekehrt. Nichts ist ihm erklärungswürdig, dass er weder für sich, noch für Außenstehende, noch für Lisa Worte bereithält. Hermann hat auch nichts Abrufbares in seinem Kopf, denn er hat die Erläuterung der Ärztin nicht konzentriert entgegen genommen, sondern hat das Weib, und nur das Weib während ihres kurzen Vortrages mit Männeraugen gesehen. Er hat es angelächelt, Augen und Mund einer Frau hatte er noch nie so angesehen. Hermann war wie ein anderer. Wie ein Unbekannter kam er sich vor, unromantisch, fast ein wenig gehemmt und starr von seiner Überzeugung. Er wollte nicht und er traute sich nicht, dieser in seinen Augen jungen Frau jene fachliche Autorität zuzugestehen, wie er sie dem alten Hausarzt zugestanden hatte. Unter dieser mentalen Schicht sucht Hermann nach den Gründen für seine Geringschätzung. Er sucht von Beginn an, seit die junge Ärztin ihre erklärenden Sätze sagte, und seit seine Gedanken auf dem Weg von der in seiner Leistengegend angestifteten erotischen Verwirrung wieder zurück in die rationale Gegenwart seines Kopfes zur Herstellung seines inneren Gleichgewichtes gewesen waren. Die Aufmerksamkeit auf die fachlichen Worte der Ärztin war dadurch zusätzlich eingeschränkt. Hermann ist in gewissem Sinne, und damit ergänzend zu der Aussage über sein strategisches Denken als Kapitän, Steuermann und Maschinist, intellektuell nicht bei der Sache gewesen und bedarf noch des zeitlichen und räumlichen Abstandes zum Geschehen der vergangenen letzen Stunde. Hermann hat Bilder aus einem Artikel des SPIEGEL vor Augen, die zeigen, wie einem Probanden im unbekannten Gehirnlabor eine Kopfmaske übergezogen ist, aus der lange dünne Kabelstränge zum Messen von Hirnreaktionen heraus hängen und irgendwo dorthin verlegt wurden, wohin das Foto nicht mehr zeigt. Aber aus anderen Artikeln und Aufsätzen über Forschungen am menschlichen Gehirn abgeleitet, hat Hermann eine Vorstellung davon, dass hinter dem Foto eine Apparatur aufgebaut sein muss zum Darstellen der Daten aus den Gehirnreaktionen, die auf mehreren Monitoren dann aufgezeigt, entschlüsselt und bewertet würden. Und auf einem assoziierten Foto erkennt sich Hermann selbst und scherzhaft als ein solcher Proband mit Kopfmaske, angeschraubten Elektroden und Kabelsträngen abgebildet bei dem Versuch, der Aufforderung nachzukommen, die Worte der Ärztin über die Therapie zu wiederholen. Durch Hermanns Schädeldecke hindurch werden in den Kabelsträngen pausenlos Daten befördert von seiner Gehirnarbeit, unter den mit psychischen Befindlichkeiten zugeschütteten Arealen im Kopf die notwendigen Informationen freizuschaufeln, mit denen er den Zweck der Tabletteneinnahme in verständlichen logischen Sätzen artikulieren soll. Auf dem gedachten Monitor entsteht aber nicht mehr als das gewöhnliche Abbild eines Ratespiels. Hermanns Nachsinnen erinnert an eine Quizshow, in der bei szenisch dunkel unterlegten, dämonisch an- und abschwellenden Geräuschkulissen ihm, dem nervösen Kandidaten, die zutreffende Antwort über das Ziel des Tablettenkonsums durch das kinderleichte Ankreuzen von einer der genannten Möglichkeiten entlockt werden soll. A: Wachstum verhindern, B: Überfunktion regulieren, C: Operation ausschließen, D: Ich weiß nicht. Hermann lächelt über seine eigene Unbeholfenheit bei diesem Laborversuch. Er weiß aber aus der Erfahrung, wie nahe diese Unbeholfenheit an der Realität ist, weil die Aufmerksamkeit gebremst wird durch Unwilligkeit genau in dem Körperzustand, in dem er nicht locker sein kann. Und es sind immer Augenblicke von Wichtigkeit, in denen er zuhören sollte, aber nicht zuhören kann. Stattdessen entfernt sich seine Aufmerksamkeit scheinbar vom eigentlichen Gegenstand und Nebensächlichkeiten drängen wie Fremdkörper in sein Wachbewusstsein, assimilieren sich mit seiner Erinnerung, werden für sein Gehirn mehr interessant als die ursprüngliche Sache. So bleiben in Hermann zum Beispiel die Stellung der Füße des Sprechenden, die Farbe seiner Augen oder dessen Mund oder das zuckende Augenlid seines Gegenüber deutlicher in Erinnerung als dessen Worte. Und diese Nebensächlichkeiten spalten ohne Gegenwehr zu erfahren Hermanns Erinnerungen in ein Wichtig und ein Unwichtig auf, was jedem Bewerter die Haare sträuben ließe, würde er davon erfahren. Warum Hermann so asynchron die Situation bei der Ärztin abspeichert, warum er die flüchtigen winzigen Nebensächlichkeiten als primär in sich aufnimmt, und sein lenkendes Bewusstsein in solchen Lebenssekunden damit umorientiert, hat er sich noch niemals erklären können. Etwas steht dem eben gesagten aber doch entgegen, denn Hermann hat von der Information der Ärztin doch nicht ausschließlich geringe Nebensächlichkeiten als wichtig aufgenommen. Er hat etwas Übergeordnetes erfahren. Es ist die versöhnlich wirkende und Aussicht gebende Einschätzung über die Art und Weise des therapeutischen Vorgehens, in der auch Tröstendes liegt. Das Tröstende fließt zu Hermann herüber aus den Adverbien ‚versuchsweise’ und ‚vorübergehend’. Zwei fast flüchtige Zwischenworte der Ärztin heben Hermann in gute Stimmung. Er übersetzt sich den Wortsinn als den Beginn einer mit dem Kauf und der Einnahme der Tabletten beginnenden neuen Lebenszeit, in der er auf seine Gesundheit ab sofort und fortdauernd achten sollte, sogar unbedingt achten muss. Die Anwendung der Tabletten aber wird dabei nur von vorübergehender Dauer sein. Die Tabletten sind nur versuchsweise einzunehmen. Es ist ihm jederzeit möglich, die Einnahme vor der Zeit abzubrechen. Diese Aussicht legt sich Hermann wohltuend über alle anderen erinnerbaren Sätze der Ärztin aus dem Behandlungszimmer. Das Wort ‚versuchsweise’ kann sich Hermann durch den einschränkenden Sinn, der dem Adverbum innewohnt, recht gut und sicher einprägen. Das Wort ‚versuchsweise’ macht eine Sache oder einen Vorgang überschaubar, deutet allerdings auf kein sicheres und noch weniger auf ein garantiert erfolgreiches Ende hin. Wie eben niemand vorher weiß, ob die Tabletteneinnahme sowohl sicher als auch garantiert erfolgreich wird. Das Wort hat aber für Hermann einen Platz in der zuoberst liegenden, griffbereiten Palette seines täglich verwendeten Gedankenvokabulars. Es ist eines von jenen schnell und ohne langes Nachdenken abrufbaren Worten. Hermann benutzt sie wie die häufig aufgerufenen Dateien aus dem Arbeitsspeicher seines Rechners, in denen er sich sofort zurecht findet und ohne Eselsbrücken seine Texte fortschreiben kann, allerdings nicht vorübergehend, sondern dauerhaft. Vorübergehend sollen die Tabletten eingenommen werden. Vorübergehend verweist auf eine Begrenzung hin, aber nicht im Sinne der Therapie, sondern allenfalls bezogen auf die Zeitdauer der Tabletteneinnahme. In der Begrenzung also liegt das Gemeinsame mit dem Wort ‚versuchsweise’. Das Wort ‚vorübergehend’ ist schwierig zu bestimmen wie auch die Zeitdauer schwierig festzulegen ist. ‚Vorübergehend’ ist attributiv gemeint, es ist eine Art Befristung bis zu einem Tag x. Dann ist Schluss, wie bei einem befristeten Arbeitsvertrag. Das Gehalt ist nach der abgelaufenen Frist dann nicht mehr auf dem Konto. Der Kredit muss aber bedient werden. Die Rate wird gestundet. Was danach kommt, weiß keiner. Auch Hermann weiß nicht, ob seine Krankheit befristet ist. Er ist zurzeit nur vorübergehend in Behandlung mit Hilfe von Tabletten. Er ist zurzeit nur vorübergehend krank, so etwa wie vorübergehend geschlossen, ausgerastet oder umnachtet. Vorübergehend ist ein verbaler Behelf, in dem sich die Skepsis eingerichtet hat. Vorübergehend bedeutet das Gegenteil von nachhaltig. Nachhaltig heißt dauerhaft und unbefristet. Unbefristet soll Hermann aber die Tabletten nicht einnehmen, sondern vorübergehend. Das macht ihn unruhig und nur deshalb hat er sich das Wort gemerkt. Es mag aber auch sein, dass die Ärztin dem Hermann, der vor ihr auf dem drehbaren Behandlungsstuhl saß, während ihre weichen Hände seinen Hals befingerten, nicht sagen wollte, eine von den erwünschten Wirkungen der Tabletten wird schon eine Nachhaltige sein. Und sie wird vielleicht dabei Hermanns tiefe Falten im Nacken bemerkt haben. Hermann jedenfalls hätte sie bemerkt, aber das spielt hier keine Rolle. Die Ärztin hat sich auf die Tablettenmedikation festgelegt, konnte und wollte sich Hermann gegenüber aber hinsichtlich der Wirkung nicht eindeutiger festlegen. Was hätte die Ärztin also noch sagen sollen? Den Patienten Hermann hat sie erst zwei Mal gesehen und behandelt. Oder ist es heute das dritte Mal? Hermann weiß es im Moment nicht. Es ist ihm auch egal. Nicht so der Ärztin. Ihr ist Hermann nicht egal, weil sie die Tablettentherapie für ihn verordnet hat, und die soll erfolgreich werden. Eigentlich, wenn sie Zeit zum Nachdenken gehabt hätte, würde sie sich ein wenig gewundert haben über den erlebten merkwürdigen Patienten Hermann, den Unruhigen. Seiner Unruhe aber ist sie ausgewichen, hat sie kaum beachtet, da viele Patienten unruhig sind während der Untersuchung und ihr Puls ansteigt. Sie weiß, die Unruhe entsteht selten aus der Erkrankung selbst. Die Unruhe entsteht aus der Nacktheit des Patienten, aus seinem ungeschützten Zustand vor dem Arzt. Auch Hermann fühlte sich ungeschützt und unsicher. Die Ärztin hingegen musste sicher auftreten, sicher im Tonfall und in der Information. Im Inneren, im Nonverbalen, da besonders, war sie es nicht. Im Inneren sagte sie sich, ich weiß nicht sicher, wie der Patient Hermann auf die Tabletten reagieren wird. Die Tabletten haben Streuwirkung wie das Schrot aus der Flinte. Da gibt es also bestimmt einen Treffer, so oder so. Die Ärztin, die noch so jung ist, konnte nicht anders denken, ihr fehlen die ausreichenden Erfahrungen, um auch innerlich sicher zu sein. Wir werden mal sehen, wird sie lakonisch ihren Gedankengang zu Ende geführt haben. Vielleicht wird Hermanns Schilddrüsenproblem letzten Endes wirklich nur vorübergehend sein. Oder sich zum Krebsgeschwür auswachsen, nachhaltig. Wir wissen, dass Hermann jetzt im Bad hantiert. Zum Folgetermin in der Arztpraxis wird der Sommer vorüber sein, denkt er, und die vielen Uhren in seinem Haus werden dann wieder nach der Winterzeit ticken. Fünfzig Tabletten enthält die Packung, sie wird für hundert Tage reichen. Das ist mehr als ein Vierteljahr. Also steht die Geschichte mit Hermann und seinen Tabletten jetzt ungefähr in der Zeit Juli. Das ist noch Hochsommer. Und was ist an diesem hochsommerlichen Vormittag über die Wirkung und die Dosierung der Tabletten noch alles gesagt worden? Wahrscheinlich ist, und es darf deshalb angenommen werden, dass das über Wirkung und Dosierung noch Gesagte den meisten Patienten zur Genüge bekannt ist. Weil sicher am Ende aller ärztlichen Untersuchungen, bei allen Medikamentenverschreibungen und bei allen Verabreichungen von Tabletten und den Erläuterungen dazu, zumindest in dieser oder in ähnlicher Form, auf der verbalen deutschen Skala zwischen freundlich bis gleichgültig entweder in der ärztlichen Praxis oder vom Fachpersonal der Apotheke gesagt wird: …Vor dem Frühstück…, regelmäßig…, nicht verwechseln…, Nebenwirkungen kaum…, können Sie das selber nachlesen…, bei Beschwerden…, Funktion verbessern…, Zuzahlung leider…, benötigen Sie einen Beleg…, Praxisgebühr erst wieder im neuen Quartal..., und die Chipkarte nicht vergessen... Zusätzliche Ratschläge aus dem Klatsch mit Nachbarn vor der Haustür, auf der Straße, übers Telefon oder per Email wird Hermann nicht einholen und auch nicht erhalten, weil er vor der Haustür über seine körperliche Befindlichkeit ungern spricht und im world wide web fragt er aus Zurückhaltung nicht und niemanden. Er hat die Tablettenpackung lediglich aus der Apotheke geholt, die Zuzahlung per Kreditkarte beglichen, die Packung in die Tasche gesteckt und ist in normalem Schritt ohne Umwege nach Hause gegangen. Hermann redet auch nicht weiter über die Tabletten. Er muss mit ihnen klarkommen. In Hermanns Dasein ist eine Tablette ein vom Normal abweichendes Element. Eine Tablette durchkreuzt seinen von Krankheiten bisher fast unbeschadet verlaufenden Aufenthalt auf dieser Erde. Es ist nicht so gemeint, dass ihm eine Tablette, auch wenn sie halbiert ist, etwas antun würde... Falsch. Sofort korrigiert sich Hermann. Sie tut ihn doch etwas an. Dass er sie einnehmen muss, ist Sein zerstörend. Es ist ihm die Bestätigung dafür, dass nun und inzwischen und aus Gründen der gesundheitlichen Umsicht und Vorsorge, für seine körperliche Erhaltung Hilfe von außen in Form von Tabletten aufgenötigt wird. Etwas in ihm ist out of order, ist der Anfang vom allmählichen Ende. Die Tablettenschachtel zielt genau auf Hermann wie der Lauf einer munitionierten Waffe. Das runde schwarze Mündungsloch ist schussbereit. Die Waffe wird ihn töten oder sie wird ihr Ziel verfehlen. Aber nein, die alte Tante Profalla aus der Kinderzeit ist ja auch nicht an ihrem Kropf gestorben, sondern erst, als sie 81 Jahre alt geworden war. Die Tabletten werden mir sicher helfen, auch so alt zu werden, sagt sich Hermann, auch wenn die Hilfe ungeliebt ist und anteilig in geringer Höhe auch noch von seinem eigenen Geld bezahlt werden muss. Hermann hat in seinem Leben noch nie gern Tabletten eingenommen. Er hat Tabletten gemieden, auch wenn irgendwann in seiner Vergangenheit die Einnahme angeraten war. Er hatte auch bisher keine solche Krankheit in sich gehabt, die Tabletten über eine lange Zeit erforderlich machte. Nun ist es anders und eine Anfechtung ist da. Er sträubt sich. Er will die Wirkung der Tabletten nicht messen. Er will sie nicht erleben und nicht spüren. Ihre Einnahme und ihre Wirkung sollen unmerklich sein.

Hermann T.

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