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Helens »halbes Dutzend Kannen Bier «-Zitat ging völlig unter im Gerumpel der jetzt scharenweise aus der Gaststube treppaufwärts strömenden Leute, denen die Aussicht auf eine turbulente Aufwertung des Kneipenabends ganze Schwärme funkelnder Sterne in die Pupillen gezaubert hatte. Eine ausgesprochen schillernde Gesellschaft, die sich eben anschickte, Treppenhaus und Flur zu bevölkern. Ein Sammelsurium aus den üblichen Trunkenbolden mit entsprechend abgehalfterter, um die Schultern schlackernder Kledage, aus etwas besser gekleideten, allerdings ein strenges Reiseschweiß-Odeur verströmenden Fahrensleuten, die drüben in den Stallungen ihre Rösser über die Nacht brachten, aus aufgekratzten Weibsbildern mit Reibeisenstimme und aus einer Handvoll versprengter Deptforder Bürgersleute, die weiß der liebe Himmel was für Händel hierhin verschlagen haben mochten.

Mitten in diesem Trubel wanderte ein randvoll mit Billigschnaps gefüllter Becher durch die Reihen der heiter krakeelenden Meute, und irgendein Wagenknecht, oder welcher Profession der Mann auch immer gewesen sein mag, hielt seinen Becher hoch und grölte aus vollem Hals: »Güldner Saft für den Rufer in der Wüsten!«

Ich weiß nicht: Kennen Sie das? Also mitten in der Nacht. Sie wachen mitten in der Nacht auf, weil Sie dieser seltsame Traum auf Abwege geführt hat. Obwohl oder grade weil er so verdammt realitätsnah daherkam. Einfach nicht zu unterscheiden von der Wirklichkeit, schon gar nicht mit geschlossenen Augen. Und Sie haben natürlich Angst, die Traumwelt könnte Sie verleiten zu handeln: einfach laufen zu lassen. Immerhin eröffnete Ihnen der Traum den erlösenden Blick stracks ins weiße, erwartungsfrohe Porzellan. So, als stünden Sie breitbeinig davor. Genau davor. Oder – ein paar Jahrhunderte zurück – als säßen sie auf der kippligen, aber dennoch empfangsbereiten Mitternachtsvase. Man muss, verdammt noch mal, auf der Hut sein. Vor allem vor Selbsttäuschungen aller Art. – Also was ist, kennen Sie das?

»Güldner Saft für den Rufer in der Wüsten!«, schallte es ein weiteres Mal durchs Treppenhaus.

»Obacht, Leute, dass ihr mir nicht auch noch die Stiege vollschlabbert.« Die Wirtin reckte ihre matronendicken Arme über Köpfe und Schultern hinweg dem Schnapskelch entgegen und gab ihn schließlich an ihre Bedienstete weiter, nicht ohne die salbungsvollen Worte anzufügen: »Hier, my Lady! Auf ex! Und dann sing! Sing, wie Gott dich in seiner grenzenlosen Güte zu singen gelehrt hat.«

Strahlend kippte ihr altes Mädchen für alles das dargereichte Destillat und lallte zwischen genüsslichem Schlürfen in den Rachenputzerpokal hinein: »Mit frisch geölter Stimme geht’s gleich viel besser: Hier, hier, da – hat den Dolch noch in der Hand gehabt, seh noch, wie er ’n abwischt am Saum von seinem Wams, wie er ’n zurück in’ Gürtel schiebt, und dann ist er hier raus, da, rausgefitscht. Aus dem Staube aus der Stube aus den Augen aus dem Sinn.« Sprach’s und schlenzte mit so weit als irgend möglich ausgefahrener Zunge eine weitere flinke Runde durch den Becher, um nur ja keinen Tropfen zu verschenken.

»Und wohin nun ist dieser Satanshenker geflohen?«, fragte Helen und streckte der Housemaid die unwissend offenen Handflächen entgegen.

»Na weg. Draußen raus. Zum Flurfenster da rausgeflattert. Und seine Spießgesellen gleich mit ihm. Raus in die finstre, finstre, in die regentriefende Nacht.«

»Und dafür mein guter Brandy! Für nichts als diesen schwachsinnigen Wetterbericht«, jammerte Witwe Bull.

Was natürlich keiner mehr zur Kenntnis nahm. Die ganze Meute stob mit wüstem Halali die Stiege runter. Ihr »Hinterher! Haltet den Mörder! Wir kriegen dich, Mordio, du Vieh!« aber verhallte abrupt, als die Haustür hinter dem letzten von diesen rasenden Rächern der Enterbten ins Schloss fiel.

Helen und Kyd verharrten immer noch in lähmender Erschütterung. Während die Housemaid offensichtlich eine zur Seite gewirbelte Scherbe entdeckt hatte, die ihren Bemühungen bislang entgangen war. Sie setzte ein weiteres Mal ihre alten, geschundenen Knochen in Bewegung, ging ächzend in die Knie und angelte mit langen Fingern die halb unter der Flurkommode hervorlugende Bierhumpenscherbe ans Licht, ans schummrige Kerzenlicht. Das Trümmertablett aber balancierte sie derweil mit gradezu furiosem Gleichgewichtssinn – zumal in Anbetracht der Tatsache, dass sie ja grade eben erst eine gehörige Spritportion nachgetankt hatte.

Trinkfest, die Dame, ausgesprochen trinkfest. Jedenfalls platzierte sie also auch diese letzte Beute oben auf ihrem spitzen Splitter-Piz. Wie ’ne Art Gipfelkreuz. – Kyd. Hat Kyd voller Hochachtung für das alte Tantchen erzählt. – Sorry, aber das ist doch keine Verbesserung, sondern eine Ergänzung! Nichts läge mir ferner, als Ihre Gerichtsberichterstatterin, oder wie man die nennen soll, zu korrigieren, wo sie’s nicht verdient hat. Ich steure hier nur bei, was Kyd uns in einer stillen Stunde erzählt hat. Aber bitte, ich kann’s auch lassen. Obwohl, Sie wollten doch, dass ich … okay, ja, nur wenn’s unbedingt nötig ist kommentieren. Kann ich machen. Sicher.

»Durch die Fenster durch die Tür aus den Augen aus dem Sinn«, blubberte sie wieder vor sich hin, »nur der Verseschmied, der bleibt. Mein gottseliger Helfer in der Not seinerzeit. Der ist zu Ende. Ausgeträumt den Vorsommernachtsalbtraum. Der bleibt. Und ich. Mit trockner Kehle. Und unsre verehrte Zapferin. Kann ihre Kaschemme schließlich nicht alleinlassen, nicht dass ihr einer das frisch angeschlagne Fass leer saufen tut.« Um dann, wo sie schon einmal dabei war, Richtung Wirtin hinzuzufügen: »Gute, verehrte Frau Generalfeldmarschall, habt mir ’n spiritreiches Getränkelein ausgeschenkt und hergeschenkt. Der Allmächtige hoch droben wird auf ewig Euer Lohner sein.«

»Dank auch, Dank auch«, gab diese mit beißendem Spott in der Stimme zurück, während sie demonstrativ das Licht im Mordzimmer löschte und Kyd und Helen damit bedeutete, dass eine Totenwache hier oben unerwünscht sei und sie sich in die Gaststube zu begeben hätten, »besten Dank, doch zu viel der Ehre. Und nun lass sie sich nicht weiter aufhalten von versoffnen Dichterfürsten und staubtrocknen Schluckern in regennasser Nacht! Becher, Kübel, Teller stapelweise warten auf euch!«

»Ich weiß, das heilige Abwaschsakrament, weiß ich. Introibo ad altare Dei. Komm ja schon«, nickte die gute Seele, fuhr mit langer Zunge noch einmal durch den Brandybecher und ging tablettschaukelnd der Wege, die ihr gewiesen waren. »Hoc et nunc et hic et hicks. Und seht: Der Fusel ist zu Blut geworden. Hocuspocusvitzlipitzli. Das nämlich ist das Blut Christopheri, des Sprüchekloppers, Versehäkelfritzen, Reimfressers von Lisbeths Gnaden. Und welcher Sänger unter Englands selt’ner Sonne nimmt meiner nun sich an?«

Im Schlepptau dieser ergreifenden Predigt folgten, eine in virtuose Disharmonie gestimmte Prozession abgebend, Widow Bull, Helen und Kyd. Kaum dass sie die rauen, doch rettenden Gestade der Gaststube in Sicht hatten, wurde die Haustür mit einem lauten Knall aufgestoßen und die ganze Mischpoke heißblütiger Verfolger stürmte aus der Nacht wieder herein und marschierte schnurstracks durch Richtung Stiege.

Eine Meute frustrierter Jagdhunde.

Die Housemaid legte eilends den Rückwärtsgang ein, in der Hoffnung, sich in der Nische auf halber Treppe in Sicherheit bringen zu können. Das jedoch erwies sich in der gebotenen Eile als ein allzu turbulentes Manöver, in dessen Vollzug sie natürlich mit ihrem Tablett aneckte, was ihr einen akrobatischen Meisterakt abverlangte, um das Scherbengemüse nicht erneut zu Boden gehen zu lassen.

Plötzlich, die ersten Stufen schon erreicht, blieb die Spitze des Zuges abrupt stehen, nicht ohne die nachfolgenden Eiferer auflaufen zu lassen. Dem schlaksigen Gestell, das die Phalanx der Horde anführte, schien aufgefallen zu sein, dass er die Wirtin, die er doch recht eigentlich im Visier hatte, bereits hinter sich gelassen hatte. Er drehte sich also um und richtete das Wort an die mittlerweile ziemlich blass gewordene Witwe Bull, man bräuchte Lampen, Laternen, Fackeln, alle Instrumente dieser Art, die das Haus zu bieten habe. Draußen sei es stockdunkel.

Ihr wird in den langen Jahren als Wirtin dieses Gasthauses ja so einiges widerfahren sein, aber das hier, dieser satanische Zinnober hier?! Der muss selbst für ihre Verhältnisse jedem Fass den Boden ausgeschlagen haben.

Gut, ich meine, da hätten Sie wahrscheinlich auch ziemlich blass ausgesehen. Kam ja nun wirklich ein bisschen dicke: Zechprellerei, nachmitternächtliche Messerstecherei und jetzt das kollektive Austicken der gesamten Gästeschar. Und das alles auf einmal. – Nein, das hab ich ja bereits ganz zu Anfang gesagt. An diesem ganzen Aufzug war ich nicht im Geringsten beteiligt, hab weder das Drehbuch unterschrieben noch war ich an der Inszenierung beteiligt. Ich war ja nicht mal vor Ort. Und telekommunikationsmäßig ging ja damals noch nicht allzu viel. Mir wurde das Drama nur im Nachhinein zugetragen. Aber auch das hab ich Ihnen ja schon gesagt. Redet man denn hier gegen eine Wand oder was?!

Na, jedenfalls ging der guten alten Bull’schen das ganze Theater gehörig über die Hutschnur. Und das ist ja wohl nur zu verständlich.

Das Einzige, womit Eleanor Bull die Aufforderung des Langen zu quittieren in der Lage war, war ein kaum sichtbares Nicken in Richtung der Housemaid. Als diese sich aber, begriffsstutzig und sattsam abgefüllt wie sie war, keinen Millimeter rührte, hielt Witwe Bull ihre Kerze über die aufgeregt bebenden Köpfe.

Die Housemaid kapierte sofort, was die Wirtin von ihr wollte, eilte die zweite Hälfte der Treppe hinauf und stellte ihr in leiser Vorahnung schepperndes Scherbentablett auf der Flurkommode ab. Nicht ohne anzuecken, versteht sich, aber wieder gelang es ihr, die Balance des Trümmerhaufens zu halten. Sie staunte nicht schlecht über sich selbst, besann sich aber endlich ihres Auftrags, langte vom Flur aus quasi blind mit dem rechten, wie Espenlaub zitternden Arm ins Todeszimmer und angelte vom Sideboard, das sie gleich hinterm Türrahmen wusste, eine Laterne.

Kaum entzündet, riss man sie ihr mit den Worten aus der Hand: »Reicht nicht, eine. Wir brauchen mehr von der Sorte! Mehr Licht!« Worauf sich die zerfahrene Truppe aber trotzdem schon mal wieder Richtung Ausgang bewegte, auf der Schwelle in die finstre Nacht da draußen aber kurz ins Stocken geriet.

Angesichts einer Nacht immerhin, die sich offenbar nicht scheute, noch den übelsten Gesellen ein Versteck zu bieten!

Genau in diesem winzigen Moment betretener Stille stieß, das brennende Schwefelhölzchen noch in der Hand, die arme Frau im Flur oben mit zittriger Stimme hervor: »Heh, ihr Leut, ihr guten Leute, da – da – da seht! Oh, in nomine Domini!!«

Helen aber hatte die Faxen endgültig dicke. »Was hat sie jetzt schon wieder zu vermelden?«, rief sie hinauf.

»Er ist von hinnen!«, kam es heulend und zähneklappernd zurück.

»Wissen wir, Lady Torfkopp«, schaltete sich die Bull’sche ein, die offenbar ihre Fassung zumindest ansatzweise wiedergefunden hatte. Sie bolzte sich jedenfalls energisch durch den Haufen aufgewühlter Gäste. »Wissen wir, altes Mädchen, halt’s Maul jetzt. Noch ’n Schnaps ist nicht drin.«

Und indem sie sich weiter treppauf arbeitete, erstattete die angeschickerte Housemaid weiter lallend Rapport: »Er hat sich geschlichen, davongetan! Nimm dein Bett und wandle! War doch keiner hier, außer diesen zwei Figuren hier«, dabei bedachte sie Helen und Kyd eines flüchtigen Blickes, »und außer Dame Eleanor Bull und meiner Wenigkeit. – Der Leibhaftige muss ihm auf die Sprünge geholfen haben!«

Wie eine schratelnde Ente ihre Jungen zog die Witwe einige Gäste …

… so auch Helen und meinen geschätzten Dichterkollegen …

… in einer Reihe hinter sich her und leuchtete, oben angekommen, mit der Kerze an ihrer schlotternden Bediensteten vorbei ins Mordzimmer, unters Bett, hinter die Schranktür und … und kreischte, dass die Balken erzitterten: »Unsre Lady Torfkopp hat recht! So was von recht.«

Worauf diese wieder in Predigerlaune zu einer salbungsvollen Suada ausholte: »Der Gehörnte muss ihn bei der Hand genommen und von seinem zerwühlten Sterbebett gezerrt haben. Hat die sterbliche Hülle des Reimeschleifers auf die Bein gestellt und sie das Schweben gelehrt. Muss wohl. Und dann: hinaus und raus in den finstren Regen, auf seinem skelettösen Rappen!«

»Das Bett ist leer!«, resümierte die Wirtin, »nur der Fleck noch, der blutige Bierfleck, groß wie die sieben Weltmeere, der ist noch da.«

Während es Kyd nun auf ein Neues volle Breitseite traf. »Christopher!«, heulte er und presste sein nasses Gesicht gegen Helens Schulter, »nicht mal seine Leiche ist uns geblieben.«

Helen zückte ihr Handy und tippte 110 ein. Oder wollte es. Aber, wie immer im entscheidenden Moment: der Akku!

Messerwetzen im Team Shakespeare

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