Читать книгу Lolitas späte Rache - Ulrich Land - Страница 10
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Wyra, 50 Werst südlich von St. Petersburg.
Landsitz der Nabokovs.
Sommer 1911.
Die alte Kiefer unten am Seeufer. Musste vor Jahrzehnten ihre Wurzeln in die Felsritze gebohrt haben. Anfangs nur ein vorsichtiges Abtasten, ein zufälliges Fingern, ein winziges Ausschlagen der Wünschelruten auf der Suche nach frischen Bodensäften. Dann das Verankern der haarfeinen Wurzeln, die in die Tiefe des Felsens wuchsen. Weiter wuchsen. Und mit jedem Millimeter, den sie ins Gestein vordrangen, wurden weiter oben aus den winzigen Kapillarwurzeln Finger, wurden Daumen, wurden Oberarme. Mit ungeheuren Bizepskräften. Drängend, pressend. Und ächzend antwortete der Fels. Wohlwissend, wer hier als Sieger vom Platz gehen würde. Trotzdem kämpfte er, hielt dagegen. Bis er dann irgendwann doch ermüdete. Der Riss vertiefte sich, weitere hauchdünne Wurzeln fassten sofort nach, saugten die Säfte aus dem Fels. Wodurch oben die Oberarme noch mehr anschwollen. Der Fels hielt stand. Noch. Bot Halt. Noch. Selbst wenn sich die Kiefer unter der Knute Boreas’, des eiskalten, brettharten Nordsturms, bog und beugte.
Jetzt im Juli hatten sich am Fuß des Baums Preiselbeersträucher emporgezweigt, blühten und verblühten, wechselten sich ab mit Blaubeer- und Trunkelbeersträuchern, spotteten über die beerenlosen Wollgrasbüschel, die aus der Felsritze ans Licht kümmerten. Unten im wurzelaufgepressten Granitklotz waren Regen und Laub zu einer braunen Brühe verschmolzen, die auch dieser Handvoll zerzauster Wollgrashalme als Lebensborn diente. Und Scharen bunter Schmetterlinge anlockte, die mit ausgebreiteten Flügeln die Farbenpracht der Sommerblüten in den Schatten stellten.
Senator Nabokov und sein zwölfjähriger Sohn hasteten zwischen Kiefern und Seeufer hin und her, sprangen, den Käscher in der angewinkelten Rechten, von Moospelz zu Moospelz, von Grasbüschel zu Felsbuckel zu Wurzelknorz. Bis sich Vater Nabokov völlig außer Atem seinem Sohn in den Weg stellte und ihn mit strahlenden Augen ansah. Nabokov junior machte ein grimmiges Gesicht und versuchte, an seinem Vater vorbeizukommen und die Jagd fortzusetzen. Der Senator jedoch stand zwischen zwei Bäumen, wodurch die Spannweite seiner ausgestreckten Arme noch erheblich vergrößert wurde. Stand dort und schlug nach Pfauenart das vitruvianische Rad. Zur Vollendung der feierlichen Popen-Pose fehlte nur noch das unter den ausgestreckten Armen wallende Messgewand. Er atmete tief ein und holte zu einer seiner, dem kleinen Vladimir wohlbekannten Predigten aus. Ohne allerdings abzuwarten, bis sich sein von der wilden Jagd abgehetzter Atem wieder einigermaßen beruhigt hatte. Untermalt von pfeifendem Hecheln und von Lachanfällen geschüttelt, posaunte er in die Welt hinaus: »Hiermit halten wir in aller Feierlichkeit für die Nachwelt fest, dass Vladimir Vladimirowitsch Nabokov und sein Vater Senator Vladimir Dmitrijewitsch Nabokov, heimgesucht von entzückenden Verzückungen über jede verrirrte Schönheit, die sie bei sonntäglichen entomologischen Erkundungszügen auf Wyras taunassen Schmetterlingsweiden anlocken konnten, und über jedes taumelnde Juwel, das sie von hinnen segeln sahen, dass die Herren Nabokov junior und senior hier an diesem geweihten Ort ihren Odem vor lauter Glück aushauchten. Unter Hügeln von Fliederblüten. Flankiert von einem flatternden …«
»Papa, der Käscher ist kein Weihrauchfass! Und der Wurzelstock keine Predigtkanzel.«
Geschüttelt von einer wüsten Lachsalve hobelte der Senator über den Einwand seines Sohnes hinweg und setzte noch mal an: »Flankiert von einem flatternden Spalier aus Kohlweißlingen und Golddickköpfchen. Und nächtens überschattet von Schwalbenschwanzschwärmen, von Perlmutter- und Satyrnymphchen, von Moorbunt- und Höckereulen, und was der im Mondlicht schillernden Nachtfalter mehr sein mögen. – Gott selbst möge sich der beiden Herren …«
Jetzt aber erhob der kleine Nabokov noch mal seine Stimme und schrillte dazwischen: »Wenn du so laut redest – du vertreibst sie ja! Sieh dir das an! Weidenbohrer und Grüner Birkenspanner, Kopf an Kopf! Traumschön.«
Der Senator grinste seinen vom Jagdfieber vollkommen elektrisierten Sohn an, klatschte plötzlich donnernd in die Hände und fuchtelte – die edle Haltung des vitruvianischen Menschen völlig missachtend – mit allen zur Verfügung stehenden Extremitäten durch die Luft. Sofort erhoben sich ganze Geschwader von Schmetterlingen und taumelten eilends davon ins Dunkel des Kiefernwaldes. Vladimir traten die Tränen vor Wut und Enttäuschung in die Augen, und, um nicht losheulen zu müssen, stieß er »Warum machst du das?« hervor.
»Es gibt Falter, mein Sohn, die muss man fliegen lassen. Um ihre Schönheit zu retten«, grinste der Vater.
»Aber ich wollte sie doch gar nicht fangen. – Nun sag schon! Du hast sie vertrieben, damit ich sie nicht angucken kann … du bist gemein … Warum gönnst du mir diesen wunderbaren Anblick nicht!?«
Vater Nabokov schüttelte sich vor Lachen. Schüttelte sich vor Lachen.