Читать книгу Lolitas späte Rache - Ulrich Land - Страница 16
Оглавление12.
St. Petersburg.
Frühlingserwachen 1916.
Ja, es erfüllte ihn mit Stolz. Aber er war noch jung. Zu jung für sich selbst genügenden Stolz. Er wusste nicht genau warum, und spürte doch, dass er es nicht nur der Frau Mama, auch dem Vater zeigen wollte.
Aber natürlich kam dieser ihm wieder zuvor. Wartete nicht, bis Vladimir sich aufraffen und durchringen würde, sondern bedeutete Salewski, er solle den Sohnemann in den Rauchsalon bestellen. Vladimir folgte Salewski, ohne Widerspruch, ohne Zögern. Ahnte er doch, worum es gehen würde. Und dass es nicht zu seinem Nachteil würde ausgehen können. Er bezog also Stellung am Erkerfenster, das den Blick auf die Straße richtete. Tauwasser sponn einen dichten Vorhang vors Fenster, tropfte polternd von den Regenrinnen der Nachbarhäuser, lieferte den besessen tiriliernden Spatzen und dem hektisch gegen den hohlen Baumstamm drüben tockerenden Specht den rasenden Rhythmus. Kutschen und Fuhrwerke pflügten in schneller Folge durch die baikalseegroßen Pfützen und ließen die Fluten schäumend hinter sich zurückströmen wie das rote Meer nach dem Durchzug der Israeliten.
Vladimir wartete.
Wartete lang.
Der Vater liebte es, Vladimir, indem er ihn Ewigkeiten warten ließ, mürbe zu machen. Und gefügig. Seine Demut an der Reckstange unendlicher Geduld zu schulen. Weshalb er ihn …
Die Tür krächzte auf. Vladimir warf den Kopf herum, streckte den Rücken kerzengrade durch und legte die Hände an die Hosennaht.
Noch auf der Schwelle stehend, ohne ein Wort des Grußes jedoch, schlug Senator Nabokov das Büchlein auf, das er aus der Jackentasche gezogen hatte und nun wie ein Chorsänger mit fast gestreckten Armen in weitem Abstand vor die Brust hielt. Vladimir wünschte sich sehnlichst, dem Vater die Lesebrille reichen zu können, die dieser mit Sicherheit mal wieder verlegt hatte – ob aus Nachlässigkeit oder aus Eitelkeit. Aber Vladimir wagte nicht, sich vom Fleck zu rühren.
Nabokov senior ließ ein paar Buchseiten über die Daumenkuppe sirren, während er fünf, sechs Schritte weiter in den Raum ging. Plötzlich beschleunigte sich sein Schritt, der ihn nun in großen Kreisen über die Bühne führen sollte, zu der der Salon unter seinen Füßen mutierte. Mit nur leicht, doch unüberhörbar pathetischem Unterton deklamierte er Verse aus dem Buch.
Durchs Stundenglas rinnend unaufhaltsam eilende Zeit.
Unsre holde Liebe schon jämmerlichem Tode geweiht!
Nie wird ihr Geheimnis sie, niemals mehr
Ihrer ersten Augenblicke Wunder so sehr
Wieder erahnen, nie wieder lauschen Dem Rascheln, dem Frühlingsregenrauschen,
Der wilden Landschaft Mitgefühl finden
Nie wieder am Fluss unter uralten Linden.
Der Senator blieb stehn, blickte auf, sah seinem Sohn in die hinund herzuckenden Augen. »Das nenn ich Poesie. – Und dergleichen Verse entströmen also der Feder meines Sohnes?!«
»Ich – ich …« Vladimir wusste nicht, wusste nichts mehr.
»Na ja nun, brauchst nicht rot werden«, grinste der Vater, »sich mit siebzehn Jahren gedruckt zu sehn! 68 Gedichte. Da soll einem die Heldenbrust wohl schwellen! – Aber sag mal«, setzte er mit spitz hochgezogenen Augenbrauen und diabolischem Grienen nach, »›Unsre holde Liebe schon jämmerlichem Tode geweiht!‹ Wenn ich fragen darf, wer ist denn die Auserwählte? Mit den feurig pechschwarzen Augen die? Die süße Dunkle, mit der ich dich dieser Tage am Flussufer, unten bei den Linden gesehn habe?«
Jetzt schoss Vladimir erst recht das kochende Blut ins Gesicht. »Du … hast uns gesehn?«
»Wie heißt sie denn, die Glückliche?«
»Tamara«, wisperte Vladimir und zog das Gesicht eines Schuljungen, dem der knallrote Kirschsaft in Strömen aufs Hemd läuft und der bestreitet, auf den Baum geklettert zu sein, auf dem er grade sitzt.
»Tamara, so. Respekt! Mein Sohn hat Geschmack. Das muss man neidlos anerkennen.« Vater Nabokov zog eilends die Speichelbläschen ein, die sich in seinen Mundwinkeln gesammelt hatten und drohten, sich als dünne Fäden abzuseilen. »Schmale Fesseln, biegsame Taille, einen Tropfen Tartaren- oder Tscherkessenblut in den feinen Adern, im zarten Nacken der schwarze, schwere Zopf.«
»Heh heh, das ist meine!«, protestierte der Junge.
»Schon gut, schon gut«, lachte der Senator mit großonkelhafter Gönnermiene, »es will dir ja niemand das süße Nymphchen streitig machen.«
»Nymphchen?«
»Nymphchen. Erstens: weibliche Naturgottheiten, Töchter des Zeus. Zweitens: Larve des Schmetterlings, die bereits Anlagen zu Flügeln besitzt«, spulte Vater Nabokov kantig nach Lexikon-Art ab.
Eines jedenfalls war klar, dachte Vladimir: Salewski hatte Wort gehalten. Kein Sterbenswörtchen über die Betätigungen, bei denen dieser ihn vor fünf Jahren – ja, tatsächlich, war schon fast fünf Jahre her – bei denen Salewski ihn seinerzeit ertappt hatte, bevor sie Pugatschew, stranguliert in den Ketten seines Rosses, gefunden hatten.