Читать книгу Lolitas späte Rache - Ulrich Land - Страница 8
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Montreux, Dachsuite des Palace-Hotels.
Mitte Januar 1991.
Sie schwieg. Und schweigend ging sie die paar Schritte zum Fenster. Nahm sich in ihrer unnachahmlichen, in ihrer unerreichten Impertinenz den Teewagen, der aus gutem Grund, Himmel noch mal, aus sehr gutem Grund direkt neben Véras Sessel postiert war. Zog das Tischchen mit seinen quietschenden, eiernden Rädern irgendwo nach hinten. Richtung Kommode. Véra konnte es nicht sehen – abgeschirmt durch die Rückenlehne ihres Sessels –, nicht sehen, aber hören.
Offenbar am Ziel angekommen, räumte Belinda all die sieben Sachen, die sich in den letzten Tagen dort angesammelt hatten, vom Teewagen und überantwortete sie irgendeiner Ablagefläche, ja, das musste die Kommode sein. Stillschweigend. Auch die Frage, die selbstredend keine Frage war: »Was fällt Ihnen ein?!«, beantwortete sie nicht. Es war nicht zu fassen!
Dann kam diese unmögliche Person mit dem Teewägelchen, das wie ein ausgehungertes Katzenmädchen jaulte, wieder nach vorn geholpert, schob es vorm Fenster ein paarmal vor und zurück, bis sie offenbar die geeignete Position gefunden hatte. Augenscheinlich darauf bedacht, dass Véra nur mit Mühe würde daran vorbeisehen können.
»Sie können doch nicht einfach meine ganzen Utensilien – die brauche ich! – die können Sie doch nicht einfach mir nichts, dir nichts sonstwohin verfrachten! Außerhalb meiner Reichweite.« Véra Jewsejewna schleuderte giftige Blicke in Richtung Belinda. Blicke, die sie ebenso gut hätte nicht schleudern können. Die hinausschossen in den Kosmos, ohne noch das Mindeste auszurichten.
Belinda jedenfalls war mit ihrer Eigenmächtigkeit scheints noch nicht zu Ende. Sie machte sich an diesem Rokokostuhl zu schaffen, der eigentlich Gästen, gebetenen Gästen vorbehalten war. Schob ihn rüber, baute ihn neben dem Teewagen auf, um sich endlich mit einigem Gepolter darauf niederzulassen. Dann kramte sie in der ungestalten Reisetasche, die sie eben neben den Teewagen geknallt hatte. Zerrte mit virtuoser Umständlichkeit, als ginge es ihr in erster Linie darum, Véra auf die Folter zu spannen, ein Seil aus der sofort in sich zusammenfallenden Tasche. Zog, wickelte, zog. Bis der Strick, wie ein überdimensionales, komplett aus den Fugen geratenes Wollgewirr halb auf ihrem Schoß liegend, halb um die Arme geschlungen, aber in ganzer Länge ans Tageslicht gefördert war.
Véra Jewsejewna Nabokov hatte noch nicht ganz aufgegeben, diese Belinda als ein sprach- und sprechbegabtes Wesen zu betrachten. »Was machen Sie da, um Gottes willen? Soll das – soll das ein Häkelstündchen werden?«
Keine Antwort. Natürlich keine Antwort. Oder doch.
»Ruhe ma! Ick muss mir konzentriern.«
Und sofort hüllte sie sich wieder in jenes unerbittliche Schweigen, das sie für den Rest des Nachmittags nicht mehr brechen sollte. Diese Belinda hatte erstaunlich geschickte Finger, dass musste man ihr lassen, befand Véra. Jedenfalls hatte sie binnen kürzester Frist das Hanfseilgewirr so weit aufgelöst, dass sie es nach Seemannsart auf dem Tischchen aufwickeln konnte, um sich nunmehr das Ende des Seils vorzuknöpfen.
Véra fuhr der Schreck in die Glieder, unwillkürlich schob sie den Kopf weiter vor, stellte die entsetzt aufgerissenen Pupillen scharf: eine Schlinge! Grässliche Schlinge. Mit einem dieser sattsam bekannten Knoten. Der sich unter dem Windung für Windung herumgeschlungenen Seilende verbarg, jetzt aber unter Belindas Gefinger Zug um Zug freigelegt wurde. Ein – Véra versuchte, sich das Wort zu verbieten, aber es half ja nichts –, ein Galgenstrick! Ihr stürzte ein kalter Wasserschwall den Rücken hinab.
In ihrem Alter, an ihrem Alterssitz ein Galgenstrick!
Dem Staub nach zu urteilen, der aufstieg und flügge wurde – winzige Lichtgriesel, die in der Wintersonne glitzernd vorm Fenster auf und nieder tanzten –, dem Staub nach zu urteilen, musste das Seil Jahre, Jahrzehnte alt sein.
Eilends nahm Belinda ihre Handarbeit auf. Indem sie sich daranmachte, die Windungen, den Knoten, die Schlinge aufzulösen. Ihre zusammengekniffenen Augenschlitze verrieten, dass sie dergleichen filigrane Arbeiten eigentlich nicht mehr ohne Brille erledigen konnte. Blinzelnd und mit unendlicher Geduld aber friemelte sie das Seilende auf. Faden für Faden, Franse für Franse zerlegte sie den ganzen Strick in seine Einzelteile. Vollzog die Verflechtung der Hanfstränge gewissermaßen in umgekehrter Richtung. Versuchte, die verdrehten, verdrillten Härchen des Seilzopfes auseinanderzuzwirbeln. Versuchte, so weit es irgend ging, bis in die Tiefe der feinsten Zaseln vorzudringen. Eine Prozedur, die sich über Stunden hinzog, den kompletten Kreisbogen überdauerte, den die Wintersonne übers Firmament schlug. Und Belinda schwieg.
Dieses grauenhafte Schweigen als Begleitmusik einer so stumpfsinnigen wie schauerlichen Tätigkeit machte Véras Puls rasen, die ganze Ewigkeit dieses Nachmittags lang. Abschreckend, rätselhaft, angsteinflößend. Irgendwie bedrohlich. Das Einzige, was Véra wenigstens phasenweise beruhigte, war die Tatsache, dass dieses merkwürdige Teufelsweib die Schnur auffädelte, nicht zu einem Strick zusammenflocht. Kaum aber hatte sich Véras Blutdruck wieder ein bisschen gemäßigt, schoss ihr auf ein Neues durch den Kopf, was für eine Art Seil Belinda da zwischen den Fingern hatte. Und der offensichtlich steinharten Verschränkung der Fasern nach zu urteilen, mit der sich die entrückte Fadenzieherin unter Aufbringung einer Engelsgeduld redlich abmühte, der Härte des Seils nach zu urteilen, war es keineswegs jungfräulich. Hatte mit Sicherheit einen Hals geknickt, ein Genick gebrochen, einen Kehlkopf zum Schweigen gebracht. War ein Todesstrick.
Véra warf einen verstohlenen Blick auf die Armbanduhr.
Und prompt, wenige Augenblicke, bevor der Page klopfen und sie zum Abendbrot geleiten würde, raffte diese Hexenwalküre den ganzen Gefledderberg aus zerzupften und zerzausten Hanffäden vom Teewagen, vom Boden, aus ihrem Schoß und stopfte alles mit theatralischem Schwung in die Reisetasche. Und verschwand.