Читать книгу Lolitas späte Rache - Ulrich Land - Страница 6
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Montreux, Schweiz. Dachsuite im Palace-Hotel.
In den ersten Tagen des Jahres 1991.
Sie strahlte eine unglaubliche Stille aus. Versunken, nicht abgesunken. Trotz des plüschigen Sessels mit durchgedrücktem Rücken, mit hochgerecktem Kopf. Mit punktgenau ausgerichteten Augen. Den See im Visier. Sie hatte sich den Sessel vor Urzeiten in ihre Lieblingsposition am Fenster gezogen, ungeachtet der Schrammen, die die Sesselfüße ins uralt-würdige Parkett treiben mochten. Hatte Position bezogen, sich niedergelassen im viel zu weichen Polster, leicht nachgewippt, dann zur Ruhe gekommen. Ihr Gesicht glättete sich, die Stirn ohne jede Falte. In den Lachkerben rund um den Mund glitzerte ein feiner Schweißfilm. Der langsam über den See und die drüben, weit hinterm andern Ufer, emporwachsenden faltigen Schneeberge wandernde Blick. Selbstvergessen.
Am Ufer hatte sich, vor allem im Röhricht, Eis gebildet. Zerbrechliches Milchglas noch, das nicht mal einen Meter vom Ufer weg in einen hauchdünnen Eisfilm auslief, bevor es ins schwarzgrüne Seewasser überging. Jeden Tag, so stellte sie beruhigt fest, wagte sich die Eisfolie ein bisschen weiter auf den See hinaus. Und so war dieser Eishauch geeignet, sie an ihre ferne Heimat zu erinnern. Obwohl sie nunmehr schon dreißig Jahre, davon vierzehn verwitwet, hier oben in der wohltemperierten Dachsuite mit der atemberaubenden Aussicht zubrachte, trug sie der Blick aufs behutsam wachsende Seeeis bis rüber in die geliebte russische Winterwelt. Das knisternde Kaminfeuer, das der eifrige Page in aller Frühe entfacht hatte, und die in der Wärme knackende Kirschholzvertäfelung der Wände taten ein Übriges.
Doch plötzlich – unerklärlich und unerheblich, wie diese Person sich Zutritt verschafft haben konnte –, plötzlich stand, ohne angeklopft zu haben, eine Frau mitten in ihrem Zimmer und sprach sie hinterrücks an: »Frau Nabokov, Véra Nabokov?«
Véra Jewsejewna Nabokov strich ihr silbergraues Haar zurück und antwortete, ohne den See aus den Augen zu lassen, geschweige denn sich aus dem Sessel zu erheben: »Wie wäre es mit einem Wort des Grußes?«
Worauf die Person trotz der Aufforderung verzichtete, seis, weil sie nicht wusste, was sich gehörte, oder weil sie es in diesem Fall auf einen Affront anlegte und die gebotene Höflichkeit bewusst nicht zur Anwendung brachte. Sie zog es stattdessen vor, mit der Tür ins Haus zu fallen: »Tun sich noch erinnern?: 28. März ’22! In Berlin. Een Jahr vor Ihrer Nabokov-Ära. Deshalb nehm ick ma an, Se war’n nich höchstpasönlich selbs’ dabei. Aba de Presse – da muss et ja mächtich jerauscht ham in unsam Balina Blätterwald, wa?«
»Wollen Sie mir nicht verraten, mit wem ich das Vergnügen habe?«, bestand Véra so höflich wie beharrlich auf die, wie sie fand, grundlegendsten Regeln zivilisierter Gesprächseröffnung.
»In ’er Philamonie«, kam es unbeirrt von hinten, »wie wer Ihr’n Schwiejervata abjeknallt hat. Se wer’n sich erinnern.«
Jetzt drehte Vera doch den Kopf, und als sie begriff, dass ihr das nicht half, bog sie ihren Oberkörper so weit aus dem Sessel, dass sie um die Rückenlehne herumschielen und die dreiste Person in der Mitte der Suite in Augenschein nehmen konnte. Wie sie da stand, frech breitbeinig, die Füße gespreizt, als ginge es darum, von möglichst großer Standfläche aus ihre Geschütze abzufeuern. Vielleicht zwanzig, eher dreißig Jahre jünger als sie selbst. Also auch längst nicht mehr die Jüngste. Unverschämt angriffslustige Augen über energisch breiten Backenknochen funkelten sie an. Glasblau, die Augen. Als könnten sie durch einen hindurchblicken, ihre eigene Transparenz in den bohrenden Blick legen.
Véra Nabokov wandte sich eilends ab, ließ den Kopf wieder ins Rückenlehnenpolster sinken und starrte auf den See, das dunkle, beruhigende Trauertuch, ohne irgendetwas zu sehen. Sie kam jedoch nicht umhin zuzuhören. Und was sie zu hören bekam, riss und zerrte an ihr.
»Wie der Kumpel von Ihr’n Schwiejervata – Miljukow hieß der, gloob ick –, wie der ’ne Rede jeschwungen hat üba Russland oda wat«, rief diese Person die Ereignisse des unseligen Abends vor siebzig Jahren wieder auf den Plan. »Un ’er Applaus soll noch jedröhnt haben, da knallts. Aba die Chose jeht in die Hose. Den Miljukow jedenfalls habn se nich umjenietet. Keen bissken. Aber dafür lag Ihr’n Herrn Schwiejerpapa schon uff de Krepierseite! Jott noch ma, mit ’n Dämelsack jepudert, der Blödmann! Wat muss er ooch sofort uffspringn?! Direkt in de Schusslinje rinn, Väterchen Nabokov. Der war doch jenau wie der Miljukow son Oberindiana von diese Zarengegners, diese liberalen, wa?«
»Danke der Belehrung, ich bin durchaus im Bilde über die damaligen politischen Aktivitäten meines Schwiegervaters«, versuchte die alte Nabokov es auf die forsche Tour.
Aber die untersetzte Endsechzigerin ließ sich nicht aus dem Konzept bringen, spulte grinsend ihre Geschichte ab. »Wie unsern Nabokov senior zusammenklappt, padauz de Bühne runta, Ihrer Frau Schwiejermutta direktemang vor de Füße. Un dem Miljukow, um den’s doch eijentlich jing, ma ehrlich, dem hat keener keen Härchen jekrümmt, wa? Und wie dann – wie dann eener von die Attentäters uff de Bühne jesprungn sein soll un soll jroße Töne jespuckt ham. Aba da ham se ’n schon in Schwitzkasten drin. – Na jedenfalls, der Sohn von diesen mausetoten Senator, wa, is een jemeinsamen Bekannten von uns.«
»Wer zum Teufel sind Sie?«
»Belinda, meen Name«, lautete die Antwort, »jedenfalls für Sie: Belinda. Könn wir uns dadruff ein’jen?«
»Und was geht Sie mein verstorbener Mann an?«
»Wat sach ick: Bekannter? – Verwandter!«, drehte Belinda auf.
»Verwandt? Das wird ja immer schöner!«
»Da spricht allet dafür. Meene Olle is sich da absolut sicher. War. War sich sicher.«
»Nun los, reden Sie, mein Gott, Sie machen einen ja völlig verrückt!« Während die alte Nabokov ihren Satz noch verklingen hörte, keimte in ihr das Gefühl, als würde sich Belinda in Bewegung setzen. Sie zwang sich, nicht hinzusehen. Und merkte doch und hörte jetzt auch die näher kommenden Schritte. Bis schließlich die kugelrunde Gestalt wie eine grellbunt gewandete Königin auf kurzen Teckelbeinen in ihr Sichtfeld tänzelte. Plötzlich hatte sie sich ganz vor sie geschoben, stand breitbeinig im Seeblick. Keine Waffe gezückt. Was Véra Nabokov irgendwie wunderte. Keine Waffen, doch Worte. Forscher noch als eben. Tiefer dringend. Starrte einfach. Starrte sie einfach an.
Und grinste ihr frontal ins Gesicht: »Na, rechnen wir ma!: Ick bin jetzt 69, wo ick hier antanze bei Sie; schon bissken wat her, wie mir meene Mudda in der Ehestandslokomotive alleene, muttaseelenalleene durch ’n Wedding jeschoben hat. Also nehm wir ma bloß die ersten zwanzich Jahre. Zwanzich ma zwölfe macht nach olle Adam Riese 240 Monate. Un halten wir uns an die Preise von heute und schraubens or’ntlich bissken runta, sagn wir: dreihundertfuffzig Mark, ach nee, hier sind ja Schweiza Frankens anjesagt, sagn wir – ick weeß den Wechselkurs nich – sagn wir: zweehundertzwanzig pro Monat. Macht 52.800 Schweizer Franken. Oder Dollars? Wollen Se’s in Dollarsse berappen? Amerika liegt Sie vielleicht näher, ick meen, all die Jahre drüben. Mir ooch recht. Wärn det runde 36.000 Dollarsse. Jetzt für mich schon ma. Zuzüglich …«
»Wovon reden Sie?« Véra Jewsejewna Nabokov merkte, wie sich ihr Gesicht in Falten legte, wie sich in den Kerben Pfützen bildeten, wie sich ihr dünnes Haar an die Kopfhaut klebte.
»… zuzüglich, sagn wa: det Doppelte an nich jeleisteten Unterhaltszahlungen für meene Olle, Jott hab se selig. Sind wir bei hunderttausend Dollarsse.« Belinda, das Luder, bekam die ganze Rechnerei ohne Stift und Papier hin. Die Zahlen purzelten nur so aus ihr heraus. Offensichtlich hatte sie das alles schon lange mit sich rumgeschleppt, hin- und hergewälzt, abgewägt und von allen Seiten betrachtet. Sie hatte gerechnet. Im Vorfeld. Hatte sich vorbereitet. Ohne Frage. »Un außerdem wegen den Bestseller: ›Lolita‹, Sie wissen schon«, kartete sie nach, »da muss schon noch ’n ordentliches Sümmchen oben druff als Entschäd’jung, wa? Weil, also ick meene, ohne uns – den hätt Ihr Jötterjatte nie hinjekriegt, den Roman. Ohne uns.«
Belinda warf der alten Dame noch einen Blick vor den Bug, drehte dann ab und rauschte mit geblähten Segeln aus dem Zimmer.
Véra Nabokov war sich sicher, dass dieser ganze Auftritt ein abgekartetes Spiel war. Auch jetzt, dass sie jetzt hier allein saß, völlig aufgewühlt, Jahrzehnte Zurückliegendes wieder hochgespült, dass ihr der Schädel dröhnte, als stünde sie mitten im Maschinenraum eines Ozeanriesen, auch das war glasklar kalkuliert. Zusätzlich befeuert durch diesen steilen Abgang. Mittendrin gewissermaßen. Mitten in der Aufrechnung der Abrechnung. Mitten in der Aufregung.
Und Véra wusste, das Spiel würde seine Fortsetzung finden.
Aber warum um Himmels willen kam diese Belinda mit der uralten Philharmonie-Mord-Geschichte an? Wo sie doch genau wusste, dass sie, Véra, nicht dabei war, dass das Schicksal sie erst ein Jahr später auf den Plan gerufen hatte, dass sie mit dem ganzen Nabokov-Clan und seiner Vor- und Frühgeschichte, mit den Ereignissen des Jahres ’22 nicht das Geringste zu schaffen hatte.
Auch wenn Véra die Antwort nicht wusste, so wusste sie doch: Das würde sich aufklären – schneller, als ihr lieb sein konnte.