Читать книгу An Tagen Des Ewigen Nebels - Ulrich Paul Wenzel - Страница 4
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ОглавлениеOstberlin, DDR, November 1984
Als er am Tor stoppte und seinen Dienstausweis aus dem geöffneten Fenster des Wagens hielt, musterte ihn der Posten des Wachregimentes Feliks Dzierzynski mit demselben misstrauisch prüfenden Blick wie an all den Tagen, an denen er mit dem Auto erschien. Er nickte kurz, während sich die Schranke hob und steuerte den blauen Wartburg auf eine der um diese Zeit vielen freien Parkflächen im Innenhof. Wie die meisten seiner Kollegen wohnte er gerade mal einen Katzensprung vom Ministerium entfernt und benutzte das Auto nur dann, wenn er etwas Besonderes zu erledigen hatte oder flexibel sein musste. Heute war solch ein Tag. Sein letzter Arbeitstag.
Sein Blick wanderte noch einmal auf die Uhr am Armaturenbrett, dann stieg er aus und steuerte mit festen Schritten den grauen Plattenbau am Ende des Hofes an. Fast acht Jahre lang habe ich hier gewirkt, resümierte er mit einem Anflug von Melancholie. Für den Erhalt des Weltfriedens, den Aufbau des ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden, die unerschütterliche Freundschaft zur Sowjetunion. Für all diesen Scheiß, an den er lange Zeit fest geglaubt hatte. Er schüttelte den Kopf, als wäre ihm das ganze Ausmaß dieser Verlogenheit erst an diesem Tag richtig bewusst geworden. Dabei spürte er schon lange die untrüglichen Anzeichen von Zweifel in sich, den Vertrauensverlust. Er hatte mit zunehmender Zeit immer mehr Fragen gehabt, doch das Regime hatte keine oder die falschen Antworten. Es waren vor allem die Widersprüche und Inkonsequenzen des täglichen Lebens, die starren Mechanismen, der Umgang mit den Bürgern, die einmal große Hoffnungen in diesen Staat gesetzt hatten und immer mehr enttäuscht wurden. Die noch lange nach Kriegsende geglaubt hatten, im fortschrittlicheren, menschenwürdigeren Teil Deutschlands zu leben. Die schlussendlich jedoch registrieren mussten, dass den indoktrinierenden Parolen des Partei- und Staatsapparates keine Taten folgten.
Mit diesem Staat hatte auch er ein Übereinkommen gehabt, ihm sich verpflichtet gefühlt. Aus Überzeugung, auf der richtigen Seite zu stehen, verbunden mit der Hoffnung, dass sich irgendwann einmal die Überlegenheit des Sozialismus zeigen und bei den Bürgern ankommen würde.
Ihn fröstelte, als er die Treppe zur dritten Etage hinaufstieg. Auf dem langen, nur schwach beleuchteten Flur, der tagsüber die ganze Vitalität dieser Behörde widerspiegelte, war es still wie auf dem Zentralfriedhof in Friedrichsfelde um Mitternacht. Mit einem nachdenklichen, fast verachtenden Blick streifte er das kleine weiße Schild mit seinem Namen und Dienstrang an der Tür des Raumes 341, das ihn einst mit so viel Stolz erfüllte.
Bis zum Major habe ich es gebracht, resümierte er bitter. Das ist nicht der große Wurf, den er sich einmal erträumt hatte, aber immerhin. Er trat ein und schloss leise die Tür. Nachdem er die Verdunkelungsvorhänge sorgfältig zugezogen hatte, schaltete er die Schreibtischlampe an. Er hatte nie eine persönliche Verbindung zu diesem funktional eingerichteten Büro entwickelt, das von Holzimitat und beige-braun gemusterten Tapeten dominiert wurde. Weder private Bilder noch andere persönliche Gegenstände schmückten diesen Raum, noch nicht einmal eine Pflanze. Es hätte auch nicht mit dem gezwungenen Lächeln des Staatsratsvorsitzenden ins Nirgendwo korrespondiert, das unzählige Amtsräume und HO-Gaststätten des Landes verunstaltete.
Er atmete tief durch. Wenn alles nach Plan läuft, ist hier morgen die Hölle los! Der Supergau im Zentrum der Macht. Der Alte würde rasen. Er stellte sich seinen obersten Dienstherren inmitten der wichtigsten Mitarbeiter vor, wie er mit seiner brachialen Kampfrhetorik das Desaster erklären würde. In diesem Moment spürte er das Unbehagen. Sie werden mich jagen, überlegte er. Bis ans Ende der Welt! Mit Schaudern erinnerte er sich an die Feier vor einigen Monaten in der Kantine. Mielke, merklich angetrunken, rühmte sich noch einmal des kurzen Prozesses, den sie dem armen Werner Teske gemacht hatten. Sein Todesurteil wegen angeblicher Spionage blieb als nachhaltiger Eindruck zurück. Es wüde auch sein Schicksal sein, da war er sich sicher.
Noch in Gedanken setzte er sich ein letztes Mal an seinen Schreibtisch und starrte auf das graue Telefon. Es muss jetzt alles nach Plan laufen, überlegte er, sonst haben sie mich am Arsch und der Alte könnte eine weitere Erfolgsmeldung verkünden. Er nahm den Bleistift, der neben der Schreibtischlampe lag und begann ihn zwischen Daumen und Zeigefinger zu drehen. Dass die Freundschaft mit Alfi, seinem Kollegen, zu Ende gehen würde tat ihm aufrichtig leid. Aber das war das Geschäft, das waren die Mechanismen, auf die er sich nun einmal eingelassen hatte. Sie hatten gut und erfolgreich zusammengearbeitet, unzählige Stunden auch privat miteinander verbracht, aber das zählte jetzt nicht mehr. Er fragte sich, wie Alfi reagieren würde. Alfi war ein harter Hund und dieses Szenario würde ihm mit Sicherheit gar nicht gefallen. Eine spätere Begegnung mit ihm wäre kein Zuckerschlecken geworden, aber dazu sollte es nicht mehr kommen.
Er hatte die Akten im Bodenbereich des Schrankes hinter einer Wand von Ordnern deponiert. Der Bleistift, den er senkrecht zwischen den Stapel mit den Papieren und der Rückwand des Schrankes eingeklemmt hatte, befand sich in seiner ursprünglichen Stellung. Das bedeutete, dass niemand sich an den brisanten Ordnern zu schaffen gemacht hatte. Nach einen Blick auf die Schreibtischuhr, holte er die Minox aus der untersten Schublade heraus und überprüfte den Film. Es waren 48 Seiten, die er in der nächsten Stunde ablichten und anschließend auf Mikrofilmen aus dem Haus transportieren musste. Der Vorschrift, die die Mitnahme von Akten strengstens verbot, wollte er sich nicht ausgerechnet an seinem letzten Arbeitstag widersetzen.
Nachdem er die Schreibtischlampe ein- und anschließend die Raumbeleuchtung ausgeschaltet hatte, begann er mit seiner Arbeit. Er hatte die Akte Igor aufgeschlagen und war gerade dabei, die Minox in Stellung zu bringen, als es an der Tür klopfte. Obwohl er auch mit dem Besuch eines Kollegen rechnen musste, fuhr er zusammen. Hastig ließ er die Minox in der Schreibtischschublade verschwinden. Im selben Moment öffnete sich die Tür und die hünenhafte Gestalt von Bernhard Fuchs tauchte auf.
»Na Genosse Major, so spät noch bei der Arbeit?«, fragte Fuchs mit seiner markanten heiseren Stimme. »Ich habe dich vorhin über den Hof kommen sehen und dachte, ich schau mal rein. Was machst du noch um diese Zeit?«
Bernhard war skrupellos. Ein fanatischer Verfechter des harten Kurses gegen die subversiven Kräfte, zu denen er alle zählte, die nicht bedingungslos hinter dem System standen. Er war erst vor wenigen Monaten aus der Hauptabteilung II in die HVA gewechselt und machte keinen Hehl daraus, dass er das Ende seiner Karriereleiter noch lange nicht erreicht hatte.
»So spät ist es doch noch nicht, Bernhard.« Er zwang sich zu einem gleichgültigen Gesichtsausdruck. »Ich bearbeite nur ein paar Unterlagen. Habe morgen einen wichtigen Termin.«
Fuchs kam näher. Die stahlblauen Augen in seinem aufgeschwemmten, blassen Schweinegesicht, auf dem sich kaum eine Bartstoppel zeigte, sandten eine klirrende Kälte aus. »Und ich dachte, du schaust dir heute Abend den BFC im Fernsehen an. Du guckst doch sonst immer alle Spiele.«
Diesmal nicht, Genosse Fuchs, dachte er grimmig, genau deswegen bin ich jetzt hier. Bei Europapokalspielen des BFC, das wusste er, saßen die meisten Mitarbeiter zu Hause vor den Fernsehgeräten und das Dienstgebäude war weitaus weniger stark bevölkert als an normalen Tagen. Einige Kollegen werden sogar im Jahnsportpark dabei sein und morgen Vormittag mit stolzgeschwellter Brust über den einmaligen Fußballabend an der Seite des Alten berichten. Mielke war Vorsitzender des BFC und ließ es sich nicht nehmen, eine handverlesene Schar enger Mitarbeiter in seine warme Lounge auf der Haupttribüne mit Bier und Bockwurst einzuladen. Lange Zeit hatte er sich gefragt, ob es ein Makel war und die Karriere behindern würde, dass er es nicht auf die Haupttribüne geschafft hatte. Mittlerweile war er froh, niemals diesem Kreis angehört zu haben.
»Das hier ist sehr wichtig, Bernhard. Du weißt doch, man muss auch mal verzichten können.«
Fuchs warf einen Blick auf die geöffnete Akte. Igor alias Heinz Worm war 1979 vom Ministerium für Staatssicherheit mit dem Ausweis des in die DDR übersiedelten und hier im selben Jahr verstorbenen Bundesbürgers Egon Dahms in die Bundesrepublik eingeschleust worden. Er hatte sich zum stellvertretenden Referatsleiter für den Bereich Internationale Kontakte beim Deutschen Gewerkschaftsbund in Frankfurt am Main hochgearbeitet. Eines der teuersten Pferde im Stall. Bis heute jedenfalls.
»Du bist in letzter Zeit auffallend lange hier«, brummte Fuchs, die Augen zu Schlitzen verengt. »Gibt es Probleme?«
Er zuckte zusammen. Die Frage stand wie eine Bedrohung im Raum. Letzte Woche erst hatte Rohloff eine ähnliche Bemerkung gemacht. Hatten sie etwas herausgefunden? Hatte er einen Fehler gemacht? Er spürte kalte Schweißperlen auf seiner Stirn, die Trockenheit im Mund.
»Ach was«, antwortete er lächelnd. »Du weißt doch wie das ist, Bernhard. Es kommen manchmal so viele Dinge auf einmal, sodass man nicht weiß, wo man anfangen soll. Im Augenblick kann ich über Arbeit nicht klagen. Das ist aber kein Problem.«
Fuchs nickte nachdenklich. »Tja, das kenne ich. Bist du morgen beim Sport?«
»Wahrscheinlich nicht, ihr müsst mal ohne mich auskommen. Ach übrigens, Bernhard, meine Stimme hast du am nächsten Dienstag.«
Fuchs schmunzelte gütig. Am Dienstag standen die Wahlen zum ersten Sekretär der Parteiorganisation in der Abteilung an. Fuchs war aussichtsreicher Kandidat, glaubte er zumindest.
»Das freut mich wirklich. Ich wusste, dass ich auf dich zählen kann. Und wie gesagt, anschließend gibt es auch ein paar Runden.«
Er nickte Fuchs lächelnd zu. Saufen war Bernhards Königsdisziplin, da war er unschlagbar.
»Schönen Abend noch«, murmelte Fuchs und verließ den Raum ebenso unvermittelt wie er gekommen war.
Er atmete tief aus. Sein Blick huschte zur sofort Uhr. Er hatte jetzt nicht mehr viel Zeit. In einer halben Stunde musste er aus dem Gebäude sein. Ab 22 Uhr verstärkte das Wachpersonal die Kontrollen im Haus. Auf weitere Besuche und Fragen dieser Art wollte er unbedingt verzichten.
Es war 22:17 Uhr als er mit einem knappen Nicken den Posten passierte, vier Mikrofilme unter dem Beifahrersitz seines Wartburgs.
Am nächsten Morgen
Sein Wecker klingelte pünktlich um 5:30 Uhr. Die halbe Nacht hatte er wach gelegen und unentwegt an den nächsten Tag gedacht. Der entscheidende Tag für seine Familie. Am frühen Morgen erst fand er in den Schlaf und spürte den brummenden Schädel, nachdem er aufgestanden war. Umgehend waren seine Gedanken bei seiner Frau und seiner Tochter, die heute nach Budapest fliegen, um von dort mit dem Zug nach Wien weiterzureisen. So war der Plan, den sie vom Bundesnachrichtendienst entwickelt hatten und dessen finale Version ihm ein Kontaktmann des BND gestern Abend am Rande des Marx-Engels-Platzes übermittelt hatte.
Er duschte ausgiebig und brühte sich anschließend einen starken Kaffee. Während er ein altes Brötchen mit etwas Marmelade bestrich, ging er noch einmal seinen eigenen Tagesablauf durch und überprüfte ein letztes Mal die Reisedokumente. Um kurz nach sechs verließ er mit seiner kleinen Reisetasche, in der er nur Wäsche für maximal drei Tage und Badutensilien hatte, die Wohnung und nahm die U-Bahn zum Bahnhof Lichtenberg, wo der Städteexpress nach Erfurt um 7:32 Uhr abfahren sollte.
Vier Stunden später
Mit fünfzehn Minuten Verspätung fuhr der Zug in den Erfurter Hauptbahnhof ein. Um kurz nach halb elf betrat er die um diese Zeit schon vollkommen verräucherte Bahnhofsgaststätte am Gleis 1, in der unzählige NVA-Angehörige auf ihre Anschlusszüge warteten. Er bestellte sich zwei Bockwürste mit Semmeln und eine Zitronenlimonade und setzte sich an einen der wenigen freien Tische. Durch das verschmutzte, von einer verwaschenen Gardine eingerahmte Fenster hatte er einen guten Blick auf das direkt am Bahnhofsplatz liegende Hotel Erfurter Hof. Wie viele Jahre ist es her, fragte er sich, während er die Wurst in den Senf tauchte, seit sich hier Brandt und Stoph begegneten. Wie die meisten DDR-Bürger, so hatte auch er große Hoffnungen in das Treffen des großen Staatsmannes aus der Bundesrepublik mit dem biederen Aparatschik aus dem Arbeiter- und Bauernstaat gesetzt. Letztendlich wurden sie alle enttäuscht. So wie beim Besuch von Bundeskanzler Schmidt in Güstrow. Es war ein desaströses Bild, dass dieses Staates der Welt präsentierte. Sicherheitskräfte wohin das Auge reichte. Über dreihundert Mitarbeiter waren allein aus Berlin abkommandiert worden. Er hatte sich zum ersten Mal richtig geschämt. Die Wurst schmeckte scheußlich.
Der überfüllte Interzonenzug in Richtung Bebra und Frankfurt am Main verließ Erfurt mit sieben Minuten Verspätung. Er war froh, einen Sitzplatz an der Gangseite des überheizten Abteils bekommen zu haben. Die Luft war zum Schneiden. Ein Rentnerehepaar aus Riesa unterhielt sich angeregt in breitem Sächsisch mit einer jungen Frau, die auf dem Weg zurück nach Hannover war. Die beiden alten Leute wollten ihre Tochter und ihre beiden Enkelkinder in Kaiserslautern besuchen. Ihre erste Reise in den Westen, wie sie aufgeregt erzählten.
Er warf einen flüchtigen Blick in das Neue Deutschland, das er sich auf dem Erfurter Bahnhof gekauft hatte. Demonstrationen gegen die Kernenergie in Westdeutschland. Mit solchen Schlagzeilen versuchten sie das hässliche Bild des kapitalistischen Deutschlands zu zeichnen. Ein Scheißblatt, sagte er sich und quetschte die Zeitung zwischen Abteilwand und Sitz. Er zog ein weiteres Mal die Dokumente aus der Brusttasche seines Jacketts. Den neuen Reisepass, die Aus- und Einreisevisa sowie die Devisenbescheinigung über dreihundert Schweizer Franken, die er mit sich führen musste. Die Luft wurde immer unerträglicher.
Es war eine erste Dienstreise in den nichtsozialistischen Wirtschaftsraum, wie es offiziell hieß. Ein strategisches Treffen mit dem Agenten Herbert Voss in Basel, der unter dem Decknamen Petrus im Bundesamt für Wehrverwaltung in Bonn das Referat Infrastruktur leitete. Er führte den äußerst erfolgreichen Kundschafter seit fast fünf Monaten. Aufgrund seiner Tätigkeit auf hoheitlichem Gebiet, war es Voss untersagt, weder privat noch dienstlich in sozialistische Länder einzureisen. Damit waren die üblichen Führungstreffen in einer der konspirativen Wohnungen oder im Cafè Moskau nicht möglich. Seine Vorgesetzten im Ministerium hatten lange über seinen Antrag zu diesem Treffen beraten, denn er war kein Reisekader ins kapitalistische Ausland. Letztendlich waren es die Brisanz der Informationen sowie das unerwartete Missgeschick eines Kuriers, der auf dem Stuttgarter Flughafen aufflog, die für die Genehmigung ausschlaggebend waren. Und dann musste alles schnell gehen, viel zu schnell für seinen Plan, der noch nicht ausgereift war.
Er schaute auf den Gang, auf dem noch lange nach Abfahrt des Zuges Fahrgäste nach freien Plätzen suchten. Gegen zwanzig Uhr sollte er in Basel eintreffen, sich ein Zimmer im Hotel St. Gotthardt, direkt am SBB-Bahnhof nehmen und beim Frühstück am nächsten Morgen um neun Uhr mit Voss zusammentreffen. Er hustete flach. Dazu sollte es nicht mehr kommen. Nicht einmal nach Basel wollte er. Vielleicht später einmal, ebenso wie nach Paris, London und Amsterdam. Um Zeit zu gewinnen und Voss nicht misstrauisch zu machen, sah sein Plan vor, die Rezeption des Hotels mit der Bitte anzurufen, Voss zu informieren, dass er den Zug in Frankfurt nicht erreicht habe und erst am frühen Nachmittag in der Hotellobby eintreffen würde. So etwas kann bei der Unpünktlichkeit der Reichsbahn schon mal passieren.
Ohne die vorbeiziehende Landschaft wahrzunehmen, blickte er aus dem Fenster. Seine Gedanken waren den ganzen Tag schon bei seiner Frau und seiner Tochter. Immer wieder fragte er sich, wo sie sich gerade befanden. Obwohl er sich sicher war, beide übermorgen in die Arme schließen zu können, der Plan war perfekt, konnte er sich kaum auf sich selbst konzentrieren.
Das ohrenbetäubende Quietschen der Zugbremsen holte ihn aus seinen Gedanken zurück. Direkt vor dem Fenster sah er das Bahnhofsschild Gerstungen. Der letzte Bahnhof in der DDR!
»Gerstungen, Gerstungen!«, plärrte es aus den kleinen Lautsprechern entlang des Bahnsteiges. »Werte Reisende, nach einem Aufenthalt zwecks Passkontrolle durch die Grenzorgane verlassen Sie die Deutsche Demokratische Republik. Wir wünschen eine angenehme Weiterfahrt.«
Es herrschte plötzlich vollkommene Stille im Abteil, nur unterbrochen durch das Rascheln von Papier, als sich die Frau am Fenster ein belegtes Brot aus der Tasche holte. Er transparierte am ganzen Körper. Auf dem Bahnsteig waren das Zuschlagen der Wagentüren und etwas später das Motorengeräusch einer Diesellok zu hören. Er ging auf den Gang und zog das Fenster herunter. Neben dem Bahnhofsgebäude war ein rotes Stoffbanner mit weißer, plakativer Schreibschrift an einer Mauer angebracht: »Von der Sowjetarmee lernen heißt siegen lernen!« Kopfschüttelnd wandte er sich ab und ging zurück ins Abteil. Nach einer guten viertel Stunde wurde die Abteiltür aufgezogen.
»Guten Tag, Grenzkontrolle der DDR. Die Ausweise und Ausreisedokumente bitte.« Ein Grenzbeamter in der graugrünen Uniform der Grenztruppen, höchstens 25 Jahre alt, blickte streng und distanziert in das Abteil. Er spürte wieder die Trockenheit in seinem Mund und hätte in diesem Moment alles für einen Schluck Wasser gegeben. Umgehend dachte an das, was nicht sein durfte: Wenn irgendjemand in Berlin etwas entdeckt hatte, eine Unregelmäßigkeit, nur eine Kleinigkeit, würde sein Name auf einer Liste dieses Grenzers stehen und es wäre das Ende. Schweiß schoss aus allen Poren seines Körpers. Routiniert überprüfte der Grenzer die Papiere der Reisenden und stempelte sie ab. Nein, versuchte er sich zu beruhigen, sie konnten nichts entdeckt haben. Sie hätten mich schon in Berlin festgenommen und nicht so lange gewartet. Als der Grenzbeamte ihn auffordernd ansah, reichte er ihm die Dokumente und trocknete seine feuchten Handflächen auf der Hose.
»Da fehlt etwas«, brummte der Grenzer mit fragendem Gesichtsausdruck. »Die Devisenbescheinigung, ein weißes Formular.«
Er spürte die brennenden Blicke der anderen Fahrgäste auf sich gerichtet. Die war doch vor kurzem noch da. Mit zittrigen Fingern durchsuchte er seine Jackentasche … und atmete auf. Erleichtert zog er das weiße Stück Papier heraus. Der Grenzer nickte und blätterte dann in einer Liste, die er mit sich führte. Nach drei Stempeln reichte er die Dokumente zurück und nickte ein letztes Mal, bevor er das Abteil mit einem formalen Gruß verließ. Als der Zug nach einem lang gezogenen Pfiff der Lokomotive anfuhr atmete er mehrmals tief durch. Ein weiteres Mal verließ das Abteil und zog das Fenster hinunter. Er brauchte Luft. Dunkle Abgaswolken der schweren Diesellok verhüllten die ersten Wagen ein kamen rasch näher. Es hustete und schon das Fenster wieder hoch.