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Dienstag

Alan stand um kurz nach sechs mit einem Strauß Kornblumen und einer Tasche mit Getränken und Kochzutaten vor Hannahs Tür.

»Schön, dass du da bist«, flüsterte sie ihm ins Ohr, nachdem er sie lange Zeit fest umschlungen hielt und ihr erst nach einem nicht enden wollenden Kuss gestattete, etwas zu sagen.

»Du siehst bezaubernd aus, Hannah. Geht es dir etwas besser?«

»Danke. Ich fühle mich ganz okay. Wie findest du meine Haare.«

Alan hatte zu spät bemerkt, dass sie beim Friseur gewesen war und die Haare kürzen ließ.

»Sehr schön. Aber was soll ich sagen, Frauen mit einem ausdrucksvollen Gesicht können jeden Haarschnitt tragen.«

»War das ein Kompliment, Schatz?«

Er nickte lächelnd.

»Dann darfst du reinkommen.«

Hannah schloss für einen Moment die Augen, inhalierte den Geruch der Blumen und ging dann in die Küche um eine Vase zu holen. Sie trug eine weit geschnittene Leinenhose und ein dunkelblaues T-Shirt, dazu blaue Ballerinas. Alan folgte ihr.

»Einen Ouzo?«, fragte Hannah.

»Den lehne ich nicht ab.«

Hannah füllte zwei Gläser mit je einem Drittel des griechischen Anisschnapses und verdünnte sie mit Wasser und Eiswürfeln. »Cheers!«

Sie setzten sich an den alten Bauerntisch, der die kleine, mit allerlei Schnickschnack dekorierte Küche dominierte. Hannah musterte Alan mit einem forschenden Blick.

»Hast du etwas herausbekommen?«

Alan nickte.

»Und?«

»Es war gar nicht so einfach. Einträge im Grundbuchamt kann man nicht beliebig einsehen. Es bedarf eines Antrages und es muss ein handfester Grund vorliegen. Den hatte ich natürlich nicht.«

»Aber du hast trotzdem etwas herausbekommen, oder?«

»Ja, aber leider nicht viel.« Alan nahm einen Schluck und stand auf. »Hat mich aber einhundert Euro gekostet.«

»Du hast sie bestochen?«

Alan hielt den Zeigefinger senkrecht über die gestülpten Lippen.

Hannah sah ihn erschrocken an. »Ich will dich zu nichts drängen. Um Gottes Willen.«

»Nein Hannah. Das ist meine Entscheidung. Ich stehe dazu. Wir müssen nur ein bisschen vorsichtig sein. Über den Dienstweg kann ich nicht gehen. Wenn das herauskommen würde, hätte ich ein richtiges Verfahren am Hals.«

»Das will ich auch. Auf gar keinen Fall. Das Geld bekommst du natürlich von mir wieder.«

Alan verfolgte die unkoordinierten Flugbahnen einer Fliege durch die Küche.

»Lass uns ein bisschen auf den Balkon gehen, Hannah.«

Sie verstand das Zeichen und folgte ihm. Draußen zündete er sich eine Zigarette an. Er inhalierte den ersten Rauch, während er nachdenklich auf die Straße blickte.

»Also, das Haus gehörte bis nach der Wende einem Martin Bähr. 1992 hat Susanne es von diesem Bähr gekauft. Sie ist zumindest als Besitzerin eingetragen und nicht Siegmar.« Alan trank von dem Ouzo, dann zog er an seiner Zigarette. Hannah sah ihn gespannt an.

»Und?«

»Mehr erst einmal nicht«, sagte Alan, während er den Rauch aus der Nase entweichen ließ. »Wir müssen diesen Martin Bähr finden.«

Hannahs Gesichtsausdruck zeigte, dass sie etwas mehr erwartet hatte. Sie sah Alan eindringlich an. »Ich weiß, dass das alles sehr schwierig werden wird, Alan, aber bitte hilf mir jetzt. Es sind die ersten Hinweise auf das Schicksal meiner Eltern!«

Sie zog seinen Kopf behutsam zu sich heran, küsste ihn auf die Wange und lehnte ihren Kopf an sein Gesicht. Alan spürte in diesem Augenblick die Nähe zu Hannah, wie er sie selten zuvor gespürt hatte. Ihre Wärme, die sich auf seinen Körper übertrug, das rhythmische Pochen hinter ihrer Brust und die warme Feuchtigkeit, die sich auf seiner Wange verteilte. Als Alan den Kopf zurückzog, bemerkte er Tränen in ihren Augen.

Hannah hob ihren Kopf und sah Alan gedankenvoll an.

»Vielleicht sollte ich dir noch etwas sagen«, begann sie mit leiser Stimme. »Etwas, das mir ganz wichtig erscheint.« Sie machte eine Pause. »Als wir über meine Vergangenheit geredet haben, habe ich dir nur wenig von mir und meiner Familie erzählt und es tut mir sehr leid, aber diese Vergangenheit wollte ich unbedingt hinter mir lassen und außerdem kannten wir uns noch nicht so gut.« Hannah löst sich von Alan und blickte auf die gegenüberliegende Häuserfront.

»Was ist mit deiner Vergangenheit, Hannah. Erzähl es mir.«

Hannah drehte sich um. Sie setzte sich auf den Stuhl und starrte einige Sekunden auf den Tisch.

»Bis zu meinem zwölften Lebensjahr hatte ich eine ganz normale Kindheit, ich habe sogar sehr schöne Erinnerungen daran. Auch der Aufenthalt in diesem Haus gehörte übrigens dazu. Aber dann kam der Tag, der mein Leben auf Jahre hinweg zerstörte und von diesen schmerzhaften Erfahrungen habe ich mich bis zum heutigen Tag nicht richtig erholt.«

Alan war hinter sie getreten und hatte ihr eine Hand auf die Schulter gelegt. Er wollte etwas sagen.

»Ich versuchte alles zu verdrängen«, fuhr sie fort, »aber es klappte nicht. Schon meine Ehe hatte unter den psychischen Problemen gelitten, die mir letztendlich auch den Verlust meiner Kinder beschert hatten. Als ich dich kennenlernte, glaubte ich, dass ich mich stabilisieren würde und ich fühlte mich wohl. Bis zum letzten Wochenende.«

Als Hannah zu ihm aufsah, registrierte Alan die schmalen Tränenrinnsale, die an ihren Wangen hinunterliefen.

»Ich habe dir erzählt, dass meine Eltern in der DDR bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen sind«, sagte Hannah mit brüchiger Stimme. »Das ist nicht wahr, denn in Wirklichkeit weiß ich nichts über ihren Verbleib. Ich habe all den Menschen, denen ich nicht ausweichen konnte oder wollte erzählt, dass meine Eltern tot sind, um mich vor den schmerzlichen Erinnerungen zu schützen. Ich habe den Tod meiner Eltern mittlerweile als feststehende Tatsache für mich übernommen und wenn ich ehrlich bin, kann ich kaum glauben, sie lebend wiederzusehen.«

Alan ging vor Hannah in die Hocke und legte seine Arme um ihren Nacken. Dann presste er sanft seine Stirn an die ihre.

»Ich habe einen großen Teil der letzten zwanzig Jahre damit verbracht, das Schicksal meiner Eltern herauszufinden«, fuhr Hannah mit aufgelöster Stimme fort, »ich war bei den Behörden in Berlin und überall und nirgends, aber ich erfuhr nichts. Niemand konnte mir sagen, wo ich meine Eltern finden würde und ob sie noch am Leben waren. «

» Wann und wo hast du sie das letzte Mal gesehen?«

Ostberlin, DDR 1984

Vera Adling hielt die Kaffeetasche mit beiden Händen umklammert und blickte angespannt durch das kleine Küchenfenster auf die zu dieser frühen Zeit noch dunkle Häuserfront der gegenüberliegenden Straßenseite. Im dritten Stock des grauen Plattenbaus verfolgte sie die Geschäftigkeit eines Mann im Unterhemd, der sich in der Küche sein Frühstück zubereitete. Frühschicht, dachte sie, die Republik ist immer früh auf den Beinen. Seit Tagen hatte sie schlecht geschlafen und in dieser Nacht überhaupt kein Auge zubekommen. Mehrmals musste sie das Bett verlassen, um etwas zu trinken oder die Toilette zu benutzen. Gedanken über Gedanken waren ihr in Sekundenabständen durch den Kopf geschossen, während sie auf dem Rücken liegend zur dunklen Decke empor gestarrt hatte. Morgen entscheidet sich unser Leben. Immer wieder hatte sie das Gesicht ihrer Tochter gestreichelt, die neben ihr sanft geschlafen hatte. Am Abend war sie bei Renate gewesen, ihrer Arbeitskollegin aus der Charitè. Auf ein letztes Glas Rotwein und ein paar aufmunternde Worte ihrer einzigen Freundin, die völlig überrascht gewesen war und natürlich mit allen Mitteln versucht hatte, sie von ihrem Entschluss abzubringen. Nein Rena, hatte sie freundlich aber bestimmt geantwortet, mein Entschluss steht so fest wie eine hundertjährige Eiche. Am Ende hatte Renate sie lange umarmt und ihr alles Gute gewünscht, verbunden mit der Hoffnung, sie bald einmal wieder zu sehen. Vera musste es fest versprechen und fragte sich, ob sie dieses Versprechen jemals wird einhalten.

Vera schaute auf ihre Uhr. 6:13 Uhr. Es war noch genügend Zeit. Sie ging ins Schlafzimmer, wo Hannah weiterhin friedlich schlief. Vorsichtig weckte sie ihre Tochter mit einem sanften Kuss und gab ihr die Kleidungsstücke, die sie am Abend zurechtgelegt hatte. Nach ein paar Minuten kam Hannah gähnend in die Küche.

»Hier ist dein Frühstück, Mäuschen, Kakao und ein Honigbrot.«

Hannah setzte sich stumm an den Tisch und begann in dem Kakao zu rühren.

»Hast du keinen Hunger?«

Hannah schüttelte nur den Kopf und gähnte.

»Du musst aber etwas essen, Mäuschen, denn du gehst heute nicht in die Schule. Wir verreisen.«

Hannah war plötzlich hellwach.

»Wir verreisen? … Fahren wir zu Tante Margarete?«

»Nein, du weißt doch, wir wollen dich in einer Spezialklinik in Budapest untersuchen lassen. Papa ist schon da. Ich habe mit Frau Petzold alles geregelt, in drei Tagen sind wir wieder zurück.«

Vera wandte sich von ihrer Tochter ab um. Jetzt bloß nicht noch weitere Einzelheiten mit dem Kind besprechen. Sie hatten sie darauf vorbereitet, ihr gesagt, dass eine Untersuchung notwendig sein würde. Hannah hatte sie nur ungläubig angeschaut, es dann aber verdrängt. Vera war sich die ganz Zeit daüber im Klaren, dass die Aktion in der Ferienzeit wesentlich einfacher und ohne Aufsehen durchzuführen gewesen wäre, aber Rolfs Mission kam unvorhergesehen und jetzt musste alles sehr schnell gehen.

Rolf hatte den Plan des Bundesnachrichtendienstes und die unzähligen Dokumente, die sie fast erschlagen hätte, erst vor zwei Tagen erhalten. Sie waren alles in Ruhe noch einmal durchgegangen, die Flugtickets von Schönefeld nach Budapest, inklusive der hoffentlich nicht benötigten Rückflüge, Hannahs Krankenakten, Überweisungsverfügungen des Krankenhauses, die Reiseanlage der Volkspolizei, die Visa der Ungarischen VR und die Aufnahmebescheinigung der Budapester Klinik. Alles waren, wie sie fand, gelungene Fälschungen. Vera schaute auf die Küchenuhr. In diesem Augenblick, dass wusste sie und daran hatte sie auch die ganze Nacht über gedacht, war Rolf auf dem Weg zum Bahnhof Lichtenberg.

Als Vera und ihre Tochter die S-Bahn am DDR-Zentralflughafen verließen, schnitt ihnen ein eisiger Wind ins Gesicht. Vera schlug den Kragen ihres Mantels hoch und achte darauf, dass Hannahs Mütze vollständig die Ohren bedeckte. Es war 7:22 Uhr. Genug Zeit, der Flug sollte um 9:17 starten. Sie gingen durch den Tunnel und mussten anschließend den langen Weg zum Abfertigungsgebäude des Flughafens nehmen. Es war Rushhour und unzählige Autos waren zum Flughafen oder zu den nahegelegenen Industriebetrieben unterwegs. Vor dem Abfertigungsgebäude standen Taxen und Busse, Menschen kamen mit Gepäck aus dem Gebäude oder eilten hinein. Vera fragte sich, ob sie alles finden würde. Sie war ja noch nie auf einem Flughafen gewesen. Diese erste Flugreise könnte die wichtigste ihres Lebens sein.

Nachdem sie das Gebäude betreten hatten, suchte Vera den Abfertigungsschalter der Interflug. Ihre latente Nervosität, die sie die ganze Woche hindurch in sich getragen hatte, stieg jetzt ins Unermessliche an. Die Menschenschlange war unüberschaubar. Sie stellten sich an und konnten nach einer halben Stunde die Reisetasche auf das Gepäckband legen. Die Interflug-Mitarbeiterin war freundlich und wünschte eine gute Reise, nachdem sie Vera die Ausweise, Flugtickets und die Bordkarten zurückgegeben hatte und ihnen den Weg zur Passkontrolle wies.

Vera warf einen letzten wehmütigen Blick durch die getönten Fenster des Gebäudes nach draußen, ein letzter Blick auf ihre Heimat, die sie lieber unter anderen Umständen verlassen hätte und die sie, auch das war ihr noch einmal schmerzlich bewusst geworden, nie wieder sehen würde. Dann nahm sie Hannah an die Hand und ging zur Passkontrolle. Sie spürte ihr rasendes Herz.

»Sie reisen also in die Ungarische VR um ihre Tochter operieren zu lassen?«, fragte der Grenzbeamte fast beiläufig, während er mit ernstem Gesichtsausdruck die Reisedokumente sichtete. »Ist das denn bei uns nicht möglich? Wir haben doch gute Polikliniken und Ärzte.«

»Nein«, antwortete Vera knapp und umklammerte Hannahs Hand. »Es ist eine Spezialklinik in Budapest. Die Ärzte haben uns dorthin überwiesen.« Lass es vorübergehen, flehte sie innerlich. Gib uns die Dokumente zurück.

»Sie bleiben eine Woche, ja?« Der Grenzbeamte stempelte mit einem lauten Klacken zwei Dokumente.

»Falls keine Komplikationen auftreten. Ich hoffe, dass wir in einer Woche zurück sind.«

Vera registrierte, wie der Blick des Grenzbeamten auf einem seitlich rechts von ihm gelegenen Punkt verweilte. Sie spürte in diesem Augenblick eine unerträgliche Hitze, die sich rasend in ihrem Köper ausbreitete. Mach schon! Nach einer gefühlten Ewigkeit reichte der Grenzbeamte die Dokumente über den Tresen zurück.

Gott sei Dank, dachte Vera erleichtert. Und jetzt zum Flugzeug!

Der Grenzbeamte drückte den Türöffner. Die Tür sprang auf, als Vera dagegen drückte. Vera schob Hannah durch die Tür, während sie noch einmal die Dokumente sichtete. Die Pässe! Wo sind die Pässe? Sie wollte zurück, als sie die schneidende Stimme des Grenzbeamten traf.

»Würden Sie sich bitte mit ihrer Tochter zu der Tür rechts begeben, Frau Adling, wir haben noch ein paar Fragen zur Klärung eines Sachverhaltes.«

Vera erschrak. Sie spürte, wie ihre Knie nachzugeben drohten. Mit aschfahlem Gesicht ging sie, die Hand ihrer Tochter fest umklammert, in die angewiesene Richtung, wo sie von einem weiteren Grenzbeamten erwartet wurde.

An Tagen Des Ewigen Nebels

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