Читать книгу Wie frei wir sind, ist unsere Sache - Ulrich Pothast - Страница 13
1. Auch wenn wir den »festen Willen« haben, etwas Bestimmtes zu tun, kann sich bis zum letzten Augenblick alles ändern
ОглавлениеLew Tolstoi erzählt in Krieg und Frieden eine Episode aus Napoleons Russlandfeldzug. Nach der Niederlage bei Austerlitz und weiteren Feindseligkeiten hatte der junge Zar Alexander I. mit dem Frieden von Tilsit eine Kehrtwende vollzogen und das russisch-französische Bündnis erneuert. Eine sehr freundschaftliche Begegnung Alexanders mit Napoleon wird im Roman ausführlich beschrieben. Dennoch kam im Juni 1812 die Nachricht, dass Napoleon mit einer riesigen Streitmacht die Memel überschritten und russisches Gebiet betreten habe. Damit drohte für Russland ein großer, potentiell katastrophaler Krieg. Der junge Alexander war durch Napoleons Treubruch aufs äußerste erbittert. Nach Tolstoi sprach er die Worte: »Ich werde mich erst dann zufriedengeben, wenn nicht ein einziger bewaffneter Feind mehr in meinem Lande zurückgeblieben ist.«1 Der Erzähler betont, dass dieser Satz dem Zaren sehr gefiel und vollständig seine Empfindung wiedergab. Unverzüglich ließ der Zar einen Brief an Napoleon schreiben, in dem er dessen Vorwände für den Angriff zurückwies und noch einmal seinen Friedenswillen betonte. Den relevanten Satz ließ er in den Text nicht aufnehmen. Denn er fürchtete, dass dieser Ausdruck seiner ganzen Entschlossenheit den letzten brieflichen Versuch zum Erhalt des Friedens belasten könne. Er beauftragte jedoch seinen Generaladjutanten Balaschow, in Napoleons Lager zu reisen, den Brief dem französischen Kaiser persönlich zu übergeben und dabei wörtlich jenen Satz zu übermitteln, der im schriftlichen Text weggelassen war.
Die Franzosen hielten den General Balaschow zunächst mehrere Tage hin, bis er von Napoleon empfangen wurde. Der müde, von Bonapartes Anblick etwas eingeschüchterte, vom anfangs freundlichen Tonfall des mächtigen Mannes zusätzlich überrumpelte General übergab den Brief und trug Argumente vor, die den russischen Friedenswillen zeigen sollten. Über seinen mündlichen Auftrag berichtet der Erzähler, dass Balaschow die zu überbringenden Worte des Zaren wörtlich im Gedächtnis hatte und an den Befehl des Zaren dachte, »doch ein verworrenes Gefühl hielt ihn zurück. Er konnte diese Worte nicht sagen, obgleich er es doch wollte.«2 Schließlich brachte er einen anderen Satz hervor, der nur Napoleons Rückzug hinter die Memel verlangte, aber die unbedingte Entschlossenheit des Zaren, keinen Kompromiss zu schließen, nicht angemessen wiedergab.
Tolstois Darstellung lässt keinen Zweifel daran, dass Balaschow vor der Begegnung mit Napoleon durchaus willens war, den Satz des Zaren befehlsgemäß zu überbringen. Jedoch konnte er es nicht. Balaschow wurde im entscheidenden Augenblick von einem unklaren Impuls, eben jenem »verworrenen Gefühl« beeinflusst und gehemmt. Er »wollte« zwar seine Pflicht tun, heißt es. Aber dieses »Wollen« war im entscheidenden Augenblick höchstens noch eine blasse Regung, es löste keine Handlung aus, es wurde nicht handlungswirksam, wie wir in der Philosophie sagen. Zu diesem Zeitpunkt war es daher kein Wollen im typischen, philosophisch eingebürgerten Sinn mehr, sondern nur noch etwas wie Sich-verpflichtet-Fühlen, Für-besser-Halten oder ähnlich. Stattdessen müssen wir den Text so deuten, dass in eben diesem Augenblick, als die Pflichterfüllung gefordert war, unter dem Einfluss jenes »verworrenen Gefühls« sich quasi im Spalt einer Sekunde ein schwächeres Wollen bildete. Dieses löste wirklich eine Handlung aus, nämlich dass der General einen milderen Satz sprach, als ihm aufgetragen war. Bonaparte erfuhr nichts von Alexanders fester Entschlossenheit, ließ gegen Balaschow noch eine Flut bramarbasierender Tiraden los, und seine Armee marschierte weiter – zur Verwüstung weiter Teile Russlands und in ihren eigenen Untergang.
Handeln aufgrund eines kurzfristigen eigenen Wollens, das die Person in langfristiger Perspektive und zu anderen Zeitpunkten selbst für falsch erachtet und missbilligt, findet sich allgegenwärtig und alltäglich. Es ist uns allen aus der Beobachtung unserer selbst wie auch anderer vertraut. Wir sprechen davon, dass viele Menschen dazu neigen, aufgrund temporärer Impulse zu handeln, welches Handeln dann später oft bereut wird. Wir sprechen auch von größerer oder geringerer Impulsanfälligkeit einzelner Personen. In der Psychologie wird darüber diskutiert unter dem Stichwort »impulsivity«3, in der Philosophie wird der Problemkreis seit den Griechen als »akrasia« alias »Unbeherrschtheit« (auch unrichtig »Willensschwäche«) abgehandelt.4 Dass es die Versuchung zum Tun des Falschen gibt und dass Menschen ihr häufig erliegen, gehört zu den elementaren Erfahrungen, die Personen mit ihrem Wollen und Tun machen können. Die Berichte darüber beginnen mit der Geschichte von Adam und Eva. Auch die griechische Epik und Dramatik sind voll von Beispielen dafür, und die griechische Philosophie hat sich des Themas früh angenommen. Es findet sich auch früh in anderen großen Schriftkulturen.
Der seinen temporären Impulsen ausgelieferte Mensch ist in dem Sinn unfrei, der anfangs dargestellt wurde: Er bringt es unter dem Einfluss solcher Impulse nicht zustande, seinen bei ruhiger Überlegung für richtig und bindend erachteten Handlungs-Leitlinien zu folgen. Vielmehr ereignet es sich, dass er von Zuständen der Furcht, der Nachgiebigkeit gegenüber den Erwartungen anderer, der Eitelkeit, eigenen Begierden, dem Wunsch nach Geld, oder irgendeinem anderen Impuls hingerissen wird. Der Mensch möchte wohl gern von dieser Anfälligkeit frei werden; aber insbesondere in den stark ausgeprägten Fällen müssen wir sagen, »er schafft es einfach nicht«, »er fällt immer wieder um«, er ist gar »wie ein Blatt im Wind«. Er bleibt oft zu seinem eigenen Leidwesen in dem anfälligen, durchaus als »unfrei« zu bezeichnenden Zustand, in dem wir ihn kennengelernt haben. Die Unfreiheit aus dem Unvermögen, zeitweiligen Anreizen zu widerstehen, die sich durchaus als kurzfristiges Wollen der Person selbst geltend machen, scheint mir die folgenreichste Form von Unfreiheit unter Menschen zu sein. Überwiegendes, kurzsichtiges Impulshandeln ist als »die niedrigste Form moralischen Lebens« beschrieben worden.5 Es ist nicht die sozial oft auch geschätzte Eigenschaft der Impulsivität im Sinn von Direktheit, Offenheit, Spontaneität, um die es hier geht, sondern vielmehr Impuls-Anfälligkeit. Eine impulsanfällige Person ist tendenziell unfähig, Handlungsanreize, die nicht zu ihrer vorher in eigener Überlegung entworfenen Handlungslinie passen, abzuweisen. Impulsanfällige Personen neigen dazu, sich solche Anreize kurzfristig zu eigen zu machen. Sie handeln dann im entscheidenden Moment der Form nach aus eigenem Antrieb. Allerdings ist dies oft ein Handeln, das die impulsanfällige Person in übergreifender Betrachtung außerhalb des entscheidenden Zeitfensters nicht für richtig halten kann und diese Handlungsweise auch nicht dauerhaft als ihr zu eigen haben will. Die zerstörerischen Wirkungen von Impulsanfälligkeit finden sich nicht nur kurzzeitig im Alltag. Sie können auch, wie bei dem Arzt Lydgate, Folgen für das Gelingen oder Misslingen ganzer Lebensläufe haben. Vergleichbares gilt – zwar nicht ausschließlich, aber doch häufig – auch für das gesellschaftlich und rechtlich relevante Abgleiten in Kriminalität und das Verharren in ihr.
Personeigene Freiheit zeigt sich in konkreten Situationen des Lebens als Freiheit gegenüber dem Druck temporärer Impulse und Freiheit zu den Handlungsweisen, die die Person bei situationsunabhängiger Überlegung von sich her billigt und als eigene Handlungsweisen will. Da absichtsvolles Unterlassen auch als Handeln gelten kann, ist solches Unterlassen überall da, wo hier von »Handeln« gesprochen wird, mit einbegriffen. Ja, mögliches Unterlassen und Nicht-Unterlassen-Können spielen im Kontext rechtlich relevanter Verfehlungen bis hin zur Kriminalität sogar eine vorrangige Rolle. Beides, frei wie unfrei im jetzigen Verständnis, sind wir nicht dauerhaft und für alle Zeit voraussagbar. Vielmehr sind wir beides immer mit einem unbestimmten Grad von Veränderlichkeit, der sich negativ wie positiv jederzeit bemerkbar machen kann.
Der General Balaschow besaß vor Napoleon sehr wohl die oft beschworene Freiheit des Handelns. Nichts in Tolstois Darstellung lässt darauf schließen, dass es äußere Umstände gab, die ihn am Ausführen seines Befehls gehindert hätten. Trotzdem heißt es, »Er konnte diese Worte nicht sagen«. Er besaß in diesem Augenblick nicht die personeigene Freiheit, die nötig gewesen wäre, um sich über das erwähnte »Gefühl« hinwegzusetzen und seine Pflicht zu tun. Stattdessen macht er von seiner Freiheit des Handelns eben den Gebrauch, der in ihrem Begriff liegt: Er tat, was er genau in diesem Augenblick tun wollte. Das heißt, er tat, was ein momentanes, in einem Sekundenbruchteil entstandenes, quasi feigeres Wollen gerade jetzt wollte, und sprach den schwächeren Satz. Wir können als sicher annehmen, dass sich der General über dieses momentane Wollen nicht schon zum gleichen Zeitpunkt Klarheit verschaffte. Tolstois Schilderung klingt, als überlegte Balaschow gar nicht, sondern handelte, das heißt sprach – nur sprach er das Falsche. Jenes »feigere« Wollen war trotz fehlender Überlegung gewiss ein Wollen. Denn es erlangte Wirksamkeit im Handeln, das heißt im Sprechen des Generals, und der General ist dafür Rechenschaft schuldig. Handlungswirksamkeit, alias Handlungseffizienz, ist das unterscheidende Merkmal des Wollens gegenüber bloßem Lieber-Mögen, Phantasieren, Sich-Erträumen und so fort.
Wie wichtig, ja wie unendlich kostbar die Freiheit des Handelns als Nicht-Gezwungenwerden für Menschen auch sein mag: Sie erscheint ebenso trivial wie nutzlos, wenn ein Handelnder temporär auftretenden Impulsen verschiedener Art, die er im Prinzip selbst missbilligt, nicht widerstehen kann. Solche Impulse müssen nicht als Zwänge äußerer oder innerer Art erlebt werden. Vielmehr machen sie sich zu dem Zeitpunkt, zu dem die Person von ihnen bedrängt wird, als eigene Wünsche oder sonstige Antriebe der Person selbst geltend. Sie treten gerade nicht notwendig als personfremde, eine Handlung erzwingende oder verhindernde Faktoren auf. Vielmehr treten sie auf als zeitweiliges, von der Person oft gar nicht als bloß zeitweilig erkanntes, durchaus ihr zugehöriges Hinstreben zu bestimmten Handlungen. Bildet sich dann ein Wollen im Sinn dieses Hinstrebens, so tut die Person, was sie kurzfristig will, zeigt also Freiheit des Handelns. Und doch kann es sein, dass sie dieses Tun als einen Fall von Unfreiheit ansieht, wenn der temporäre Druck nachgelassen hat und sie in Ruhe über sich nachdenken kann. Die personeigene Freiheit dieses Menschen war nicht hinreichend stark, um in der konkreten Situation die Handlungslinie durchzuhalten, die er sich bei beruhigter Überlegung, unbedrängt vom Druck und Zug solcher Lebenslagen, zurechtgelegt hat.
Das Auftreten impulsiver Regungen ist dabei nicht als Eingriff fremder Mächte in die personale Existenz zu verstehen, sondern ereignet sich als Konflikt in der Person selbst. Die Annahme, dass Personen allein von plötzlich auftretenden äußeren Motiven, die z. B. als Reize auf sie einwirken, zum Handeln gebracht werden, ist irreführend und in der Regel falsch. Menschen nehmen jeden Tag unabsehbar viele äußere Gegebenheiten wahr, die im Prinzip geeignet wären, einen Anreiz zum Handeln zu liefern. Das menschliche Leben, besonders in seiner modernen Gestalt, ist dem ständigen Herumgehen in einem Kaufhaus ähnlich. Die Menge möglicher Gegenstände, die dort zum Kauf reizen könnten, ist riesig, aber nur wenige davon üben auf die Person tatsächlich einen Kaufreiz aus. Welche Gegenstände das sind, hängt nicht primär von diesen Gegenständen ab. Es hängt ab von den Interessen und Neigungen der Person, die die Gegenstände wahrnimmt. Durch diese Interessen und Neigungen erst entsteht eine Auswahl unter den zu kaufenden Dingen, und erst dadurch, dass ein Ding in diese Auswahl gelangt, wird es zum potentiellen Gegenstand persönlichen Begehrens. So verhält es sich mit allen Dingen, Personen, sonstigen Gegebenheiten, denen ein Mensch begegnet. Damit äußerlich Wahrgenommenes in der Person zu einem Anreiz wird, der einen Konflikt auslöst zwischen den Handlungslinien ihrer personeigenen Freiheit und dem Gedanken einer Abweichung davon, braucht es eine Vorbedingung: Durch die Neigungen, Interessen, verborgenen Sehnsüchte der Person muss jenes Wahrgenommene überhaupt erst zum möglichen Anlass oder Objekt eines personalen Wunsches geworden sein. Worauf sich dieser Wunsch dann genau richtet, ist sekundär. Die entscheidende Voraussetzung für einen »Einfluss« von außen nach innen ist, dass etwas äußerlich Wahrgenommenes eine schon in der Person angelegte Handlungs- oder Lebenstendenz positiv oder negativ angeregt hat, so dass sich ein Wunsch dieser Person ausbilden konnte. Erst wenn in der Person etwas entstanden ist wie Begehren (oder Furcht, Abneigung, Fluchttendenz, was immer), kann sich überhaupt ein Konflikt entfalten, der ihre personeigene Freiheit bedroht, und an dem sich diese Freiheit bewährt oder eine Einbuße erleidet.6
Da personeigene Freiheit bei aller Unfestigkeit und trotz individueller Verschiedenheiten zu den Kerneigenschaften eines ausgebildeten menschlichen Selbst gehört, kann sie schwerlich allein im Befolgenkönnen fremder Handlungsanweisungen bestehen. Es sei denn, diese wurden von der Person in eigener Überlegung und Stellungnahme bekräftigt, wie Balaschow den Zarenbefehl auch im Prinzip ausführen »wollte«. Die jetzt gemeinte Freiheit als eine zentrale Eigenschaft von Wesen mit personaler Lebensform ist als eng verbunden zu denken mit den Instanzen bzw. Verfahren solcher Überlegung. Menschliche Personen zeichnen sich aus durch die grundsätzliche Fähigkeit, mit Bezug auf mögliche Handlungsweisen in eigener Stellungnahme ein Urteil über das Richtige im Gegensatz zum Falschen zu fällen. Traditionell fallen Vorstellungen und Argumente, die hier in Frage kommen, unter den Gedanken der Vernünftigkeit einer Person. Für viele Autoren der Aufklärungszeit begründeten ihre Ideale »Vernunft« und »Freiheit« ein auf Transzendenz, ja Zugehörigkeit zu einer höheren Welt ausgerichtetes Menschenbild. Heute kann die Verbindung unfester personeigener Freiheit mit einer diesseitig aufgefassten Vernünftigkeit menschlicher Personen helfen, eine nüchternere, stärker sachangemessene und wissenschaftlich besser vertretbare Auffassung vom Menschsein zu stützen. Diese Auffassung kann sich als definitiv irdisch wissen und der Natur allen Lebens auf dieser Erde verbunden.7