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3. Wir erleben unser Wollen als uns eigen, aber wir erleben es nicht als willentlich lenkbar
ОглавлениеWenn es um das mögliche Einwirken einer Person auf ihr eigenes Wollen geht, ist mit Nachdruck ein Sachverhalt zu erwähnen, der in Fragen der personeigenen Freiheit von entscheidender Bedeutung ist: Wir können unser Wollen nicht in der gleichen Weise wählen, wie wir unsere Handlungen wählen. Vielmehr kommen wir zu unserem Wollen, wenn überhaupt durch eigenen Einfluss, auf ganz andere Weise als zu unseren Handlungen. Und es ist ja vor allem unser eigenes Wollen in kritischen Situationen, von dem wir möchten, dass es mit unserem langfristigen Für-richtig-Halten übereinstimmt, nicht aber unter dem Druck temporärer Impulse davon abweicht. Ähnlich mit unserem dispositionalen Willen: Wir wählen uns nicht einen Willen, wie wir eine Handlung wählen können. Wir wählen unseren Willen gar nicht in dem üblichen Sinn von »wählen«. Möchten wir hier einen Einfluss haben, müssen wir zu indirekten Mitteln greifen.
Ähnliches gilt für unser aktuelles Wollen. Im Gegensatz zu Handlungen, die wir durch direktes Auslösen von Körperbewegungen ohne Umweg in Gang setzen, aber auch unterlassen können, zeigt unser Wollen oft etwas eigentümlich Faktisches und Widerständiges – sogar für die Person selbst. Es zeigt die typische Widerständigkeit einer Tatsache, die schlicht besteht – zumindest bis auf Weiteres. Das kann man sich gut an Fällen verdeutlichen, in denen eine Person stark und dauerhaft etwas will, zum Beispiel etwas, wovon ihre ganze Umgebung ihr abrät. Nehmen wir eine junge Frau, die Tänzerin werden will, aber nach dem Urteil sachkundiger Begutachter, etwa in der Vorklasse eines Studiengangs, dafür nicht sehr geeignet ist. Ihre Eltern mögen ihr sagen, es sei viel sinnvoller, einen Beruf zu wählen, der Aussicht auf ein stabiles Einkommen, relativen Schutz vor Arbeitslosigkeit und eine gute Altersversorgung bietet, sagen wir den Beruf der Lehrerin. Unsre junge Frau mit dem starken Interesse am Tanz wird es wahrscheinlich schwer finden, sich gemäß elterlichem Rat zügig auf ein Schulfach umzustellen. »Ich will einfach nichts anderes studieren«, könnte diese Frau sagen und damit bezeugen, dass sie ihr auf den Tanz gerichtetes Wollen wie ein inneres Faktum erlebt, das sich nicht nach Belieben wegschaffen lässt. Auch wenn die junge Frau nicht unablässig an den Tanz denkt, manifestiert sich doch ihr darauf gerichteter Wille in ihrem aktuell gegenwärtigen Bewusstseinsleben als konkretes Wollen, sobald die Eltern wieder einmal auf sie einreden. Ihre Ablehnung anderer Studienvorschläge könnte die Frau auch so ausdrücken, dass sie sagt: »Ich kann nicht. Ich kann mich einfach nicht auf etwas ganz anderes umstellen als auf das, was ich klar als mein Wollen erkenne. Und mein Wollen richtet sich auf eine Tanzausbildung, nichts sonst.« Dass ein klar sich geltend machendes eigenes Wollen im inneren Raum der Person wie etwas Faktisches erlebt wird, über das diese Person nicht einfach verfügen kann, ist für solches Wollen nicht ungewöhnlich, sondern typisch. Als klassisches Beispiel für ein Wollen, das als inneres Faktum erfahren wird, über welches die Person keine unmittelbare Verfügung hat, darf die Äußerung gelten, die Luther auf dem Reichstag zu Worms getan haben soll. Seine Worte sind offenbar nicht nur als Ausdruck einer stark ausgebildeten Überzeugung zu nehmen, sondern auch als Ausdruck des stark ausgebildeten Wollens, nach dieser Überzeugung zu sprechen und zu handeln: »Hier steh’ ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir.«
Unser Wollen als Phänomen des inneren Lebens hat mehrere Eigenschaften, die zu dieser jetzigen Beschreibung teils passen, teils ihr zu widersprechen scheinen. Zwei dieser Eigenschaften können angesprochen werden als Meinigkeit und Aktivitätsfärbung. Wir erleben unser Wollen als uns auf sehr enge Weise zugehörig. Wenn wir stark und deutlich etwas wollen, können wir uns selbst in dem betreffenden Zeitfenster nur schwer vorstellen ohne dieses Wollen. Es ist jetzt und hier eine unleugbare Eigenschaft der eigenen Person. Die Erwartung, wir mögen von einem Augenblick auf den nächsten stattdessen etwas ganz anderes wollen, erscheint wie die Zumutung, wir sollten jetzt und hier ein anderer Mensch werden. Diese Weise, in der eigenes Wollen auftritt, ist in der philosophischen Literatur wohl zu Recht mit dem Terminus »Meinigkeit« beschrieben worden.1 Es ist nicht nur Meinigkeit im Sinn des zufälligen Zugehörens zu mir wie die Augenfarbe oder die Form der Fingernägel, sondern viel stärker: Es ist Meinigkeit in dem Sinn, dass dieses Wollen im fraglichen Zeitfenster uns selbst, wie wir uns jetzt und hier erleben, auf entscheidende Weise mit ausmacht. Ein stark ausgebildetes Wollen wird häufig wie eine mitdefinierende Eigenschaft des eigenen jetzigen Selbst gesehen.
Zu dieser intimen, ja, traditionell gesagt, innigen Zugehörigkeit eigenen Wollens tritt die weitere Eigenschaft, dass wir uns in solchem Wollen, genauer: im Moment des Übergangs zu eigenem Wollen, als selbst aktiv erleben. Das eigene Wollen hat eine Aktivitätsfärbung. Wir erleben unser Wollen wie etwas, das im Modus unseres aktiven Optierens von der eigenen Person her sich auf mögliche Ziele oder einzelne Handlungen richtet. Dass wir uns im Übergang zu eigenem Wollen als selbst aktiv erleben, wird besonders deutlich, wenn wir es mit anderen Typen des Erlebens vergleichen, etwa mit einer Trauer. Wir sagen, die Trauer überfällt uns. Sie mag ausgelöst sein durch ein äußeres Ereignis, eine Nachricht, eine widrige Lebenssituation. Aber sie kommt auch gelegentlich ohne erkennbaren Auslöser. Der sehr auffällige Unterschied zum Wollen besteht darin, dass wir uns in der Trauer gerade nicht als aktiv empfinden. Wir fühlen uns dabei eher passiv, hinnehmend – weshalb die Trauer von alters her zu den passiones gerechnet wird, Seelenbewegungen, die wir erleiden.
Es ist vor allem die Aktivitätsfärbung, die es macht, dass wir versucht sein können zu meinen, unser Wollen unterliege unserem Belieben. Wenn sich ein bestimmtes Wollen gebildet hat, erinnern wir sein Auftreten nicht wie etwas, das über uns hereinbrach. Eher erinnern wir es wie einen Übergang, bei dem wir – auf freilich unklare Weise – aktiv waren. Ist jedoch ein bestimmtes Wollen einmal ausgebildet, widersteht es mit seiner charakteristischen Tatsächlichkeit dem Unterfangen, ihm nach Belieben eine andere Richtung zu geben.
Eine dritte Eigenschaft erlebten Wollens ist schwerer greifbar. Es erscheint sinnvoll, zu ihrer Beschreibung eine räumliche Metapher zu benutzen. Die Seele wird zwar traditionell als unräumlich vorgestellt, und sichere räumliche Koordinaten haben wir für unser Erleben als Erleben auch in der Tat nicht. Jedoch scheint unser Wollen, wenn es sich besonders deutlich geltend macht, zu einer Art Zentralbereich oder Zentrum unserer bewussten Wirklichkeit zu gehören. Es gibt für das Bewusstseinsleben als Ganzes die Metapher des »inneren Raumes«. Geben wir der Metapher qua Metapher ein begrenztes Recht, dann können wir die jetzt genannte Besonderheit erlebten Wollens als »Zentralität« ansprechen. »Zentralität« in diesem Sinn ist als Wortbildung zwar ungewohnt. Das Wort entspricht aber bei stark ausgeprägtem und deutlich sich geltend machendem Wollen der Weise, wie wir solches Wollen erleben. Das Wollen scheint von einem Zentrum des eigenen Bewusstseinsfeldes aktiv auszugehen. Wo die Ursachen für das liegen, was hier »Zentralität« genannt wird, bleibe dahingestellt. Generell gilt, dass wir beim Versuch, unser bewusstes Leben zu beschreiben, das dort Gefundene, wie George Eliot sagt, nur mit einer »dürftigen Garderobe von Begriffen«2 bekleiden können und nie sicher sind, ob die Stücke dieser Garderobe wirklich passen.
Vor allem Aktivitätsfärbung und Zentralität tragen dazu bei, dass wir glauben können und viele Philosophen auch geglaubt haben, wir wählten unser Wollen in der gleichen direkten Weise, wie wir unsere Handlungen wählen. Viele dieser Philosophen drückten das so aus, dass sie sagten, wir »bestimmen« unseren Willen unmittelbar selbst. Als Beispiel haben wir Immanuel Kant zitiert mit der These, die praktische Vernunft des Menschen bestimme den Willen unmittelbar. Viele Philosophen sprechen sinngemäß auch heute noch so, vor allem, wenn es um die These der Willensbestimmung durch vernünftige Gründe geht. Die zugeordneten Theorien sind im Detail recht verschieden. Einzelne Auffassungen dieser Art, die in der Gegenwart besonders wirkungsmächtig sind, werden wir noch kennenlernen.
Gegen den Gedanken der unmittelbaren Bestimmung des eigenen Willens ist in der Sache zu betonen: Unser Wählen eigener Handlungen einerseits und unser Einfluss auf eigenes Wollen bzw. den eigenen Willen auf der anderen Seite sind ihrer Struktur nach radikal verschieden. Darauf, dass diese elementare Verschiedenheit übersehen wird, gehen zahllose Wirrnisse philosophischen Nachdenkens, aber auch populärer Willensvorstellungen zurück. Das reicht bis zu folgenreichen Mängeln in der Weise, wie Recht und Gesetz unseren Einfluss auf eigenes Wollen dargestellt haben oder noch darstellen.
Das Hervorrufen unserer Handlungen erleben wir bei vorhandenem Wollen wie einen direkten Zugriff auf relevante Teile unserer Muskulatur mit dem Effekt, dass bestimmte Körperbewegungen eintreten, ggf. auch Bewegungen der Sprechorgane. Damit kommt die gewollte Handlung in der Welt zustande. Wie unser wollender Zugriff auf bestimmte Muskeln über das Zentralnervensystem erfolgt, stellt sich uns im Bewusstsein nicht dar. Gewöhnlich könnten wir auch die Muskeln gar nicht benennen, auf die wir zugreifen. Wir wollen eine bestimmte Körperbewegung, und wenn wir sie jetzt und hier wollen und keine Hindernisse, Lähmungen oder dergleichen bestehen, tritt die Bewegung ein. Entscheidend für den Unterschied zum stets nur indirekten Einfluss auf unser Wollen ist, dass wir das gewollte Auslösen einer Handlung als umweglosen Zugriff auf eigene Muskeln mit danach erfolgender Körperbewegung (auch Bewegung der Sprechorgane) erfahren.
Besonders deutlich lassen sich weitere Eigentümlichkeiten dieses direkten Übergangs vom Wollen zum Tun bei Handlungen erleben, die eine zeitliche Erstreckung haben, selbst wenn diese Erstreckung nur eine kurze Zeit währt. Eine vom Wollen in Gang gesetzte Handlung, z. B. die Bewegung einer Hand beim Zeichnen oder beim Führen eines Werkzeugs, können wir dank unserer kontinuierlichen Beobachtung in ihrem Verlauf Punkt für Punkt verfolgen. Wir können Fehler, die im Bewegungsablauf auftreten, durch Beobachtung oft schnell erkennen und oft auch noch in der Bewegung korrigieren. Sehr auffällig ist das bei Fehlern der Sprechorgane: Versprecher registrieren wir oft sofort und versuchen, uns zu verbessern. Wir wissen normalerweise auch in jedem Augenblick eines zeitlichen Verlaufs, wie weit die Bewegung, die wir ausführen wollen, gediehen ist. Das heißt, wir haben die kontinuierliche Kontrolle unseres willentlichen Tuns in seiner zeitlichen Erstreckung. Wenn die Gefahr droht, dass wir eine willentlich angefangene Handlung nicht zu dem gewollten Ende bringen können, wenn z. B. das ergriffene Werkzeug zu schwergängig ist, können wir die Handlung abbrechen und mit veränderter Handhaltung (oder anderen Veränderungen) neu ansetzen. Diese uns typischerweise gegebene, kontinuierliche Verlaufskontrolle beim willentlichen Handeln ist ein großer Vorzug des direkten Verhältnisses von Wollen zu Tun. Dieses direkte Verhältnis erlaubt es uns normalerweise, unser Tun in jeder Phase Schritt für Schritt, Punkt für Punkt wahrnehmend zu verfolgen – und gegebenenfalls zu korrigieren.
Vollkommen anders ist unser Verhältnis zum eigenen Wollen. Wir können unser Wollen nicht wie mit einem inneren Werkzeug dahin oder dorthin richten oder sonstwie geradewegs steuern. Auf unser Wollen können wir nicht zugreifen wie auf unsere Hand, unseren Zeigefinger, unsere Sprechorgane. Unser Wollen stellt sich dar mit Meinigkeit, Aktivitätsfärbung und Zentralität, aber auch, wenn es einmal ausgebildet ist, mit einer typischen Widerständigkeit gegenüber dem Versuch, es durch direkten Zugriff zu ändern. Wenn wir unser Wollen beeinflussen möchten, müssen wir zu Verfahren des indirekten Selbsteinflusses greifen, eines Einflusses, der vom willentlichen Auslösen eigener Körperbewegungen erkennbar verschieden ist. Dies ist eine wichtige und folgenreiche Erkenntnis: Unsere Handlungen wählen wir direkt, unser Wollen können wir nur indirekt beeinflussen.