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Die Bedeutung des Lesen-Könnens
ОглавлениеWas ist Lesen? Man tut gut daran, sich die einmalige und unersetzliche Bedeutung des Lesens immer wieder klarzumachen. Durch das Entziffern der abstrakten Codes, die wir Buchstaben nennen, entstehen beim Leser Vorstellungen, sinnhafte Bilder, Gedanken, Zusammenhänge, Abläufe, Emotionen. Ein komponiertes, gestaltetes Ganzes solcher Codes erzeugt Eindrücke in unserem Innern, die sich z.B. zu einer Geschichte zusammensetzen.
Im Gegensatz zu seinen Komponenten, wie Sehen und Sprechen, die genetisch organisiert sind, existiert für das Lesen kein unmittelbares genetisches Programm, das es an zukünftige Generationen weitergibt. […] Dies ist ein Grund, warum sich das Lesen – wie jede kulturelle Erfindung – von anderen Prozessen unterscheidet und warum es unseren Kindern nicht ganz von selbst in den Schoß fällt. (Wolf 2009, 13)
Bücher kann man nicht passiv in sich aufnehmen – Lesen ist ein aktiver Prozess, der die gesamte Aufmerksamkeit des Lesenden erfordert. Wenn man das einmal in seinem Gehirn zu synthetisieren gelernt hat, steht einem eine Welt offen. So wie ein Radfahrer entscheiden kann, wohin und wie schnell er fahren möchte, kann der Leser entscheiden, was und in welchen Portionen er lesen will. Die ganze Welt (soweit sie aufgeschrieben und publiziert wurde), wird lesbar; Gedanken, Erfahrungen, Gefühle und eben Geschichten werden auf eine ganz persönliche Rezeptionsweise verfügbar.
»Das Verb lesen duldet keinen Imperativ. Eine Abneigung, die es mit ein paar anderen teilt: dem Verb lieben, dem Verb träumen.«
Daniel Pennac, Wie ein Roman
Lesen-Können ermöglicht Kindern den Zugang zu erheblichen Teilen der Welt, die vor dem Erwerb dieser Fähigkeit den Erwachsenen vorbehalten waren. Lesen ist ein Universalschlüssel zum Entziffern von allem, das schriftlich vorliegt, nicht nur von Büchern. Wenn dieses Tor einmal aufgeschlossen ist, eröffnen sich grenzenlose Räume des Lesbaren.
Der Prozess dahin ist allerdings mühsam, es ist wie alles wirkliche Lernen mit Anstrengung verbunden – aber auf die Mühe folgt auch die Belohnung.
Haben die Kinder erst einmal alle Buchstaben und Entzifferungsregeln gelernt, das verborgene Leben der Wörter erfasst und die verschiedenen Verständnisprozesse ins Rollen gebracht, kann die Erfahrung, dass das Lesen Gefühle hervorrufen kann, in ihnen eine lebenslange, leidenschaftliche Liebe zum Lesen wecken und sie zu kompetenten, verstehenden Lesern machen. (Wolf 2009, 158)
Somit kommt die Entwicklungspsychologin und Literaturwissenschaftlerin Maryanne Wolf zum gleichen Befund wie Bruno Bettelheim ein halbes Jahrhundert zuvor.
Die allermeisten Kinder erlernen in unserer Gesellschaft die Technik des Lesens. Wenn sie endlich lesen können, erfüllt es die Kinder in der Regel mit einem ähnlichen Glücksgefühl, wie wenn sie endlich Fahrrad fahren oder schwimmen können. Wenn es jedoch versäumt wird, bei einem Kind diese Leistung mit Glücks-Empfindungen, auch ›Flow‹ genannt, zu verbinden, wenn Freude am Lesen nicht erfahren wird, ist die Chance oft vertan. Wer als Kind nicht gern und freiwillig liest, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit auch als Erwachsener nicht zum privaten Leser. Dazu meint Alberto Manguel, bekannt geworden durch sein Werk Eine Geschichte des Lesens in einem Interview:
Ich glaube, es hilft, Kindern zu zeigen, wie viel Freude man selbst an Büchern hat. Aber man kann sie nicht zwingen, sich zu verlieben. (Manguel 2020)
Leselust›Leselust‹ ist ein schöner Begriff für intensiv empfundenen Umgang mit Büchern. Bilderbücher ermöglichen das schon bei ganz jungen Kindern, auch vorgelesene Geschichten, dann Kinderbücher, Jugendbücher sowie später die allgemeine Literatur. Lesen ist ein intimer Vorgang (ich bin mit dir, meinem Buch, allein; du bist nur für mich da; wir beide verstehen uns). Lesen geschieht so langsam, so schnell, so oft, wie ich will. Ein gutes Buch ist wie ein guter (Gesprächs-)Partner: verständnisvoll, aber vor allem macht er einen auf etwas aufmerksam, das man selbst nicht gekannt oder so nicht gesehen hat. Entrücktheit, Versunkensein, rote Wangen, Gleichgültigkeit gegenüber den Erfordernissen des Alltags – all das gehört zur Leselust bei Kindern genauso wie bei Erwachsenen.
Wenn das obligatorische Lesenlernen in der Schule nicht durch das freiwillige Anschauen, Vorlesen und Lesen von Büchern zu Hause ergänzt wird, stellt sich das Lesebedürfnis nicht ein. Dieser Prozess ist – bei allen Unterschieden – dem Sprechenlernen vergleichbar: Wenn ein Kind in einer bestimmten Phase nicht mit dem Sprechen beginnt (was aus ganz verschiedenen Ursachen vorkommen kann), wird es keinen normalen Sprachaufbau durchlaufen.
LesefrustDas Gegenteil von Lust und Liebe ist nicht nur Hass, sondern auch Gleichgültigkeit; der Feind der (roten) Leselust ist nicht einfach der (schwarze) Lesefrust, sondern das (graue) Desinteresse. Lesefrust kann sich einstellen bei einem Buch, das einem nicht gefällt: wegen des Themas, der Protagonisten, der Erzählweise etc. Wie ein abstraktes Gemälde oder ein eigenartiges Musikstück kann man ein Buch als unverständlich und unnahbar empfinden. Man ärgert sich, man ist abgestoßen. Als erfahrener Kunstbetrachter, Musikhörer und Leser wendet man sich dann anderen Künstlern, Bildern, Musikern bzw. anderen Autoren und Büchern zu. Wer allerdings ganz junge, unerfahrene Leser mit Büchern konfrontiert, die sie nicht zugleich fesseln und entfesseln, wird den schwarzen, aktivablehnenden Lesefrust ganz schnell in ein graues, voreingenommenes Desinteresse umwandeln, etwa Haltungen der Art ›Bücher sind langweilig, schwer zu verstehen und haben nichts mit mir zu tun‹.
Diese Art von Lesefrust ist gefährlich, wenn sie sich bei Kindern einstellt, die Leseglück nie erfahren haben. In jeder individuellen Bildungsgeschichte gibt es Zeitfenster für bestimmte Entwicklungsschritte. Wenn diese Fenster nicht innerhalb eines gewissen Zeitraums aufgestoßen wurden, bleiben sie meistens für immer verschlossen – oder können später nur mit einem gewaltigen Mehraufwand an Energie, Geschick oder Motivation noch geöffnet werden.
Lesen fürs LebenDer Erwerb der Lesefähigkeit wirkt sich also nicht nur auf die Kinderzeit aus, sondern auf das gesamte spätere Leben. Es lassen sich verschiedene Formen des Lesens unterscheiden:
• Lesen als elementare zivilisatorische FähigkeitLesen ist ein obligatorisches Kernelement des Ausbildungsauftrags der Schule im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht.
• Lesen, um sich in der Welt zurechtzufindenHinweisschilder, Gebrauchsanleitungen und schriftliche Mitteilungen liefern notwendige Informationen.
• Lesen, um Rechte und Pflichten wahrnehmen zu könnenMan muss Verträge lesen, um sie unterschreiben zu können.
• Lesen als Voraussetzung für das SchreibenWer sich schriftlich mitteilen will, muss schreiben können – das wiederum ist nicht möglich ohne Lesefähigkeit.
• Lesen zum Erwerb von WissenFachliche, berufliche und wissenschaftliche Qualifizierung kann nicht ohne Lesefähigkeit erreicht werden.
• Lesen als Aneignung von KulturEin wichtiger Teil unseres kulturellen Erbes, des Bildungskanons, der Gesetze und des gegenwärtigen Kulturschaffens liegt in geschriebener Form vor und entsteht weiterhin auf schriftlichem Wege.
• Lesen als persönliche BereicherungWer Lesen nicht nur als Pflicht erfährt, dem erschließt sich ein Universum von Möglichkeiten individueller Leseerfahrung.
• Lesen als UnterhaltungLesen kann zur Entspannung, zum ›Zeitvertreib‹, als Konsumvergnügen, als reiner Spaß genossen werden.
Welche Art zu lesen der erwachsene Mensch benötigt oder bevorzugt, bleibt ihm überlassen. Aber es ist nicht egal, ob, wann und mit welcher Motivation Kinder lesen lernen. Zugespitzt: Wenn Kinder nicht gerne lesen, werden sie es schwerhaben, in einer komplexen Welt mitzudenken. Texte leben vom Wort, dem Anfang und Element alles Denkens.
Lesen und Verstehen Oft werden diese Überlegungen, Anstrengungen und Aktivitäten unter dem Begriff #Leseförderung zusammengefasst. Anlässlich der Preisverleihungen der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur hat der Lyriker, Autor und Übersetzer Uwe-Michael Gutzschhahn im Gespräch mit der Akademie-Präsidentin Claudia Maria Pecher im November 2020 den schönen Satz geprägt:
Die beste Leseförderung ist Leseerfahrung. (Gutzschhahn 2020)
Bei zu vielen Kindern sind Lesefähigkeit und Leseverständnis zu schwach ausgebildet, von Leselust ganz zu schweigen. Das kann individuelle und milieubedingte Ursachen haben. Um die Defizite auszugleichen und nicht größer werden zu lassen, existieren zahlreiche Initiativen zur Leseförderung. Hinter diesem hölzernen, stets ein wenig betulich klingenden Begriff verbirgt sich tatsächlich ein großes Thema unserer Gesellschaft. Klarer, als es die Autorin Kirsten Boie mit einigen weiteren Erstunterzeichnern am 15.08.2018 formuliert hat, kann man die Wichtigkeit des Lesens kaum auf den Punkt bringen.
Auf der Website www.change.org kann man zusehen, wie sich die Zahl der Unterschriften dem Ziel 150.000 nähert. Die Resonanz auf diese von zahlreichen bekannten Politikern, Autoren, Bildungsforschern und anderen Interessierten erstunterzeichnete Petition war erheblich. Dennoch musste Alexander Skipis, Hauptgeschäftsführer des #Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, ein gutes Jahr seit der Übergabe der Hamburger Erklärung an die Vertreter der Politik feststellen, dass nichts passiert sei: »Es ist höchste Zeit für einen Lesepakt, bei dem Politik, Bildungsinstitutionen sowie breite Teile der Zivilgesellschaft Hand in Hand arbeiten.« (Börsenblatt vom 03.12.2019). Um diesem Ziel einen Schritt näherzukommen, haben Börsenverein und Stiftung Lesen am 03.03.2021 erstmalig einen (digitalen) Nationalen Lese-Summit abgehalten. 150 Organisationen bis hin zum Bundesministerium für Bildung und Forschung wollen gemeinsam dem Lesen größere Sichtbarkeit verleihen. Was dabei über die bekannten ›Sonntagsreden‹ hinaus konkret am Einsatz für das Lesen verbessert wird, bleibt abzuwarten.
Hamburger Erklärung
Seit dem vergangenen Dezember wissen wir: Knapp ein Fünftel der Zehnjährigen in Deutschland kann nicht so lesen, dass der Text dabei auch verstanden wird (18,9%, Internationale IGLU-Studie 2016). Im internationalen Vergleich ist Deutschland damit seit 2001 von Platz 5 auf Platz 21 aller beteiligten Länder abgerutscht und liegt unter dem EU- wie dem OECD-Durchschnitt. Zudem ist Deutschland das Land, bei dem das Ergebnis am stärksten von der sozialen Herkunft abhängt. Wer nach der Grundschulzeit nicht sinnentnehmend lesen kann, wird es in den weiterführenden Schulen nicht lernen. Denn hier wird Lesen nicht mehr gelehrt, sondern vorausgesetzt.
Lesen ist noch immer DIE Schlüsselqualifikation für die Teilhabe an der Gesellschaft. Die betroffenen 18,9 % der Kinder werden einmal unsere Erwachsenen sein. Neben den Folgen, die eine fehlende Lesefähigkeit für jeden Einzelnen von ihnen haben wird, sind auch die Folgen für die Gesellschaft insgesamt erschreckend. Ohne die Möglichkeit, einen qualifizierten Beruf zu erlernen, werden die meisten dieser Menschen vermutlich jahrzehntelang auf staatliche Unterstützung angewiesen sein. Umso wichtiger, dass JETZT in die Bildungspolitik investiert wird.
Die 16 Länder, die Deutschland im Ranking seit 2001 überholt haben, beweisen, dass und wie es möglich ist, die Lesefähigkeit aller Kinder signifikant zu steigern. Ein Land wie Deutschland, dessen wichtigste wirtschaftliche Ressource ein hoher Bildungsstand seiner Bevölkerung ist, kann das Thema nicht länger marginalisieren. Der Verweis auf gewachsene Probleme in der Schülerschaft reicht nicht aus. Auf die Analyse muss die Lösung folgen, und diese Lösung darf nicht länger an Elternhäuser und Ehrenamtliche delegiert werden. Nur die Schule erreicht wirklich alle Kinder.
Die Unterzeichner fordern die Politik in allen Bundesländern, die Bundesministerin für Bildung und Forschung, die Kultusministerkonferenz und die Bildungsminister aller Bundesländer daher dazu auf, für folgende Punkte Sorge zu tragen:
•Das Lesenlernen und Lesen muss sehr viel stärker in den Fokus der Bildungspolitik rücken.
•An den Grundschulen müssen frühzeitig Fördermaßnahmen in Kleingruppen eingeführt werden, die sich auf die reichlich vorliegenden Erkenntnisse der Leseforschung und die Erfahrungen der Lehrer stützen.
•Diese Förderstunden dürfen nicht für Vertretungsunterricht zweckentfremdet werden.
•Es müssen ausreichend Grundschullehrer eingestellt werden, um dieses Ziel umzusetzen. Das heißt: An den Hochschulen müssen deutlich mehr Studienplätze für die Lehrerausbildung geschaffen werden.
•Es muss Schulbibliotheken, Lesungen und Lektüreprogramme gerade auch an solchen Schulen geben, deren Schülerschaft eher bildungsfern ist. Die Lektüre altersgerechter Bücher vermittelt die Fähigkeit, komplexere Zusammenhänge aus längeren Texten zu entnehmen. So kann man später zum Beispiel Zeitungsartikel lesen und verstehen.
•Für all diese Zwecke müssen jetzt genügend Mittel in den Haushalten ausgewiesen werden. Das Lesen darf nicht den derzeitigen (kosten)intensiven Bemühungen um die Digitalisierung der Schulen zum Opfer fallen.
Unverbindliche Absichtserklärungen reichen nicht mehr aus. Deutsche Grundschulen müssen es schaffen, alle Kinder das Lesen zu lehren!