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Оглавление6 – DAS LEIB-SEELE-PROBLEM – IN DER NEUZEIT
Mit dem heutigen Wissen um die biologischen und physikalischen Prinzipien menschlicher Bewegung wäre der antike Glaube an Seelen eigentlich obsolet – wäre da nicht unser Bewusstsein.
DER WISSENSCHAFTLICHE MATERIALISMUS
Nach heutiger wissenschaftlicher Erkenntnis ist das menschliche Bewusstsein das Spektrum aller kognitiven Fähigkeiten einschließlich unseres Selbstbewusstseins. Die gegenwärtige Position unter den meisten modernen Philosophen, Psychologen, Neurobiologen und Kognitionswissenschaftlern ist, dass Bewusstsein eine Emergenz unseres Gehirns ist. Ganz allgemein gesprochen versteht man unter Emergenz eines Systems das Auftreten eines Phänomens, das sich zwar nicht aus seinen Einzelteilen ableiten lässt, aber ansonsten ein im Prinzip wissenschaftlich erklärbares Phänomen ist. So ist die Eigenschaft »ein Tropfen Wasser ist nass« ein Verdunstungseffekt, der sich nicht aus der Eigenschaft seiner 1021 H2O-Moleküle erklären lässt. Genauso lässt sich das Bewusstsein zwar nicht aus der Eigenschaft einzelner Nervenzellen ableiten, aber im Prinzip (so die Hypothese der Neuropsychologen) aus der Gesamtheit von 100 Milliarden miteinander kommunizierenden Neuronen.
Damit zählen diese Wissenschaftler eindeutig zu den Materialisten in unserer Gesellschaft. Die Materialisten glauben, dass sich alle kognitiven Hirnphänomene auf physikalische Ursachen zurückführen lassen, sie also materiellen Ursprungs sind – Materie ist das Einzige, was existiert. Für die Materialisten entstand der Geist und damit auch Moral Hand in Hand mit der Evolution des materiellen Universums im Allgemeinen und der biologischen Evolution im Speziellen. Gemäß dem Materialismus entstehen moralische Werte aus sozialen Beziehungen (der Mensch als soziales Wesen). Moral ist in diesem Sinne eine Emergenz sozialer Beziehungen, die sich aber mit den Beziehungen ändern kann. Daraus wächst aber auch die Überzeugung, dass im Konfliktfall soziale Werte Vorrang vor individueller Moral und Interessen haben. Die Gesellschaft ist also der maßgebende moralische Faktor, während das Individuum lediglich ein abhängiges Hilfselement der Gesellschaft ist.
MONISTEN VERSUS DUALISTEN
Die Materialisten wiederum zählen zur Gruppe der Monisten (mit ihrem klassischen Vertreter, dem schottischen Philosophen David Hume, 1711–1776), die behaupten, es gebe nur eine Art von Dingen auf der Welt. Eine dazu gegensätzliche Fraktion der Monisten sind die Idealisten. Sie sind davon überzeugt, dass alles auf der Welt letzten Endes geistig sei. Auch das Christentum und Judentum sind eigentlich monistische Religionen. In Luthers Bibelübersetzungen ist mit dem Wort »Seele« lediglich eine göttliche Verlebendigung des Geschöpfs »Mensch« aus einem Erdenkloß durch das Einblasen des lebendigen Odems in seine Nase gemeint (1. Mose 2,7).
Den Monisten stehen die Dualisten gegenüber, die glauben, es gebe auf der Welt zwei fundamental unterschiedliche Phänomene und Existenzen, nämlich physische und psychische – die Welt der Materie und die des Geistes. Bewusstsein, so die Dualisten, sei eine Qualität des Geistes und diese wiederum eine Ausprägung der Seele. Da hätten wir sie also wieder, die Seele.
DESCARTES’ DUALISMUS
Das dualistische Denken, begründet in der platonischen Philosophie, fand im abendländischen Denken erst später im 17. Jahrhundert durch Rene Descartes (1596–1650) und John Locke (1632–1704) seine radikalste Ausprägung, aber bis heute auch allgemeine Verbreitung in der Gesellschaft. Aus seinem berühmt gewordenen Ausspruch »Ich denke, also bin ich« folgerte er: »Ich erkannte daraus, dass ich eine Substanz sei, deren ganze Wesenheit oder Natur bloß im Denken bestehe und die zu ihrem Dasein weder eines Ortes bedürfe noch von einem materiellen Dinge abhänge, sodass dieses Ich, das heißt die Seele, wodurch ich bin, vom Körper völlig verschieden und selbst leichter zu erkennen ist als dieser und auch ohne Körper nicht auf hören werde, alles zu sein, was sie ist.« Er gelangte somit zur Auffassung, dass Materie und Geist zwei völlig verschiedene, voneinander getrennte Substanzen seien, die materiell ausgedehnte Substanz (res extensa) einerseits und eine rein geistige und seelische, form- und gestaltlose denkende Substanz (res cogitans) andererseits. Mit seiner rigorosen Trennung der beiden Substanzen stieß Descartes jedoch auf ein Problem: Wie lässt sich das Zusammenwirken beider erklären, wo doch Körper und Geist angesichts ihrer radikalen Verschiedenheit keine einzige inhaltliche Bestimmung gemeinsam haben können? Konkret, wie und wo kann die Seele auf die wesensfremde Maschinerie des Gehirns Einfluss nehmen? Seine Antwort auf diese ungemütliche Frage der Monisten war ein ziemlich hilfloses »in der Zirbeldrüse«. Tatsächlich erwies sich dieser Punkt als entscheidende Schwachstelle in seiner Philosophie. Mit ihr schuf Descartes das klassische Leib-Seele-Problem der Philosophiegeschichte.
Die bis heute verbreitete Akzeptanz eines dualistischen geistigen Prinzips, das sich nicht auf Materie reduzieren lässt, ist die dadurch entstehende natürliche Möglichkeit, dem Menschen menschliche Werte und insbesondere eine Moral zuzuordnen, die ihn von Tieren, die man a priori für frei von Moral hält, absetzt und ihm somit außerordentliche Menschenrechte zuspricht, aber auch moralische Pflichten (siehe Nürnberger Prozesse) auferlegt. Materialismus und Monismus sind zwar nicht inkompatibel mit Menschenrechten und menschlicher Moral, aber das dualistische Prinzip macht die Hypothese intrinsischer Menschenrechte einfacher verständlich und bringt dies einfacher in Übereinstimmung mit unseren abendländischen kulturellen Traditionen, die in der Antike wurzeln und im Mittelalter von der Scholastik ins Christentum importiert wurden.
MATERIALISMUS – HART, ABER WAHR
Heute kennen wir die richtigen Antworten, denn wir können sie wissenschaftlich beweisen. Der Körper bewegt sich angetrieben durch biophysikalische Prozesse, und Bewusstsein ist das Ergebnis neurobiologischer Prozesse in unserem Gehirn. Obwohl sich dabei in vielen sicherlich Widerstand regt: Wie können Liebe und Emotionen ein Ergebnis neuronaler Vorgänge sein? Wir wissen heute, dass dem so ist. So unromantisch das auch klingen mag, Liebe und Emotionen werden zentral von der Amygdala unseres Gehirns gesteuert. Tatsächlich, so die Neuropsychologen, prägt die Einwirkung der Liebe und Emotionen verarbeitenden Amygdala auf den Hypothalamus auch unsere Erinnerungen. Deswegen brauchen wir uns nicht wundern, dass wir uns besonders bewusst an die extrem emotionalen Momente des ersten Kusses oder ersten Sex erinnern.
Es wird wie immer in unserer kulturellen Entwicklung viele Generationen, wenn nicht Jahrhunderte dauern, bis ein solch gravierender Paradigmenwechsel allgemein akzeptiert wird. Aber dies ist, wie so oft, nur eine Frage der Zeit.