Читать книгу Eine andere Sicht auf die Welt! - Ulrich Walter - Страница 6
ОглавлениеVORWORT DIE WELT ANDERS SEHEN
Was waren die drei beeindruckendsten Erlebnisse Ihrer Mission?« Dies ist wohl die meistgestellte Frage zu meiner Mission. Da brauche ich nicht lange überlegen: Der Start, der Blick auf die Erde und das Gefühl der Schwerelosigkeit. In dieser Reihenfolge. Kein Zweifel, der Start, bei dem 2200 Tonnen Schub innerhalb von nur 8½ Minuten das Shuttle in den Weltraum wuchten, mit körperlichen Belastungen, bei denen viele Astronauten einfach vergessen zu atmen, lässt einen bis ins Knochenmark spüren, welchen Mächten man hier hilflos ausgesetzt ist.
Die Erfahrung beim Start eines Raumfahrzeugs und die Schwerelosigkeit sind ganz besondere Gefühlserfahrungen, die so ganz anders sind als alles, was man auf der Erde erlebt. Wenn Sie dazu mehr wissen wollen, dann lesen Sie den ersten Artikel meines Buchs Höllenritt durch Raum und Zeit.
DER BLICK AUF DIE ERDE
Kaum ist man nach dem 8½ Minuten dauernden Flug im All und hat wenige freie Minuten zur Verfügung, beeilt sich jeder Astronaut, wenigstens einen kurzen Blick durch das nächstbeste Fenster zu erhaschen. Ich kann mich noch gut an meinen ersten Erdanblick erinnern. Ich schaute schräg auf das schier endlose Blau des Pazifiks, über den sich filigrane Wolken wie geklöppelte Spitzendeckchen gelegt hatten. Gleichzeitig schien sich das Ganze wie eine riesige Rolle unter mir hindurchzuwälzen, obwohl es natürlich genau andersherum war: Wir rasten mit dem Shuttle mit 28.000 Kilometern pro Stunde über die Erdoberfläche hinweg.
Keine Frage, dieser Blick auf die Erde ist einfach faszinierend. Ich habe mich immer gefragt, was und vor allem warum dieser Anblick einen so gefangen nimmt. Eigentlich ist er bei einer Raumfahrtmission die reinste Nebensache. Denn eigentlich ist es als Wissenschaftler an Bord meine Aufgabe, faszinierende Experimente in der Schwerelosigkeit durchzuführen. Diese führen zu einem Wissensgewinn für die Wissenschaft, der schließlich der ganzen Menschheit zugutekommt, und das ist es, was die Menschheit von der Raumfahrt hat.
So dachte ich jedenfalls, bis ich von meiner Mission zurückkam. Aber danach fragte mich kaum jemand nach den wissenschaftlichen Ergebnissen meiner Mission. Die Fragen drehten sich vielmehr und stets um die menschlichen Aspekte der Raumfahrt: Was für ein Gefühl ist das in der Schwerelosigkeit? Wie isst man im All? Wie schläft man? Und natürlich: Wie ist der Anblick der Erde? Das passte nicht zusammen. Es wurde viel Geld für Spitzenwissenschaft ausgegeben, aber letztendlich interessierten sich die Menschen nur für den Blick auf die Erde und ob man sich dadurch verändert hat.
Mit dieser Zerrissenheit im Kopf las ich irgendwann einmal die Worte des Astronauten Alfred Worden, der im Juli 1971 auf dem Mond stand, seine wissenschaftlichen Arbeiten am Mondgestein durchführte, dabei aber ab und zu aufsah, um die Erde zu betrachten, und die bemerkenswerten Worte sprach:
»Jetzt weiß ich, warum ich hier bin.
Nicht um den Mond genauer zu betrachten,
sondern um zurückzuschauen,
auf unser Zuhause,
die Erde!«
Das ist es! Natürlich trägt die Raumfahrtwissenschaft mit neuem Wissen und Erkenntnissen zum Fortschritt der Menschheit bei. Ich bin aber inzwischen davon überzeugt, der viel größere Nutzen liegt ganz woanders, dort, wo ihn die Menschen zwar intuitiv wahrnehmen, ihn sich aber bisher nie bewusst gemacht haben: Der Blick auf die Erde verändert das Denken. Der Mensch erfährt durch ihn ein ganz anderes und neues Verständnis über seinen Heimatplaneten und damit auch über sich selbst. Er erkennt dabei sein Leben aus einer ganz anderen Distanz und einem anderen Blickwinkel heraus, und genau das führt zu einem tieferen Verständnis der Natur und damit auch seiner selbst.
SICH SELBST ANDERS VERSTEHEN
Tatsächlich wird Raumfahrt so zu einer zweiten kopernikanischen Revolution. Seit Kopernikus wissen wir zwar, dass der Mensch nicht das Zentrum des Universums ist. Doch dank Raumfahrt kann er heute auf sich herabsehen und diese entrückte Position mit eigenen Augen wahrnehmen. In diesem Sinne waren der wirkliche Erfolg der Apollo-Missionen nicht die vielen wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Zusammensetzung des Mondes und seinen Ursprung, sondern die wenigen, aber immer wieder gezeigten Bilder der Erde aus der Ferne des Mondes, auf denen sie wie eine Christbaumkugel aussah. Sie machten uns eindringlich klar: Unser Heimatplanet ist zwar eine wunderschöne, aber einsame Perle des Lebens in den Weiten des Kosmos. Über die historische Dimension dieser Bilder sagte einst der dänische Wissenschaftsjournalist Tor Nørretranders:
»Auf diesen aufrüttelnden Anblick des Planeten von außen folgte ein Bewusstwerdungsprozess, der sich in seiner Intensität durchaus mit jenem messen lässt, der einsetzte, als die Menschen sich selbst im Spiegel zu betrachten begannen.«
Der Blick aus dem All auf die Erde ist also ein Blick auf uns. Er erzählt von den Zusammenhängen unseres Daseins auf der Erde und über unseren Stellenwert im Universum. Genau das macht einen Großteil der Faszination der Raumfahrt aus, und genau deshalb wird der kommende Weltraumtourismus unser Denken über uns und die Erde mehr verändern als alle großen literarischen Werke der Weltgeschichte zusammengenommen. Er wird uns alle so verändern wie einst den saudi-arabischen Sultan bin Salman Al Saud, der als Gast an Bord des Shuttles (tatsächlich als erster Weltraumtourist) im Juni 1985 die berühmten Worte sprach:
»Am ersten Tag deutete jeder von uns auf sein Land.
»Am dritten oder vierten Tag zeigte jeder auf seinen Kontinent. Ab dem fünften Tag gab es für uns nur noch eine Erde.«
Genau diesen Wandel der Perspektive erfährt jeder beim Anblick der Erde aus dem Erdorbit.
ABSTAND GEWINNEN
Diese Änderung der Perspektive hat wohl jeder bereits in einer etwas anderen Form hier auf der Erde erfahren. Man wächst irgendwo auf dem Land, in einem Dorf oder Kleinstadt auf, so auch ich. Eine wunderbare Kindheit: Felder, Wiesen, Bauernhöfe und Wälder zum Herumstöbern und zu Hause der vertraute, immer gleiche Ablauf des Tages. Das ist die wohlbehaltene Welt, von der man als Kind meint, so müsse es wohl überall auf der Welt sein.
Aber irgendwann zieht man zu einer Berufsausbildung oder einem Studium in eine Großstadt. Hier brodelt das Leben, insbesondere das Nachtleben. Genau das Richtige für Jugendliche. Diese Welt verändert, man interessiert sich für andere Themen und andere Kulturen und lernt ganz andere Menschen kennen, andere Meinungen und Ansichtsweisen. Jeden Tag.
Aber nach Jahren des Austobens kommt man irgendwann wieder zurück nach Hause, das eigentliche Zuhause. Und alles sieht scheinbar so anders aus, als es in der Erinnerung war. Die Straßen sind enger, der Weg von der elterlichen Wohnung in die Schule war gar nicht so weit wie gedacht. Alles wirkt wie in einer Puppenstube, aber alles ist »da«, als sei es erst gestern gewesen.
Was ist geschehen? Man hat Abstand gewonnen. Abstand gewinnen ändert Ansichten. Man sieht die Welt anders, weil man nun die größeren Zusammenhänge erkennt und weiß, dass die Welt woanders ganz anders ist.
Diese Veränderung verstärkt sich sogar noch, wenn man für mehrere Jahre in anderen Ländern mit anderer Kultur gelebt hat. Wer einmal viele Jahre in den USA gewohnt hat, der entwickelt ein leichtes Verständnis dafür, dass diese Menschen auf ihr Recht, Waffen zu besitzen und nicht zwangsweise einer Krankenversicherung anzugehören, bestehen. Für uns Deutsche unvorstellbar.
DER OVERVIEW-EFFEKT
Um wie viel mehr muss sich die Sichtweise verändern, wenn der Abstand noch größer wird? Wenn man aus mehreren Hundert Kilometern Abstand fast ganze Kontinente überblickt? Wenn man sieht, dass es keine Grenzen zwischen Ländern gibt, sondern nur in unseren Köpfen? Wenn man erkennt, dass dieses Denken in dörflichen, ländlichen und nationalen Grenzen im Erdkundeunterricht geprägt wurde, wo solche Grenzen im Diercke-Atlas eingezeichnet waren und man fortan glaubte, diese Grenzen seien real? Nein, diese Grenzen gibt es nicht! Man schaut wie Sultan bin Salman Al Saud aus der Umlauf bahn oder Alfred Worden vom Mond auf die Erde und sieht nur Kontinente und viel, viel Wasser – unsere gigantischen Ozeane. Erst dieser Blick macht klar, dass Dinge, die wir miteinander teilen, wertvoller sind als jene, die uns trennen. Wir leben alle auf einem Boot, auf unserem Heimatplaneten Erde, das führerlos durch die Weiten des Weltraums treibt. Es gibt nichts, was uns bei dem Überleben auf diesem Boot hilft. Wir müssen uns selbst helfen, weil wir alle aufeinander angewiesen sind – und wenn das Boot kentert, ist es aus. Keiner und nichts wird uns vermissen. Es würde so sein wie in den 23 Stunden, 59 Minuten und 50 Sekunden auf der Erdgeschichtsuhr davor: einfach keine Menschen mehr. Damit kam unsere Erde gut zurecht, und so würde es in Zukunft auch ohne uns sein.
Solches Nachdenken und die damit einhergehenden Änderungen des Denkens vollziehen sich aber meist erst, wenn man von der Missionsreise wieder zurück ist. Wenn ich gefragt werde: »Was hat Sie bei Ihrer Mission am meisten verändert?«, dann ist es dieser Perspektivwechsel. Dafür gibt es im Englischen einen schönen Ausdruck: Overview-Effekt. Der Übersichts-Effekt.
Mit der Änderung der Ansicht über unsere Erde kommt irgendwann auch die Frage: Mit dem Wissen, dass sich Ansichten mit zunehmendem Abstand verändern können, sollte man nicht auch versuchen, allein durch klares Denken Abstand zu gewinnen, um somit alltägliche Dinge des Lebens anders zu sehen? Selbst wenn es ungemütlich oder gar lästig ist? So jedenfalls ging es mir. Seitdem nehme ich manchmal zu meinem Denken bewusst gegensätzliche Standpunkte ein, anfangs, weil es Spaß machte, später, weil man merkte, so ganz andere Standpunkte aus einer ganz anderen Perspektive können manchmal auch ihren Reiz haben, selbst wenn man sich nicht ganz damit identifizieren kann. Aber dann versteht man wenigstens, dass dieses Denken kulturell geprägt und tief in uns verankert ist.
Dieses Buch ist ein Sammelsurium von solchem Andersdenken. Bewusst anders denken. Sich nicht durch eingetretene Vorurteile leiten lassen, sondern versuchen, objektiv zu denken. Dabei hilft Wissenschaft. Sie ist mein treuer Begleiter, seitdem ich Naturwissenschaft studiert habe. Sie schafft manchmal Abstand vom Herumkrebsen in eingefahrenen Überzeugungen. Ein guter Freund und Kollege nannte Wissenschaft die »Leitplanken für unser Denken«. Aber keine Sorge, es geht in diesem Buch nicht um Naturwissenschaft, sondern um die Frage, warum die Welt so ist, wie sie ist, und ob wir mit objektivem Wissen und Denken vielleicht Abstand gewinnen und so manchmal einen klareren Überblick und somit eine andere Perspektive auf unsere Welt gewinnen können.
Seien Sie also bereit, Abstand zu gewinnen und vielleicht Ihre Perspektive zu wechseln.