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2 – OCKHAMS RASIERMESSER


Was ist in unserer Welt wahr, was ist falsch? Im Dickicht unzähliger Meinungen im Internet hilft oft nur eines, Ockhams Rasiermesser.

Warum ist es zur neueren Weltwirtschaftskrise gekommen? 1000 Experten, 1000 Meinungen. Welche ist die richtige? Was soll man glauben, wenn sich selbst die Experten uneins sind? Eine gute Antwort auf diese uralte Frage stammt von dem Philosophen und Mathematiker René Descartes (1596–1650): »Als ich überlegte, wie viel verschiedene Ansichten über die gleiche Sache es geben kann, deren jede einzelne ihren Verteidiger unter den Gelehrten findet, und wie doch nur eine einzige davon wahr sein kann, da stand für mich fest: Alles, was lediglich wahrscheinlich ist, ist wahrscheinlich falsch.«

WURDE DIE WELT AM 23. OKTOBER 4004 V. CHR. GESCHAFFEN?

Ein guter Anfang, aber meist ist die Situation so, dass die Verfechter einer Theorie die ihre nicht nur als wahrscheinlich, sondern als absolut glaubwürdig darstellen, sogar mit Beweisen. Was dann? Hier ein Beispiel. Die Bibel behauptet, die Welt sei in sieben Tagen erschaffen worden. Findige Gläubige haben versucht, das genaue Datum des ersten Tages der Erschaffung der Welt auszurechnen, indem sie all die Jahre, die zwischen der Erschaffung der Welt und Christi Geburt, wie sie angeblich aus den Geschichten im Alten Testament folgen, zusammenzählten. Einer, der es nach eigener Aussage ganz genau machte, war der Erzbischof von Armagh in Irland, James Ussher, im Jahr 1658. Er behauptete: »Der Beginn der Zeit fiel auf den Beginn der Nacht, die dem 23. Tag des Oktobers im Jahr 4004 v. Chr. vorausging.« Damit würde sich das Jahr der Erschaffung der Welt im Jahr 2018 zum 6021. Mal jähren (für alle, die meinen, es wäre das 6022. Mal: Es gibt kein Jahr 0 unserer Zeitrechnung! Auf das Jahr 1 v. Chr. folgte das Jahr 1 n. Chr.).

Damit wüssten wir es also ganz genau, wenn es nicht diese penetranten Paläontologen gäbe (das sind die, die alte Knochen vergangener Lebewesen studieren), die der Kirche die Knochen von Dinosauriern und unseren Vorfahren präsentieren und behaupten: Diese Knochen sind weit älter als 6021 Jahre, und das ist der Beweis, dass die Bibel nicht recht hat. Ist das ein Beweis? Kein unumstößlicher, denn man könnte einwenden und fragen: Woher wisst ihr, dass die Knochen wirklich älter als 6021 Jahre sind? Dann würden die Paläontologen komplizierte Gründe vorbringen, wie die Radiokarbonmethode und geologische Bestimmung usw. Das alles könnte richtig sein. Ist das aber ein zweifelsfreier Beweis? Nein, sagen die religiösen Fundamentalisten in den USA, die sogenannten Kreationisten, denn ihr Argument lautet: Gott hat diese alten Knochen mit genau diesen Eigenschaften und genau so an den Fundorten platziert, dass die Paläontologen verführt werden anzunehmen, die Tatsachen wären so, wie sie sagen. Tatsächlich existierte aber nichts vor dem 23. Oktober 4004 v. Chr. Man mag über dieses kirchliche Argument schmunzeln. Doch Schmunzeln ist kein Gegenbeweis. Das Argument der Paläontologen ist für die meisten von uns zwar sehr plausibel, aber eben nicht unumstößlich. Also: Wo ist der zweifelsfreie Beweis, dass die Welt älter als 6021 Jahre ist? Nun, den gibt es nicht. Genauso wenig, wie die Kirche zweifelsfrei beweisen könnte, dass die Welt nur 6021 Jahre alt ist.

VERGANGENHEIT IST NICHT BEWEISBAR

Damit haben wir eine wichtige Erkenntnis gewonnen: Es gibt keinen hundertprozentigen, zweifelsfreien Beweis für Tatsachen, die in der Vergangenheit liegen. Das sollte uns nicht überraschen, denn Vergangenheit existiert nicht, nirgendwo, weshalb wir nie Reisen in die Vergangenheit machen werden können (siehe den Artikel Darum gibt es bei Zeitreisen nur einen Vorwärtsgang in meinem Buch Höllenritt durch Raum und Zeit). Sie existiert nur in unserem Kopf. Das Einzige, was existiert und beweisbar ist, ist die Gegenwart. Denn wenn ich beispielsweise beweisen muss, dass der Himmel blau ist, brauche ich nur zum Himmel zeigen und sagen: »Da, blau.« Wie beweist man aber Tatsachen, die in der Vergangenheit liegen und inzwischen vergangen sind? Man kann dann versuchen, mittels einer argumentativen Kette einen Kausalzusammenhang zwischen den jetzigen Tatsachen und den vermeintlichen Tatsachen in der Vergangenheit möglichst plausibel herzustellen. Zu zeigen, dass diese Kette zweifelsfrei wahr ist, ist aber schier unmöglich. Genau das ist der Haken.

Bedeutet das, wir können keine glaubwürdigen Aussagen über unsere Vergangenheit machen? Doch, das können wir. Dazu müssen wir aber ein wenig in den Wissenschaften stöbern. Die Wissenschaftler haben nämlich ein ähnliches, grundlegendes Problem: Wissenschaftliche Theorien lassen sich nicht beweisen. Sie sind nur mehr oder weniger wahrscheinlich. Trotzdem waren die Wissenschaften in den vergangenen Jahrhunderten sehr erfolgreich, die Wahrheiten in der Natur aufzuspüren. Es muss also Verfahren geben, Wahres von Falschem zu unterscheiden.

Es gibt in der Tat zwei grundlegende Verfahren. Da ist zunächst der Falsifikationismus, das Verfahren zum Beweis sogenannter All-Aussagen, also von Theorien über unsere Welt, die für sich beanspruchen, ausnahmslos wahr zu sein. Dieses Verfahren wurde von dem Philosophen Karl Popper (1902–1994) genauestens beschrieben und basiert auf dem Prinzip der Falsifizierbarkeit von Theorien. Dieses Prinzip untersucht die Frage »Was ist eine gute Theorie, und wann ist sie wahr?«. Das ist für unsere Alltagsprobleme aber meist irrelevant. Was wir suchen, ist ein Prinzip, das die wahrscheinlich wahre Theorie aus dem Heuhaufen unwahrer oder lediglich wahrscheinlicher Theorien herausfischt. Das Verfahren, das man in den Wissenschaften dazu anwendet, ist berühmt geworden unter dem Namen »Ockhams Rasiermesser«. Manchmal nennt man es aber auch einfach nur das »beauty principle«.

WAHRSCHEINLICHES VOM UNWAHRSCHEINLICHEN RASIERMESSERSCHARF TRENNEN

Natürlich handelt es sich hier nicht um ein wirkliches Rasiermesser. Gemeint ist ein Verfahren eines Gelehrten namens Ockham, das es erlaubt, Wahres von Falschem (selbst wenn es logisch klingt) haarscharf, wie mit einem Rasiermesser, zu trennen. Wilhelm von Ockham (lateinisch: Occam), 1285–1347, war ein englischer Franziskaner, der sich als scholastischer Naturphilosoph betätigte. Ihm schreibt man die Worte zu: »Eine Vielheit darf nicht gesetzt werden, ohne dass es notwendig ist« (»Pluralitas non est ponenda sine necessitate«) und: »Dinge sollten nicht vervielfacht werden, ohne dass es notwendig ist« (»Entia non sunt multiplicanda sine necessitate«). Tatsächlich hat er diese Worte so nie gesagt, sondern nur etwas Ähnliches. Aber darum geht es hier nicht. Das, was diese Worte ausdrücken sollen, hat der Philosoph Ludwig Wittgenstein (1889–1951) einmal so ausgedrückt: »Suche das einfachste Gesetz, das mit den Fakten harmoniert.« Oder Einstein mit seinem unnachahmlichen Sprachwitz: »Eine Theorie sollte so einfach wie möglich sein, jedoch nicht einfacher.« Was ist damit gemeint? Nun, es ist diejenige Erklärung zu favorisieren, die die Fakten am einfachsten erklärt. Dabei ist »einfach« nicht so zu verstehen, dass die Theorie einfach erscheint, sondern, dass sie die wenigsten unbeweisbaren Annahmen macht.

Wenden wir nun dieses Rasiermesser auf das Problem des Weltalters an. Die Kirche bietet dazu eine durchaus mögliche Erklärung an, die aber von der nicht beweisbaren Annahme ausgeht, es gäbe einen Gott, der die Paläontologen hinters Licht führen will. Im Sinne Ockhams ist dies eine nicht notwendige, vervielfachende Annahme. Denn es gibt eine Theorie der Paläontologen, die ohne diese zusätzliche Annahme auskommt und in diesem Sinne einfacher ist. Damit ist die Theorie der Paläontologen zu bevorzugen und daher diejenige, die man bevorzugen sollte. Wohlgemerkt, Ockhams Rasiermesser ist kein Beweismittel, sondern nur ein Argument, wenn auch ein starkes, für die Auswahl der richtigen Theorie aus vielen, wenn es keine weiteren Argumente gibt. Doch selbst wenn es tiefergehende fachliche Argumente für oder gegen andere Theorien gibt: Wer möchte sich schon die Mühe machen, in die Untiefen logischer Beweise hinabzusteigen? Für eine schnelle Orientierung hilft Ockhams Rasiermesser, und das liefert zumeist sogar auch die richtige Antwort. Was will man mehr?

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