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Оглавление20 SEKUNDEN
BIS ZUM
BLACKOUT
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Wie lange kann der ungeschützte menschliche
Körper im All unbeschadet überleben?
Die Frage, wie lange ein ungeschützter menschlicher Körper im All überleben könnte, wird immer wieder an mich gestellt. Über die vergangenen Jahre habe ich diese Frage immer wieder bekommen, weil es nirgendwo eine genaue Antwort gibt. Man findet meist nur ungenaue Vermutungen, aber nichts Verlässliches. Vor 20 Jahren interessierte mich die Frage selbst, und ich fand in der Bibliothek des Deutschen Museums medizinische Berichte der Deutschen Luftwaffe von Versuchen an Menschen aus dem Zweiten Weltkrieg. Das damalige Interesse galt den Auswirkungen vom plötzlichen Druckverlust in der Kabine eines Kampfjets, aber die Erfahrungen sind natürlich ebenso auf ähnliche Situation im All übertragbar.
DAMIT RECHNET DIE NASA
Was passiert also, wenn ein menschlicher Körper dem Vakuum des Weltraums ausgesetzt ist? Das hängt davon ab, wie genau der Übergang in diesen ungeschützten Zustand aussieht. Nehmen wir an, ich mache einen Raumspaziergang und werde von Mikro-Meteoriden, nur wenige Millimeter groß, getroffen – ein Szenario, das die NASA durchaus erwägt. So ein Meteorid schlägt wegen seiner extrem hohen Geschwindigkeit von etwa 30.000 km/h den Anzug und meinen Körper glatt durch und hinterlässt ein ebenso großes Loch. Wenn ich Glück habe, sind meine Extremitäten getroffen, also kein größeres Problem. Ein bisschen Blut und eventuell Knochendurchschuss – wird schon wieder. Wichtiger ist, dass das Leck im Anzug so klein ist, dass das Lebenserhaltungssystem den Druckverlust ausgleichen kann und man etwa 30 Minuten Zeit hat, wieder zurück in die ISS zu kommen.
Glatter Durchschlag eines kleinen Mikro-Meteoriden durch die Thermalisolierung des Zarya-Moduls auf der ISS. (Bild: NASA)
DER ABSOLUTE WORST CASE
Nehmen wir den schlimmsten denkbaren Fall: Ein größerer Asteroid reißt mir einen Arm ab. Der Anzug ist nun komplett offen, und der Druck sackt innerhalb von ein bis zwei Sekunden auf nahezu null ab. Das ist für meinen Körper eine Katastrophe. Noch bin ich aber bei vollem Bewusstsein und weiß, ich habe etwa 60 Sekunden, bevor ich sterbe. Innerhalb dieser einen Minute passiert Folgendes: Der Druckverlust führt zur schlagartigen Ausdehnung aller Luftkammern des Körpers. Davon hat der Körper drei Stück. Zwei Mittelohren und die Lunge. Damit mir alle drei nicht platzen, muss ich wie beim Auftauchen aus großen Wassertiefen sofort den Mund öffnen, also nicht versuchen, die Luft anzuhalten! Der Luftdruck im Mittelohr entlädt sich dann über die Eustachi-Röhre und der Lungendruck über die Luftröhre. Ansonsten passiert äußerlich erst einmal nichts, denn der Körper besteht ansonsten aus Wasser und festen Stoffen, und die können sich nicht ausdehnen.
HILFE, MEIN KÖRPER KOCHT!
Sollten die Eustachi-Röhren wegen einer Halsentzündung geschwollen sein, dann kann die Luft aus dem Mittelohr nicht entweichen, und bei schnellem Druckverlust platzen mir die beiden Trommelfelle. Nun ja, das tut zwar sauweh, aber in der Situation gibt es Schlimmeres und zwar Folgendes: Nach etwa sechs Sekunden beginnen die Körperflüssigkeiten, also im Wesentlichen mein Blut, zu kochen, denn der Siedepunkt von Wasser hängt stark vom Umgebungsdruck ab. Bei 1 bar ist er bekanntermaßen 100 °C, und bei den 0,32 bar auf dem Mount Everest 71 °C. Blut bei 37 °C Körpertemperatur kocht daher unterhalb von 0,060 bar. Die entstehenden Bläschen in den Adern stoppen den Blutfluss, der Körper erleidet also einen instantanen Kreislaufkollaps. Davon merke ich zunächst lediglich ein Kribbeln im Körper. Die ersten kleinen Äderchen beginnen zu platzen und später langsam auch die größeren. Wegen der ausbleibenden Sauerstoffversorgung verwirren sich nach 15 Sekunden meine Sinne, und nach 20 Sekunden tritt der Blackout, also Bewusstlosigkeit, ein. Die Schmerzen, die nun durch die zunehmende Blasenentwicklung von Stickstoff in den Gelenken auftreten würden, merke ich dann schon nicht mehr.
RECOVERY … ODER AUCH NICHT
Wenn spätestens nach 60 Sekunden der Druck wieder auf normale Werte ansteigt, rekollabieren die Blasen, der Körper nimmt wieder seine normalen Funktionen auf, und es bleiben angeblich keine Langzeitschäden zurück. Ist die Sauerstoffversorgung länger als zwei bis drei Minuten unterbrochen, treten zunehmend irreparable Hirnschädigungen ein. Diese Erkenntnisse stammen von Herzinfarktopfern.