Читать книгу Höllenritt durch Raum und Zeit - Ulrich Walter - Страница 6

Оглавление

HÖLLENRITT INS ALL –

ABGESCHNITTEN

VON DER WELT

1

Kennedy Space Center, Florida/USA, Shuttle Launch Pad 39A,

26. April 1993, 9:50h EST (Eastern Standard Time,

Standardzeit an der Ostküste der USA)

Da liege ich nun, auf dem Rücken, die Beine angewinkelt nach oben, etwa 60 Meter über der Erde im Middeck unserer 2000 Tonnen schweren Columbia, eine der amerikanischen Raumfähren, die uns sieben Astronauten in wenigen Sekunden in den Weltraum bringen soll. Dies ist der Ort und der Zeitpunkt, auf den ich jahrelang hingearbeitet habe. Ich schließe das Visier und … höre nichts mehr! Nur noch den aufs Notwendigste reduzierten, stakkatoartigen Funkverkehr des Air-to-Ground kann ich wahrnehmen. Man ist wie von der Außenwelt abgeschnitten. Man hört nichts mehr, und im Middeck, wo mein Platz beim Start ist, sieht man auch nichts, bis auf die Schubladenwand vor, beziehungsweise über einem, auf die man dauernd starren muss und von der man hofft, dass sie beim Start nicht zufälligerweise eine ihrer Schubladen entlässt.


Start des Space Shuttles Columbia auf der Startrampe 39A des KennedySpace Centers. (Bild: NASA)

Doch dann der Start! Sechs Sekunden vor dem Abheben werden die drei Flüssigkeitstriebwerke am Shuttle gezündet. Dadurch schwingt das senkrecht stehende Shuttle leicht zur Seite, weil es über Bolzen an den beiden weißen, einige Meter abgesetzten Feststoffboostern noch am Boden gehalten wird. Daher schwingen in diesen sechs Sekunden auch die Astronauten wie in einer Schiffsschaukel zunächst etwa 1,5 Meter nach vorn und dann wieder zurück – was man sehr deutlich spürt. Dabei vibriert und schüttelt das Shuttle dermaßen, dass es einem durch Mark und Bein geht, genauso wie bei einem Erdbeben.

Und dann hört man über Funk nur: »SRB Ignition – Lift-Off!«

Die Solid-Rocket-Booster (Feststoffbooster) werden gezündet womit gleichzeitig das Shuttle abhebt. Ich, der drinnen sitzt, höre nichts von dem überwältigenden Gedonner, das draußen den Zuschauern das Zwerchfell beben lässt (das IMAX-Kino übertreibt hier etwas) und vom hellen, peitschenden Krachen der Feststoffbooster (das ich andererseits im IMAX vermisse).

Das Shuttle hat abgehoben … und was spürt man? Von 3 g, der berüchtigten starken Beschleunigung von der dreifachen Stärke der Erdanziehung, keine Spur! Der Schub der Antriebe, immerhin zweimal 1200 Tonnen Schub der beiden Feststoffraketen plus dreimal 185 Tonnen Schub der drei Flüssigkeitsantriebe, übersteigt die 2000 Tonnen des ganzen Systems zwar um großzügige 50%; aber die Beschleunigung ist nicht stärker als die bei einem Flugzeugstart.

Die Feststoffraketen sind jetzt die Arbeitspferde, die das Shuttle durch die Wolkendecke drücken, und ihre Urgewalt bestimmt das Erlebnis der ersten zwei Minuten des Aufstiegs. Ihr leicht ungleichmäßiges Abbrennen, bedingt durch eine inhomogene Verteilung des Treibstoffes, versetzen dem Shuttle schnelle, starke Beschleunigungsschläge, die es durch und durch erschüttern und zu unregelmäßigem Schwingen anregen. Alles an Bord des Shuttles wird gnadenlos durchgeschüttelt. Es ist ein Ritt wie mit 100 Sachen über Kopfsteinpflaster – und es herrscht schweigende Stille. Nur ganz wenige Worte werden zwischen der Missionskontrolle und dem Commander gewechselt. Jeder der Beteiligten weiß, dass dies der mit Abstand kritischste Moment der ganzen Mission ist. Wenn jetzt etwas Unvorhergesehenes passiert, gibt es absolut keine Rettung. Auch die vielen Verbesserungen nach der Challenger-Katastrophe im Jahre 1986 haben daran nichts geändert. Feststoffraketen sind wie Silvesterraketen – sie lassen sich nicht abschalten. Selbst ein Absprengen der Booster würde nichts helfen! Ihre Schubkraft ist so enorm, dass der hohe Luftwiderstand beim plötzlich ausbleibenden Schub dem ganzen Shuttlesystem einen solchen Schlag versetzen und das gesamte Shuttle auseinanderbrechen würde! Sollte sich also, wie damals bei Challenger, der Feuerstrahl eines porös gewordenen Boosters wie ein Schneidbrenner in den externen Tank brennen – es ließe sich damals wie heute nichts dagegen tun. In diesen zwei Minuten ist die Besatzung dem Shuttle auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Daher diese wortlose Stille.


Die Columbia auf ihrem Weg ins All durchschlägt die Wolkendecke in etwa 5 km Höhe. (Bild: NASA)

AB JETZT KEIN ZURÜCK MEHR

Die Beschleunigung, die Kraft, mit der man in den Sitz gepresst wird, hat zwischenzeitlich in dem Maße langsam zugenommen, in dem das Shuttlesystem um den abgebrannten Treibstoff leichter geworden ist. Kurz vor dem Abschlussbrand der Feststoffbooster, genau zwei Minuten nach dem Abheben, sind 1,8 g, also das 1,8-fache der Erdschwere, erreicht. Der Schub der ausgebrannten Booster geht schnell auf null zurück, und gleich darauf werden sie abgesprengt.

Ist das vorüber, geht ein Aufatmen durch das Shuttle. Der eine oder andere kann sich ein »Jeahhh« nicht unterdrücken und jeder denkt genauso: Die größte Gefahr ist vorbei! Die Probleme, die jetzt noch auftreten könnten, lassen sich alle irgendwie meistern, sie wären nicht mehr so lebensbedrohlich.

Nach diesem befreienden Schubloch, in dem die Booster abgesprengt wurden, erzeugen nur noch die Flüssigkeitsantriebe den Schub. Ihr Abbrand ist wesentlich gleichmäßiger als der der Booster. Man hat außerdem schon die dichten, turbulenteren Bereiche der Atmosphäre verlassen. Es sind kaum mehr Vibrationen zu spüren. Die ganze harmonische Kraft der Antriebe äußert sich jetzt ausschließlich in dem stetig zunehmenden Andruck in den Sitz. Nach 4 Minuten 20 Sekunden kommt der »Negative Return Call« (was bedeutet, dass im Ernstfall eine Rückkehr nach Kennedy Space Center und eine dortige Landung nicht mehr möglich wäre) von der Missionskontrolle Houston.

Nach insgesamt 7 Minuten, wenn der riesige, rostrote externe Tank zu 90% entleert und das Shuttlesystem weniger als 200 Tonnen leicht geworden ist, erst dann hat der Andruck durch den Schub der drei Flüssigkeitsantriebe auf 3 g zugenommen, sodass man sich zwingen muss zu atmen, weil es einfach angenehmer ist, nicht zu atmen – trotz Atemnot –, als durch die Atmung den Brustkorb mitsamt dem schweren Anzug nach oben zu stemmen.

Die Antriebe werden nun gedrosselt und es geht noch 1½ Minuten bei diesen 3 g weiter. Dann, kurz bevor der Tank vollkommen entleert ist, lässt der Commander wissen: »In 10 seconds we have MECO« (Main Engines Cut-Off), und innerhalb nur weniger Sekunden fährt er den vollen Schub auf null herunter. Genauso plötzlich entlädt sich der Andruck von 3 g in die Schwerelosigkeit – ich bin im Weltraum!


Nach nur 8½ Minuten ist das Shuttle im Weltraum und schwebt mit weit geöffneten Ladebuchtluken (zur Kühlung) in nur etwa 350 km Höhe. (Bild: NASA)

Hier im Weltraum ist man sofort eingefangen von der Schwerelosigkeit, einem Gefühl, das es auf der Erde in dieser Form nie gibt. Zunächst macht sich diese neue Erfahrung bei etwa 70% aller Raumfahrer gar nicht wohltuend bemerkbar, sie leiden deswegen vielmehr an der Weltraumkrankheit. Man merkt es auch selbst: Bei jeder schnellen Drehung des Körpers, bei jeder schnellen Kopfbewegung wird einem mulmig. Als erste Gegenmaßnahme ziehen viele unwillkürlich den Kopf zwischen die Schultern, was die Kopfbewegungen stark einschränkt. Das mildert, verhindert jedoch nicht grundsätzlich den Gang des letzten Essens nach oben. Zurückhalten macht die Sache nur noch langwieriger. Ein Griff zur Tüte in der Brusttasche und einmal den Dingen freien Lauf lassen. Bei vielen gesellen sich noch Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, anhaltendes Unwohlsein dazu. Die, bei denen absolut nichts mehr geht, lassen sich von ihrem Kollegen eine Spritze mit Phenagran (ein Seditativ) setzen, von ihrem Commander vorläufig »arbeitsunfähig« schreiben und suchen sich zum Auskurieren der Raumkrankheitssymptome für die nächsten Stunden ein ruhiges Eckchen – am besten ihre Schlafkoje.

Nun die gute Nachricht: Nach spätestens 36 Stunden ist alles vorbei, und dann kann man die Schwerelosigkeit so richtig genießen. Schließt man nun in Ruhe die Augen und lässt sich langsam durch den Raum driften, die Arme und Beine in ganz lockerer Haltung leicht angewinkelt, dann gibt es nichts, was einen noch beeinflussen könnte, und man kann sich vollkommen auf das eigene Empfinden konzentrieren.

DAS GEFÜHL DER SCHWERELOSIGKEIT

Ich hatte zunächst das Gefühl, als wiederhole sich ein Traum. In meiner Jugend träumte ich oft, ich liefe vor unserem Haus eine abschüssige Straße hinunter. Ich wurde leichter und leichter, und irgendwann hob ich ab und schwebte. Ich flog nicht, ich schwebte, und nirgendwo sonst hatte ich im täglichen Leben je dieses Gefühl. Und genau dieses Gefühl, das ich während des Traumes hatte, ist nahezu identisch zu dem in der Schwerelosigkeit. Es ist unter Psychologen bekannt, dass der Traum vom Laufen, Abheben und Schweben unter den Menschen sehr verbreitet ist. Ist also dieser Traum eine unbewusste Erfahrung der Schwerelosigkeit? Wie kann der Körper etwas sehr Realistisches träumen, was er nie wirklich erfahren hat? Oder ist dieser Traum eine lustvolle Variante des Verstandes auf die kurze, aber gefährliche Schwerelosigkeitserfahrung »Fallen« im Alltag?


Der Autor Ulrich Walter schwerelos auf seiner D2-Shuttle-Mission im Jahre 1993. (Bild: NASA/Ulrich Walter)

Was empfindet man im Zustand der Schwerelosigkeit? Zunächst fällt auf, dass etwas Wichtiges fehlt. In welchem Bezug zur Umgebung befinde ich mich gerade? Wo ist die Decke mit den Lampen und wo der Boden? Ich weiß es nicht mehr. Ich habe auch kein Gefühl mehr dafür – und ein Oben und Unten gibt es tatsächlich nicht mehr! Diese fehlende Beziehung ändert mein Empfinden radikal. Ich fühle mich nicht mehr in eine Welt eingebettet, die mich gerade noch umgab, sondern alles Sein reduziert sich nur noch auf mich. Wie kann es etwas anderes geben, zu dem ich keinerlei Beziehung mehr habe? Und selbst wenn es da irgendwo etwas gibt, ist es dann nicht dasselbe, als wenn es das nicht gäbe? Ich habe das elementare Gefühl, allein zu sein. Ich bin die Welt – sonst nichts!

Diese Hinwendung auf das Ich lässt einen nur noch mehr in sich hineinhorchen. Was hat sich an mir geändert? Mir fällt auf, dass nichts mehr belastet. Auch die Kleidung, die einen immer noch wärmt, ist schwerelos und schwebt wie eine Hülle um den eigenen Körper und liegt fast nirgendwo mehr auf. Das ist so eigenartig und ungewöhnlich, dass man mit den Schultern ein wenig wackelt, um zu fühlen, ob die Kleidung noch da ist.

Aber nicht nur die Last der Kleidung fehlt, auch die Last des eigenen Körpers ist verschwunden. Kein Körperdruck mehr auf die Fußsohlen wie beim Stehen oder auf den Allerwertesten beim Sitzen auf der Erde. Die Arme liegen nirgendwo auf wie sonst immer. Es ist schon eigenartig: Erst in dieser Situation, wo man absolut nichts mehr vom Körper verspürt, erkennt man umfassend, welche Belastungen der Körper auf der Erde wirklich hat, obwohl es doch genau umgekehrt sein sollte! Erst nach dieser Erfahrung wird mir heute das kaum spürbare Herunterhängen der Wangen bewusst. Und dieses leichte Schmetterlingsgefühl in meiner Magengegend ist, wie ich heute weiß, das Ziehen der Eingeweide unter dem Einfluss der Erdschwere. In der Schwerelosigkeit ist einfach absolut nichts mehr davon da. Man ist im wahrsten Sinne des Wortes »vollkommen unbeschwert«.

Vollkommen unbeschwert. Woran merke ich dann eigentlich noch, ob ich einen Körper habe, wenn nicht an diesen äußeren Eindrücken? Und die eigene Antwort ist verblüffend: Es scheint so, als gäbe es ihn tatsächlich nicht mehr! Nichts, aber auch gar nichts, deutet mehr auf ihn hin. Eigenartig, ein Sein ohne Körper! Aber was ist denn dann noch das, was ich als mein Sein empfinde? Auf der Erde hatte ich meinen Körper, und im Nachhinein erst merke ich, wie ich in der Erdschwere mein eigenes Sein doch nur über die Erfahrung des eigenen Körpers definierte. Ich wackle leicht mit den Schultern und tippe mit beiden Daumen auf die Zeigefinger. Jawohl, da ist er noch – da bin ich noch! Doch nun, ohne ihn, bin ich noch da? Natürlich bin ich noch da, ich spüre es, sonst könnte ich mir diese Frage nicht stellen! Aber genau das ist es! Das einzige, was mir bleibt, was mich ausmacht, ist das Denken. Ich denke, also bin ich! Das ist das Besondere an der Schwerelosigkeit: Sie reduziert, auf einen selbst, auf den Geist.

UND DANN IST DA NOCH DER UNBESCHREIBLICH SCHÖNE BLICK AUF DIE ERDE

Erwartungsvoll schaue ich hinaus und sehe … Wasser! Nichts als tiefblaues Wasser! Meine tägliche Erfahrung, nach der die Erde praktisch nur aus Land besteht, wird zutiefst erschüttert. Zwei Drittel der Erdoberfläche sind Wasser und nicht Land! Hier begreife ich es wirklich. Wahrscheinlich ist es der Pazifische Ozean und dabei wird es für die nächste halbe Stunde, also die nächsten 15.000 km, auch bleiben. Das Wenige, was man sieht, reicht aber vorerst zum Staunen. Strahlend weiße Wolkenformationen verschleiern kunstvoll das Blau des Meeres. Man könnte meinen, die Erde im Weltraum sei einer bayerischen Laune entsprungen: Die Wolken zusammen mit dem Meer bilden eine Komposition in den bayerischen Nationalfarben vor dem pechschwarzen Hintergrund des Alls.

Aus der Entfernung von 300 km ist die Erde zwar noch nicht als ganze Kugel zu sehen, aber die Erdkrümmung läuft bei richtiger Anordnung der Fenster gerade am oberen Gesichtsfeld entlang. Jetzt sieht man auch erstmals, was es bedeutet, dass der Durchmesser der Erde zwar 12.750 km beträgt, die Atmosphäre aber nur etwa 20 km dünn ist. Bei diesem ins Auge springenden Größenvergleich erscheint unsere irdische Schutzhülle wie eine hauchdünne Reifschicht, so zerbrechlich, dass man glauben könnte, der geringste Windhauch genüge, sie einfach wegzufegen und jede Berührung, jede kleinste Beeinflussung hinterließe schwere Kratzer. Und in dieser gebrechlichen, zarten Schicht spielt sich all das ab, was wir Leben nennen. Das Leben, ein Balanceakt zwischen der mächtigen, undurchdringbaren Masse Erde und – ein Blick zur Seite – dem lebensfeindlichen Nichts des Alls! Der Mensch bewohnt nicht einmal die ganze Erde. Die Menschheit ist lediglich ein unscheinbarer Bazillus auf einer die Erde umspannenden Seifenblase im unendlichen Meer des Universums.


Die Südspitze von Grönland umgeben vom Atlantischen Ozean. Die optisch nur 20 km dicke Erdatmosphäre liegt wie eine Rauhreifschicht auf der Erde. (Bild: NASA/Ulrich Walter)

Nach einigen Tagen kennt man jedoch dann »seine« Erde, und man beginnt, Zusammenhänge zu sehen, übergreifende Eigenschaften, wie man sie vorher nie erwartet hätte. Man hat beispielsweise gelernt, Kontinente an ihren Farben zu erkennen. Wann immer man hinunterschaut und Land sieht, weiß man, über welchem Erdteil man sich gerade befindet, denn jeder Erdteil hat seine charakteristische Farbe! Südamerika etwa ist dunkelgrün. Die Farbe des Regenwaldes dominiert diesen Kontinent. Afrika mit seiner ausgedehnten Wüste Sahara und den angrenzenden Steppen und Savannen präsentiert sich in einem ockerbraunen Ton. Australien: der gesamte Kontinent ein tiefes Purpurrot! Indonesien mit seinen vielen Inseln, dessen Regenwald stets im Dunst liegt, ebenfalls ein dunkelgrünes Farbmeer. Europa? Im Süden noch ein freundliches Hellbraun, ansonsten nur graugrün – sollten die ebenso trostlosen Wolken ausnahmsweise einmal den Blick auf den Boden freigeben. Selbst die Wolken, ein trostloses Grau. Und hier beginnt man erstmals, die einfache aber zutreffende astronautische Faustregel abzuleiten: Dort, wo der Mensch nicht leben kann, in den Eis- und Sandwüsten, ist die Welt wunderschön und dort, wo der Mensch lebt, leben kann, ist die Welt nicht oder auch nicht mehr so schön!


Die Seen von Ounianga in der Sahara im Norden des Tschad. (Bild: NASA)

Es ist darüber hinaus sehr befriedigend zu sehen, wie nichtig die anscheinend wichtigen menschlichen Probleme sind. Die Nachrichten im Fernsehen, voll von staatlichen und kriegerischen wie diplomatischen Auseinandersetzungen. Aus dem Weltraum hat die Erde ein ganz anderes Gesicht. Für sie zählt der Mensch nichts. Sie käme auch gut, vielleicht besser, ohne ihn aus. In ihrer stoischen Ruhe sind die Menschen für sie von der Bedeutung, die Bakterien für den Menschen haben. Staatliche Grenzen? Nichts dergleichen prägt die Erde. Grenzen existieren nur in unserem Kopf, infiltriert seit den ersten Schultagen! Was zählt, sind Länder und Kontinente. Zwei Ausnahmen vielleicht: Die schnurgerade Grenze zwischen Israel und Ägypten – sie verläuft sichtbar am östlichen Rande des Sinai, und die ebenso geradlinige Grenze zwischen Angola und Namibia, 200 km nördlich der Etosha-Pfanne in Südwest-Afrika. Hier wie dort ist es jedoch nicht die Grenze selbst, die erkennbar wird, sondern der krasse Gegensatz zwischen der ausgedehnten Landnutzung zwischen den angrenzenden Staaten.

FASZINATION DER NACHT

Der Eintritt der dreiviertelstündigen Nacht mag für den Astronauten, der einfach nur die Erde betrachten will, im ersten Augenblick verschenkte Zeit sein. Wenig später, wenn sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, ist die Erde bei Nacht ein ganz besonderes Schauspiel.


Sonnenuntergang aufgenommen vom Autor Ulrich Walter während seiner 160 Erdumrundungen. (Bild: NASA/Ulrich Walter)

Da sind zunächst die abendlichen Wärmegewitter, die sich bis in den irdischen Morgen hineinziehen. Das Lichterspiel der durch die Wolken gedämpften Blitze erinnert mich in zweifacher Hinsicht an das vom Flugzeug aus zu sehende Aufblitzen detonierender Bomben bei Nachtangriffen in alten Filmen des Zweiten Weltkriegs. Trotz ihrer zerstörerischen Wirkung geht von ihnen ein magischfesselnder Zauber aus. Ohne Zusammenhang blitzt es in schnellem Wechsel, mal hier, mal dort, auf. Manchmal bildet sich aber ein Blitz, der bis zu hundert Kilometer weit durch die Wolken zuckt und dabei eine schlängelnde Spur zieht. Im Gegensatz zum furchterregenden Gewitter auf der Erde hinterlässt ein Gewitter aus dem Weltraum betrachtet einen eher gespenstischen Eindruck, denn ihm fehlt hier oben eine sehr irdische Zutat – der Donner!


Nachtaufnahme vom Nildelta (Bildmitte), das mit dem gleißend hellen Kairo in den punktierten (Städte) Streifen des Niltals (unten rechts) übergeht. Beim hellen Küstenstreifen oben rechts handelt es sich um Israel und Libanon mit der prominenten Stadt Tel Aviv direkt an der Mittelmeerküste (schwarzer Rand links vom Streifen). Der kürzere helle Streifen weiter östlich (rechts) ist der Großraum Jerusalem. Am linken oberen Bildrand die Türkei und darunter die Insel Zypern. (Bild: NASA/Ulrich Walter)

Sollten Außerirdische nach dem Augenschein je den Schluss ziehen, die Erde sei mit intelligenten Wesen bewohnt – wobei sich darüber streiten ließe, ob es wirklich Intelligenz auf der Erde gibt –, dann kommt ihnen diese Einsicht sicherlich, wenn es Nacht ist auf der Erde. Denn nachts, wenn nicht gerade Wolken die Sicht nehmen, bestimmt der Mensch das Bild der Erde.

Diese grellen, scharf begrenzten Lichter der Städte, verbunden mit ihren Vorstädten durch die Spinnenfäden der Straßenlichter, sind ein markantes Zeichen für die Existenz höherer Wesen. Der Mensch hat sich die Nacht untertan gemacht. Nirgendwo sieht man dies deutlicher als aus dem All. Die Zivilisation präsentiert sich als verzweigtes Lymphsystem, das das Land durchzieht und das Meer rändert, weil gerade Küsten von Menschen bevorzugt bewohnt werden.

Milchstraße. Dieses Wort erhält seine ureigenste Bedeutung im Weltraum zurück. Um die Pracht des Sternenhimmels in voller Schönheit genießen zu können, müssen die Lichter auf dem Flugdeck allerdings ganz heruntergefahren werden. Das Faszinierende dabei ist nicht nur die enorme Vielzahl von Sternen, die sich dabei offenbart, sondern ihre erbarmungslose Klarheit. Wie feinste Nadelstiche in einem von hinten beleuchteten Samtteppich, so unverrückbar festgenagelt wirken sie am Firmament. Kein Funkeln haucht ihnen scheinbares Leben ein. Ihr stummes Dasein drückt einfach nur die unendliche Stille des Universums aus.

So schön der Blick auf die Erde auch sein mag, den allergrößten Teil der Missionszeit hat man als Astronaut und insbesondere als Wissenschaftsastronaut eigentlich der Arbeit geopfert. Aber es ist wie immer mit der Erinnerung: Nur die schönen und eindringlichen Erlebnisse bleiben haften, die monotone Arbeit wird schnell vergessen, und die Zeit vergeht im wahrsten Sinne des Wortes wie im Fluge.

ABSCHIED VOM ALL

Nach zehn arbeitsreichen, aber auch wunderbaren Missionstagen begebe ich mich zu meinem Sitz und bereite mich für den Wiedereintritt in die Erdschwere vor, indem ich wie beim Start die Checkliste durchlese, insbesondere die Cue-Card für den Notfall. Das gibt mir die Beruhigung, dass man alles fest im Griff hat.

Zum Schluss noch eine Vorsichtsmaßnahme: Damit beim ersten Aufstehen nach der Landung der Kreislauf nicht gleich zusammenbricht, sind die Astronauten angehalten, die Flüssigkeitsmenge im Körper stark zu erhöhen. Dafür müssen mehrere Salztabletten geschluckt und jede Menge Wasser nachgetrunken werden. Das Salz bindet das Wasser im Körper und lässt es nicht gleich wieder von der Niere ausscheiden. Auf jeden Fall ist diese Prozedur wesentlich angenehmer als mehrere Liter Salzwasser trinken zu müssen. Wir sind nun fertig für den Wiedereintritt in die Erdatmosphäre.

75 Minuten oder eine halbe Erdumkreisung vor der Landung dreht der Commander zunächst das Shuttle so, dass es mit dem Schwanz voraus fliegt. Für uns ist dies vollkommen belanglos, ja, man merkt es nicht einmal, da es in der Schwerelosigkeit kein Oben und Unten gibt. Exakt eine Stunde vor der Landung werden die Orbitantriebe gegen die Flugrichtung für drei Minuten gezündet, wobei die Orbitgeschwindigkeit um lediglich 300 km/h verringert wird: Statt 28.000 km/h fliegen wir jetzt also nur noch 27.700 km/h schnell. Diese scheinbar belanglose Änderung reicht jedoch aus, um das Shuttle auf einer leicht elliptischen Umlaufbahn in tiefere Schichten der Erdatmosphäre zu bringen.

Zwischenzeitlich hat der Commander das Shuttle wieder in die reguläre Fluglage gebracht und mit 35 Grad gegen die Flugrichtung angestellt. Das Shuttle verliert dabei zunehmend an Höhe, und der Bordcomputer steuert in dieser Phase des Anfluges das Shuttle so, dass die Geschwindigkeit über die nächste halbe Stunde konstant 27.700 km/h bleiben wird. Der Luftwiderstand in diesen Höhen wird also ausschließlich dazu genutzt, um die Flughöhe bei konstanter Geschwindigkeit abzubauen. Von dieser Anflugphase merkt man noch nicht viel. Die Luftwiderstandskräfte bleiben so gering, dass auch die entsprechenden Schwerekräfte noch unter 0,2 g bleiben, und da man mit den Gurten fest in den Sitz eingespannt ist, sind diese schwachen Kräfte noch nicht spürbar. Lediglich ein leicht zur Decke geworfener Gegenstand, zum Beispiel ein Kugelschreiber, lässt erkennen, wie tief man bereits in die Atmosphäre eingetaucht ist. Stößt er nicht mehr an die Decke, sondern kehrt er vorher seine Flugbahn langsam um, dann weiß man, es geht bergab.

Noch 25 Minuten bis zum Touchdown. Die Luftreibungskräfte haben stark zugenommen und bringen die Kacheln auf der Unterseite des Shuttle bei 1500 °C zum Glühen. Dabei wird die Luft so stark erhitzt, dass auch der Funkverkehr bis auf Weiteres abbricht. Vom Temperaturanstieg merkt man im Anzug kaum etwas. Man schwitzt vielleicht vor Aufregung, weil nun das Shuttle deutlich schüttelt. Die Luftdichte ist in dieser Höhe von 120 km so weit angestiegen, dass sich das Shuttle aerodynamisch verhält und die Schwerkräfte so stark zugenommen haben, dass der Anti-g-Anzug aufgeblasen werden muss. Der Anti-g-Anzug schützt durch den Druck von Luftpolstern auf Beine und Eingeweide vor einem Versacken des Blutes in den Unterkörper, und damit vor einer Blutunterversorgung, also einem Blackout des Gehirns. Dies ist der Zeitpunkt, wo der Commander die Steuerung des Shuttles übernimmt. Von diesem Punkt an reduziert er auch die Geschwindigkeit des Shuttles durch verschiedene Roll- und Kurvenmanöver.

12 Minuten vor Touchdown hat sich die Hitze an den Kacheln so weit verringert, dass der Funkverkehr wieder einsetzt. Das Shuttle ist jetzt in einer Höhe von 55 km und bei einer Geschwindigkeit von 12.000 km/h noch 900 km von der Landebahn der Edwards Air Force Base entfernt. Ich habe meinen Anti-g-Anzug nochmals kräftig aufgeblasen, weil die g-Belastung auf 1,3 g zugenommen hat. Das ist nach der Schwerelosigkeit im Weltall ungewohnt anstrengend. Man hört, wie die Ansagen des Commanders immer gepresster hervorgestoßen werden; auch er kämpft gegen die körperliche Schwäche an. Ich bin froh, dass ich sitze und mein Gewicht nicht im Stehen halten muss.

Noch 5 Minuten. Jetzt beginnt der eigentliche Anflug auf die Landebahn. Das Shuttle schießt in 25 km Entfernung, mit 2,5-facher Schallgeschwindigkeit und im schrägen Gegenanflug auf die Landebahn zu. Es führt dann ein vorher genau festgelegtes Kurvenmanöver durch, das es exakt auf die Richtung der Landebahn bringt. Der Commander braucht jetzt nur noch den Anstellwinkel des Shuttles so einzustellen, dass es im Gleitwinkel von 22 Grad, für einen Piloten fast wie ein Stein, in Richtung Aufsetzpunkt fliegt. Die Geschwindigkeit hat sich weiter auf 700 km/h reduziert. 30 Sekunden vor dem Aufsetzen zieht der Commander die Nase des Shuttles nach oben, was den Gleitwinkel auf 1,5 Grad reduziert und die Geschwindigkeit auf die Landegeschwindigkeit herabsetzt. Erst 15 Sekunden vor der Landung wird das Fahrwerk ausgefahren, weil die bisherige hohe Geschwindigkeit das Fahrwerk hätte abreißen können. Mit ziemlich genau 400 km/h setzt das Shuttle schließlich auf: Touchdown.


Die Landung des Space Shuttles auf der Edwards Air Force Base in Kalifornien/USA. (Bild: NASA)

Vom Aufsetzen hat man jedoch kaum etwas mitbekommen, so sanft hat der Commander das Shuttle gelandet. Nur durch das Herunterzählen der Höhe des Piloten war man im Bilde, wie weit es noch genau bis zum Aufsetzen ist. Der Commander hält die Nase des Shuttles jetzt nach dem Aufsetzen noch lange in den Fahrtwind, damit das Shuttle weiter an Fahrt verliert. Wenn das vordere Fahrwerk schließlich den Boden berührt, wird der Bremsfallschirm ausgefahren; seine effektive Abbremsung des Shuttles spürt man im Shuttle deutlich. Genau eine Minute nach dem Aufsetzen ist das Shuttle zum Stillstand gekommen. Ich lehne mich entspannt zurück und weiß: Die Erde hat uns wieder!

Höllenritt durch Raum und Zeit

Подняться наверх