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Lyse

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Freitag

Jacques kannte höchstens die Hälfte der Gäste von Michel. »Sind schon merkwürdige Typen hier«, bemerkte er gegenüber Bernard Lefort, dem Schriftsteller, der nur die Achseln zuckte und stumm, weil er gerade eine Auster in den Mund geschlürft hatte, auf das Buffet mit Crevetten und Pasteten, mit Foie Gras und Brioche, mit Kaviar auf Eis und halben Hummern wies.

»Was macht Amadée?«, fragte er dann.

»Soll ich sie von dir grüßen? Wir telefonieren jeden Abend, bevor ich ins Bett gehe.«

»Mach das. Und schick ihr einen Kuss von mir!« Lefort lachte.

»Wo ist denn Michel?«

»Keine Ahnung, ich glaube, der zeigt seinem Kunstsammler die Atelierräume.«

Lefort nahm einen Schluck Rotwein und als sei ihm plötzlich eine Eingebung gekommen, schlug er Jacques von hinten auf die linke Schulter: »Margaux ist übrigens auch irgendwo hier im Getümmel!«

Jacques hatte Margaux seit Monaten nicht gesehen. Und als er sich an das letzte Treffen erinnerte, schmunzelte er unwillkürlich. Spät abends war sie unter dem Vorwand, ihm seine Wohnungsschlüssel zurückgeben zu wollen, zu ihm gekommen. Wenn sie an diesem Abend nicht von Kommissar Jean Mahon gestört worden wären … Jacques stellte sich vor, was ihm entgangen war. Doch dann hatte Amadée ihn besucht und Margaux aus dem Sinn und den Sinnen verdrängt.

An den hohen Wänden des Ateliers hingen monumentale Bilder, doch niemand schaute hin. Auf seine Frage, wer denn Drei-mal-vier-Meter-Objekte unterbringen könne, hatte Michel ihm naiv und arrogant zugleich geantwortet: Museen.

Jacques fand ihn, nachdem er sich durch die laut schwatzende Menge im Atelier bis zur Küche durchgezwängt hatte. Dort saß der Maler im Rollkragenpullover einem kleinen, drahtigen Mann gegenüber, Mitte fünfzig, schätzte Jacques, der nicht nur einen von Hand geschneiderten dunkelgrauen Anzug trug, sondern auch ein Maßhemd. Seine dunklen Augen blitzten hart und kalt, erfassten Jacques kurz, als er in den Rahmen der Küchentür trat, und ruckten schnell zurück zu Michel, so als interessiere er sich nicht für den ihm Unbekannten. Neben dem Kunstsammler, Sotto Calvi, hatte zum Erstaunen von Jacques der ehemals engste Vertraute von Staatspräsident François Mitterrand, Georges Mousse, einen Platz gefunden, anscheinend ein enger Freund Sotto Calvis. Ein wenig abseits schwieg Calvis magere Frau, ein bisschen zu mondän, ein bisschen zu sonnengebräunt, ein bisschen mies gelaunt, aber wenigstens kultiviert gekleidet. Mitte vierzig? Mindestens.

Der Maler fuhr sich mit der rechten Hand über die Glatze und winkte mit der linken so, als wollte er sagen, stör bitte nicht unsere intime Stimmung hier am Küchentisch. Jacques hob sein Glas mit einem Kopfnicken grüßend, machte kehrt und erschrak, als er mit einer hoch gewachsenen Frau zusammenprallte.

»Pardon«, er riss sein Glas hoch, um den Champagner nicht zu verschütten, »ich habe Sie nicht gesehen.«

»Macht nichts«, lachte die schöne Dunkelhäutige. Sie trug ein atemberaubend eng anliegendes Kleid, das knapp über ihren festen Brüsten endete und die schmalen Schultern frei ließ.

»Mögen Sie das Kleid?« Sie schaute fragend zu ihm auf, hob die Hände auf die Höhe der Schultern, winkelte die Ellenbogen ab und bewegte – ihn mit Ironie in den Augen anlächelnd – tänzelnd ihre Beine, als beständen die Knochen aus Gummi.

»Es ist ein Cavalli-Kleid, das Sarah Jessica Parker in Sex and the City trägt!«, sagte sie dabei.

»Oh, was meinen Sie mit Sex and the City, die Verpackung oder den Inhalt?«, fragte Jacques lakonisch, und die junge Frau lachte.

»Das Kleid!«

»Schade.«

»Sie sind kein Fernseher?«

»Nicht wirklich.«

»Sex and the City war meine Lieblingsserie. Spielt in Manhattan. Sind Sie ein Freund von Michel?«

»Ja.«

»Aber wenig gesprächig. Malen Sie auch?«

Jacques lachte nur.

Dieses Wesen schien aus einer ihm fremden Welt zu kommen, jedenfalls erkannte er sie nicht als die sportliche Vespafahrerin, die – als Journalistin des Figaro – aus dem Wohnmobil von Didier Lacoste gestiegen war.

Leg doch deine miese Laune ab, befahl er sich und sagte, indem er ihren Arm nahm: »Tut mir leid, ich hab den Kopf voller Mist. Nein, nein, ich male nicht. Wollen wir ein neues Glas holen?«

»Gern. Ich heiße Lyse, und Sie?«

»Jacques.«

Eine Viertelstunde später hatte Jacques sie in einen kleinen, niedrigen Raum geführt, der versteckt hinter dem großen Atelier lag. Hier arbeitete Michel an seinen Zeichnungen, von denen einige besonders schöne an den Wänden hingen. Die anderen sammelte er in einer großen Kommode aus hellem Holz mit unzähligen flachen Schubladen.

Lyse hatte einfach zwei Gläser und eine volle Flasche Champagner ergriffen und gefragt, wo sie denn ein wenig ungestört reden könnten. Und sie war es dann auch, die sofort und ohne große Einleitung begann, ihre Geschichte zu erzählen.

Sie stamme eigentlich aus Südwestafrika, sagte sie, als sie klein war, habe ihre Großmutter erzählt, Lyse sei eine afrikanische Prinzessin, Nachfahrin der berühmten Königin Njinga, die im siebzehnten Jahrhundert im Königtum Ndongo der Mbundu herrschte und weit über ihr Land hinaus berühmt wurde. Die Könige dieses Gebiets trugen den Titel Ngola, wovon sich der Name des jetzigen Staates Angola ableitet. Und weil sich Königin Njinga mit den portugiesischen Kolonialherren über den Sklavenhandel stritt, führte sie einen dreißigjährigen Krieg gegen die Weißen. Noch heute lebt Njinga weiter als Symbolfigur des afrikanischen Widerstands gegen fremde Herrscher – einst gegen die Portugiesen, später gegen den jeweiligen Feind im angolanischen Bürgerkrieg. Njinga, so wünschte ihre Großmutter, sollte in Lyse wieder auferstehen. Hat nicht so ganz geklappt. Lyse lachte.

Aufgewachsen aber sei sie in Lissabon, erzählte sie gleich weiter. Weil ihre Mutter aber eine israelische Entwicklungshelferin gewesen sei, habe sie, Lyse, auch in Israel studiert. Jetzt wohne sie seit einigen Jahren in Paris und arbeite als Kustodin, die reichen Sammlern hilft das Richtige zu kaufen.

»Und davon kann man leben?«, fragte Jacques.

»Sogar ganz gut – wenn man Sammler kennt, die genügend Geld für Kunst ausgeben.«

»Und wie gefallen Ihnen die Bilder von Michel?«

»Die liebe ich besonders, weil einige mich an die Kultur meiner Heimat erinnern.«

»Oh, da habe ich etwas verpasst. Michel malt doch gar nicht afrikanisch.«

»Das scheinst du nicht zu erkennen. Vielleicht liegt es daran, weil ihr Weißen meint, wir Neger würden nur grobe Holzmasken schnitzen, wie sie Picasso oder Bracque dann als Vorlage für ihren Kubismus genommen haben. Aber schon damals im Königreich Ndongo …«

»Wo – bitte – liegt das denn?«

»Angola. Dort zeichnen wir Lusona in den Sand …«

»Noch mal pardon: Was ist das?«

»Ein Sona, im Plural Lusona, entspricht dem, was wir hier ein Ideogramm nennen würden. In den Lusona mischen sich Mythos und Mathematik. Dadurch wirken sie sehr grafisch – wie manche Strukturen in Michels Bildern.«

Sie zupfte an ihrem Sex-and-the-City-Kleid, als wollte sie andeuten, dass es nicht gerade billig gewesen sei.

Die Federn des alten Ledersofas, auf dem sie saßen, gaben immer deutlicher zur Mitte hin nach, sodass sie aufeinander zu rutschten. Lyse wehrte sich nicht dagegen. Jacques schon gar nicht. Er sehnte sich nach einem Whisky, zu Lyse aber passte wohl eher Champagner. Trotzdem fühlte er sich fast behaglich und ihre Art, mit ihm zu sprechen, löste etwas in ihm, was sich seit Tagen aufgestaut hatte.

Jacques erzählte ihr, dass er Untersuchungsrichter sei, aber im Augenblick so ziemlich in Verschiss, weil er mit seiner letzten Untersuchung wegen illegaler schwarzer Kassen viele Politiker der Regierungspartei belastet habe. Und nun diene selbst ein kleiner Fall, den ihm seine Chefin aufs Auge gedrückt habe, auch noch als Munition gegen ihn persönlich. »Da hat die Polizei bei einer verbotenen Rave-Party einen jungen Drogendealer hoppgenommen, und ich habe ihn einbuchten lassen. Am nächsten Tag, nachdem ich ihn vernommen hatte, wurde er wieder nach Hause geschickt. Aber sein Vater, der ein hohes Tier in der Regierung ist, hat dafür gesorgt, dass sofort eine kleine negative Notiz im rechten Figaro stand. Na ja, und das hat wiederum eine Demonstration gegen mich ausgelöst. Und heute trampelt die Libération auf mir rum.«

»Ich lese keine Zeitungen«, sagte Lyse. »Politik langweilt mich. Ich studiere höchstens Auktionskataloge. Aber was hat Libé gegen Sie?«

»So sind die Linken. Statt solidarisch zu sein, glauben die, kritisch sei nur, wer jeden fertig macht. Natürlich haben sie den ehemaligen Kulturminister und Allesbesserwisser Jack Lang auch noch dazu bewegen können, mir eine reinzuwürgen: Ich hätte eben keinen Sinn für die Kultur, mit der die Jugend die Wurzeln ihrer Zukunft pflanze, hat der angeblich gesagt.«

»Das klingt aber schön!«, warf Lyse ein.

»Was klingt schön?«, fragte Jacques irritiert.

»Na ja, in der Kultur der Jugend lägen die Wurzeln der Zukunft. Die Wurzeln der Zukunft? Das ist ein faszinierender Begriff.«

»Ja, aber was hat das mit mir zu tun?«

Jacques nahm einen Schluck. Jetzt könnte er wirklich einen Whisky gebrauchen! Lyse goss ihm stattdessen Champagner nach und sagte: »Verzeih, ich wollte …«

Sie ließ den Satz unvollendet, hob den Blick und stieß mit dem hell klingenden Glas an.

Jacques ließ nun seinem Zorn freien Lauf.

»Und weil Libé sich als Stimme des Volkes versteht, haben sie gleich jedem klar gemacht, wo er sich beschweren kann. Wunderbar! Seitdem werde ich mit Schmähungen überschüttet.«

Dann legte sie ihre Fingerspitzen auf seinen Handrücken und schaute ihn an, ohne eine Frage zu stellen. Und er erzählte weiter: Von dem Einsatz mit Kommissar Jean Mahon, dem Drogen- und Bargeldfund, dem Verhör von Didier. Und dem Ärger mit der Gerichtspräsidentin. Montags hatte er ihr das Protokoll überreicht. Und sie hatte es wohl gleich an den Justizminister weitergeleitet. Das konnte er zwar nicht beweisen, aber der Vater von Didier hatte schon am Abend der Festnahme über den Innenminister Ärger gemacht.

Lyse unterbrach ihn auch nicht, als er davon sprach, dass er vorhabe, Alain Lacoste als Zeugen zu vernehmen, und dass der die Bargeldlieferungen aus der Schweiz einfach leugnen werde. Und er, Jacques, habe keinerlei Beweise – nur Aussage des Sohnes.

Er habe mit all seiner Erfahrung auf dem Gebiet den Jungen in die Mangel genommen, und der weiche Didier Lacoste habe ihm nichts verschweigen können. Schließlich sei er, als Jacques ihm Fragen zum Vater stellte, zusammengebrochen.

»Da muss was mit Ödipus falsch gelaufen sein, aber das ist jetzt nicht wichtig«, sagte Jacques, dem plötzlich klar wurde, wie viel er dieser fremden Frau gerade erzählt hatte.

Lyse schwieg einen Augenblick, ehe sie vor sich hin murmelte: »Geht es da nicht eher um die Mutter?«

»Wahrscheinlich. Aber Ödipus hat seinen Vater erschlagen. Du hast trotzdem Recht, meist geht es um das Psychoproblem zwischen Mutter und Sohn.«

Jacques’ Lachen ging unter im lauten Getöse einer kleinen von Michel angeführten Gruppe, die zur Tür hereinquoll.

»Schau an, ich habe Sie den ganzen Abend vermisst«, Michel gab Lyse die Hand, schlug Jacques auf den Oberarm und wies auf das Sex-and-the-City-Kleid.

»Ihr habe ich den Kauf zu verdanken, denn sie hat den Sammler beraten. Und dir habe ich jemanden mitgebracht.«

Er drehte sich um, steckte den Kopf durch die Tür und zog Margaux in den Raum.

Sie gab Jacques eine Bise auf die rechte, eine Bise auf die linke Wange und strahlte ihn an: »Ich hab mit dir gelitten, als ich heute den Mist gelesen habe. Wer oder was steckt denn dahinter?«

Weil er immer noch keinen Whisky fand, goss Jacques sich ein Glas Rotwein ein und blickte Margaux an, die eine Olive knabberte. Vorsichtig, weil er wusste, dass sie als Journalistin alles, was sie erführe, auch benutzen würde, erzählte er ihr nur eine gesäuberte Kurzfassung der ganzen Geschichte. »Du riechst gut«, sagte er schließlich, um das Thema zu wechseln.

»Es ist immer noch das Parfüm, das du mir mal geschenkt hast.«

Jacques sah sich nach Lyse um, und als er sie nicht mehr entdecken konnte, verabschiedete er sich von Margaux und steuerte auf die Küche zu.

Bis auf ein Dutzend ausgetrunkener Flaschen und abgegessener Teller war die Küche leer und auch im Atelier lungerten nur noch wenige Gäste herum.

Lyse und Michel waren nirgends zu sehen und Jacques beschloss zu gehen. Draußen war die Luft fast wärmer als im Atelier. Und auf dem Boulevard de Belleville tummelten sich trotz der späten Stunde noch alte Maghrebiner, die sich schon vor Jahrzehnten in diesem kleinbürgerlichen französischen Viertel niedergelassen hatten, und junge Asiaten, die hier inzwischen einige der besten Lokale von Paris eröffnet hatten. Jacques aß gern im Le Président oder im Le Cok Ming, das Jacques Féron, Bürgermeister des 19. Arrondissements, mit den »Goldenen Ess-Stäbchen« als höchste Ehre für ein chinesisches Lokal ausgezeichnet hatte.

Als er in die Nähe seines Autos kam, sah er, wie ein kleiner Wagen mit röhrendem Motor versuchte, sein Dienstmobil wegzuschieben. Ein wenig hin- und herruckeln, Stoßstange an Stoßstange, das gehört schon dazu, um aus einer Parklücke wieder herauszufinden, besonders weil Jacques so eng geparkt hatte. Aber dieses Gewürge, so dachte er, zeugt von jemandem, der nicht fahren kann.

Die Arme in die Seite gestützt, beobachtete er das Schauspiel, versagte sich jedoch noch im rechten Augenblick einen arroganten Zwischenruf über Frauen am Steuer und winkte Lyse, die er schließlich erkannte, umsichtig auf die Fahrbahn. Er dankte der Vorsehung, dass er heute auf seinen Tick verzichtet hatte, die Fernbedienung nicht schon von weitem zu drücken, um die Tür seines Wagens zu öffnen. Zu den kleinen Spielereien, die er sich gönnte, gehörte auch, zu probieren, wie weit entfernt von dem Wagen seine Fernbedienung in der Hosentasche funktionierte. Wenn dann die Leuchten dreimal grell blinkten, erschreckten sich häufig Passanten, die glaubten, sie hätten eine Störung verursacht.

Lyse senkte ihr Fenster, bedankte sich und bot ihm an, ihn irgendwo abzusetzen. »Ich wohne nicht weit«, murmelte er und stieg ein.

Er schaute durch die Windschutzscheibe, »da vorne rechts ist es schon«, und noch bevor der Wagen hielt, fragte er: »Kann ich dich anrufen?«

Sie würde bis kommenden Donnerstag mit dem Aufhängen der Bilder von Michel zu tun haben. Drei Leinwände hatte der Sammler gekauft, eine für die Residenz bei Paris, eine zweite für sein Haus an der Südküste von Korsika, eine dritte für seine Ranch in Texas, also würde sie schon morgen wegfahren, zuerst nach Korsika, dann in die Staaten. Bevor er ausstieg, gab sie ihm ihre Nummer, die er in sein Moleskine schrieb. Dann drückte er ihr zunächst einen Kuss auf die nackte Schulter und, als sie nicht zurückzuckte, auch noch einen auf die Lippen.

Verdammt, sagte er sich, das geht aber schnell. Lyse hatte den Kuss willig erwidert.

Die Wüstenkönigin

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