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Das Geheimdossier

Was Jacques Lyse nicht erzählt hatte, wusste er auch erst seit Freitagmorgen. Als Untersuchungsrichter hatte er zwar sofort die notwendigen Schritte eingeleitet, aber die Informationen noch nicht richtig eingeordnet. In der letzten Nacht hatte ein Corbeau einen dicken, kartonierten Umschlag im Briefkasten des Gerichts deponiert. Wieder einmal.

Wohl, weil das schwarze Gefieder des Raben, des corbeau, so abweisend wirkt und sein Krächzen unangenehm, gar drohend klingt, wird ein anonymer Denunziant im Jargon der Richter zum Corbeau. Corbeaux, unbekannte und auch unangenehme Tippgeber, sind ein unverzichtbarer Teil des französischen Justizsystems, wenn nicht gar des französischen Charakters. Zum Beispiel holte einmal, so als wäre es ihm peinlich, der französische Historiker Henri Amouroux, Mitglied der Académie Française und Spezialist für die Zeit der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg, aus seiner Privatsammlung Unterlagen hervor, die bewiesen, wie unmenschlich und egoistisch Corbeaux handelten: Eine Französin lieh sich die Nähmaschine von ihrer jüdischen Nachbarin und verpfiff sie dann an die Gestapo. Die jüdische Familie wurde abgeholt und in die Güterwaggons nach Auschwitz gepresst. Aber die Nähmaschine war gerettet – bei Madame, der Denunziantin.

Solche Vorgänge habe es leider häufig gegeben, schüttelte Henri Amouroux, ein feiner, älterer Herr, den Kopf, entsetzt über den Egoismus der Menschen.

Die Unterlagen, die der heutige Corbeau mit dem Vermerk ›persönlich‹ an Jacques Ricou, Untersuchungsrichter am Gericht von Créteil, übersandt hatte, belasteten Alain Lacoste.

Die Sendung bestand aus drei Akten. In der ersten befanden sich Fotokopien von Bankauszügen, die über acht Jahre hinweg Ein- und Auszahlungen bei einem Schweizer Geldinstitut in Genf dokumentierten. Das Geld kam von einem Nummernkonto aus Liechtenstein und wurde immer bar abgehoben von Alain Lacoste.

»Nicht schlecht«, sagte Martine zu Jacques, als sie die Summen zusammenrechnete: pro Jahr etwa dreihunderttausend Euro. »Damit kann man leben.«

Der erste Aktendeckel war blau, der zweite weiß, und darin lagen Grundbuchauszüge, aus denen hervorging, dass eine Firma mit Sitz in Panama vor fünf Jahren in der Avenue Victor Hugo im eleganten 16. Arrondissement von Paris eine dreihundertzehn Quadratmeter große Altbauwohnung in der dritten Etage rechts vom Aufzug gekauft hatte. Hier wohnte Alain Lacoste mit seiner zweiten Frau, wie eine Notiz in der weißen Akte besagt: ohne Miete zu zahlen.

Wahrscheinlich hatte sich der Corbeau ins Fäustchen gelacht, als er den dritten Aktendeckel rot auswählte, denn so ergaben die drei Ordner zusammen die Farben der Trikolore. Blau-weiß-rot ist allerdings auch die Flagge von Panama, und deshalb war aus eben diesen Farben eine Kordel geflochten, die der Siegellack auf einer notariell beglaubigten Abschrift festgebrannt hatte. Das Papier bestätigte die Gründung der panamesischen Firma Lesseps durch die Treuhänder Aida Espino und Pablo Biggs von der Anwaltskanzlei Morgan y Estribi in Panama-City. Die Kosten für die offizielle Bestätigung betrugen fünf Dollar. Diese Firma war nur zu dem einzigen Zweck gegründet worden, die Wohnung in der Avenue Victor Hugo zu kaufen, in der Alain Lacoste wohnte.

Ohne die Lieferung dieses Corbeau hätte Jacques Ricou wahrscheinlich nie beweisen können, dass die Gesellschaft Lesseps von Alain Lacoste selbst gegründet worden war. In der roten Akte aber lagen auch die Rechnungen der Anwaltskanzlei Morgan y Estribi für die Wahrnehmung der Treuhandverwaltung ebendieser Briefkastenfirma, ausgestellt auf Alain Lacoste. Gegen den Namen Lesseps hatte ein Señor Juan Estribi aus der Kanzlei Einwände erhoben: Lesseps habe nach dem gescheiterten Bau des Panama-Kanals keinen besonders guten Ruf, und, so hob Juan Estribi hervor, »auch in Ihrem Lande dürften die politischen Folgen den Namen Lesseps beschädigt haben«.

»Dieser Lesseps hat doch den Suezkanal gebaut«, widersprach Jean Mahon, als Jacques ihn in den Fall einwies.

»Dieser Lesseps hat später aber auch den Plan für einen Panama-Kanal entworfen und ist damit jämmerlich gescheitert.«

»Den haben doch die Amis gebaut!«

»Das habe ich auch geglaubt«, antwortete Jacques, »aber dann habe ich ein bisschen gegoogelt. Resultat: Ferdinand de Lesseps war ein Phantast und sein Ingenieur Gustave Eiffel, …«

»Der dieses Monster, den Eiffelturm, gebaut hat?«

»Genau der. Beide wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt, weil der Bau des Kanals in einem Skandal endete. Angefangen hatte alles mit einem äußerst dilettantischen Plan. Dann fehlte es, schon bald nachdem Lesseps’ Sklaven mit dem Erdaushub begonnen hatten, an Geld. Und was haben sie getan, um den Konkurs abzuwenden? Sie haben vor nichts zurückgeschreckt und einflussreiche Leute hoch bestochen, damit sie für eine neue hohe Anleihe werben. Auch das hat nicht gereicht. Deshalb peitschten Lesseps und Kumpane über gekaufte Politiker im Parlament ein Gesetz durch, das der Panamakanal-Gesellschaft erlaubte, eine lukrative Lotterie-Anleihe durchzuführen. Das Gesetz wurde aber nur verabschiedet, weil sie fünfhundertzehn Abgeordnete bestochen haben.«

»Fünfhundertzehn? Fast das ganze Parlament. Das gibt’s doch nicht.« Mahon schüttelte den Kopf.

»So schnell vergessen wir unsere Geschichte. Aber das war schon genial. Wenn du fünfhundertzehn Abgeordnete bestichst, dann sind alle Parteien, dann ist die gesamte politische Klasse betroffen, und es wird gar nichts passieren. So war es auch. Es gab zwar einen Riesenskandal: Aber weder Lesseps noch Eiffel mussten ihre Haftstrafen absitzen. Reaktionäre Kreise haben später zwei jüdische Bankiers betrügerischer Machenschaften beschuldigt, aber nicht den Hauptschuldigen, den Grafen Ferdinand von Lesseps. Der war nun einmal kein Jude, sondern Held der Nation – weil er den Suezkanal gebaut hat.«

»Na ja, vergiss nicht, das war zur Zeit der Dreyfus-Affäre, ein Höhepunkt des Antisemitismus in Frankreich.«

»Der ist jetzt nur besser versteckt. Zur Zeit des Panama-Skandals hat die Rechte ein antisemitisches Hetzblatt namens La libre parole gegründet, und schon wegen der ersten Ausgabe hat sich ein jüdischer Offizier mit dem Herausgeber Drumont duelliert.«

»Alles Google-Wissen?«, fragte der Kommissar.

»Ja. Und jetzt schau dir dieses letzte Blatt an.« Jacques reichte es Jean Mahon.

»Jetzt sind deine Fingerabdrücke drauf!«, sagte der. »Hm. Computergeschrieben. Wir werden es mal untersuchen. Wo das Papier herkommt, welcher Drucker, das können wir an der Tinte feststellen.«

»Wichtiger wäre mir«, sagte Jacques, »wenn ihr dem Inhalt nachgehen könntet. Wir würden weiterkommen, so schreibt der Corbeau, wenn wir herausfänden, wer die Wohnung an Lacoste verkauft hat.«

Die Wüstenkönigin

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