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I. Einführung

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„Erkenntnis hat keinen ihrer Gegenstände ganz inne. Sie soll nicht das Phantasma eines Ganzen bereiten“ (25).

Adornos ND ist eines der faszinierendsten Werke der Philosophiegeschichte. Ihre Attraktivität liegt in dem ungeheuren Reichtum darin entfalteter Themen, Gedanken und Perspektiven begründet. Überdies ist sie in einer stilistisch durchgeformten Prosa verfasst, die jedem literarischen Vergleich standhält. Nahezu jeder Satz in ihr stellt ein Kunstwerk im Kleinen dar. Das gesamte Buch durchweht ein kritischer, ja angriffslustiger Geist, der über die fachlichen Grenzen akademischer Philosophie souverän hinausgeht, nicht aber über die aufrichtiger und ernsthafter Reflexion. Die Kehrseite dieses Reichtums bildet jedoch die Schwierigkeit des Werks. Weder lässt es sich auf einige Kernthesen reduzieren, noch auf ein architektonisches Grundgerüst beziehen. Seinem Anspruch nach sind alle Aussagen gleich weit vom Zentrum entfernt. Was dieses Zentrum sei, ist genauso wenig klar: die Entfaltung des Begriffs der negativen Dialektik, die Kritik der philosophisch-idealistischen Tradition, die Erörterung der Möglichkeit von Philosophie und Metaphysik oder die Erfahrung von Individualität, um nur die wichtigsten thematischen Stränge zu benennen. Auch unabhängig von markierten und übertitelten Absätzen werden Gedanken abgebrochen, Themen gewechselt, neue Motive eingeführt und bekannte erneut aufgegriffen. Musikähnlich sind die Motive miteinander verwoben, wird der diskursive Gedankenfluss immer wieder von assoziativ Eingesprengtem durchbrochen. Vor allem die mit Adorno noch nicht vertrauten Leserinnen und Leser stellt der Text vor erhebliche Leseprobleme. Das wichtigste dürfte zunächst sein, zu erkennen, wo ein Gedanke beginnt und wo er sein (vorläufiges) Ende findet.

Hierbei kann die vorliegende Interpretation insofern hilfreich sein, als sie das Buch fortlaufend selektiv erläutert und kommentiert. Zur Selektivität des Verfahrens gibt es in einer 250 Seiten starken Interpretation des 400 Seiten umfassenden Primärtextes ohnehin keine Alternative. Ein lückenloser Textkommentar ist ausgeschlossen. Die interpretierten Textpassagen bilden jeweils relativ geschlossen verstehbare Sinneinheiten. Ihre Auswahl erfolgte nach den drei Gesichtspunkten der methodologischen, der rationalitätskritischen und der aktuellen Bedeutsamkeit. Diese Aspekte sind zugleich die leitenden Ideen der Interpretation. Mein Interesse ist es also, möglichst viele Gedanken der ND rational zu rekonstruieren.

Jedoch ist es nicht nur fair, sondern auch wichtig zu betonen, dass es durchaus möglich ist, die ND ganz anders aufzuschlüsseln. Wie bereits angedeutet, lässt der Gedanken- und Perspektivenreichtum dieses Textes alternative Deutungen nicht nur zu, sondern fordert sie sogar heraus. Ich möchte meine Leserinnen und Leser hiermit ausdrücklich auffordern, sich ihren eigenen Weg durchs Dickicht Adorno’scher Gedankenfiguren zu bahnen. Meine transzendentalphilosophisch-hermeneutische Interpretation will weniger dazu einladen, sich mit ihr zu identifizieren, als vielmehr zur Differenzierung, zur Korrektur, ja auch zum Widerspruch und zur begründeten Formulierung von Alternativen. Dieser Intention entspricht auch mein durchgängig kritischer Umgang mit Adornos Argumenten. Denn deren rhetorischer Auftritt wirkt beim ersten Lesen meist so überzeugend oder, wie Adorno gesagt hätte, schlagend evident, dass dabei inhaltliche Probleme leicht übersehen werden.

Vorgreifend sei folgende These aufgestellt: Die ND beschreibt das Zentrum des Adorno’schen Denkens. Sie ist Adornos Erkenntnistheorie, weil sie methodologische Aussagen in einem Umfang enthält, wie keines seiner anderen Bücher.5 Daher liegt ihr Herzstück auch im zweiten Teil, der den Begriff und die Kategorien negativer Dialektik entfaltet, mit denen dann in den anderen Teilen kontextbezogen gearbeitet wird. Allerdings erschöpft sich das Buch nicht in einer Theorie negativ-dialektischen Denkens, Verstehens und Erfahrens, sondern enthält zugleich auch Gesellschaftstheorie, Geschichtsphilosophie und praktische Philosophie, dabei mit einer auffälligen Enthaltsamkeit in Ästhetik, der sonst Adornos größtes Interesse gilt.

Das philosophische Medium, in dem Adorno dies alles verbindet und aus einer quasi transzendentalphilosophischen Fragehaltung heraus entfaltet, ist die kritische Hermeneutik. In ihr werden nicht nur die philosophische Tradition, sondern ebenso Geschichte und Gesellschaft in der Weise kritisch verstehend angeeignet, dass normative und historisch nicht ohne weiteres relativierbare Gesichtspunkte, z. B. Gerechtigkeit, autonomes Denken und moralisches Handeln, in die Verstehensprozesse einfließen und sie anleiten. Darin unterscheidet sich Adornos Hermeneutik auch von der geistesgeschichtlich zentrierten Auslegungskunst der meisten anderen Hermeneutiker.

Theodor W. Adornos

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