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Shitstorms und Hochschulpolitik

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Shitstorms und das massenhafte Anprangern einzelner Personen aus der Anonymität des Netzes heraus ist immer beliebter geworden. Diese Verrohung der Kommunikation – von Diskurs mag man gar nicht mehr reden –, durchdrungen von Falschmeldungen und Hasstiraden ist ein Massenphänomen geworden. Es verstärkt sich in Informationsblasen und Echoräumen und ist auf allen gesellschaftlichen Feldern zu beobachten. Dieses Ungemach kommt dabei keineswegs, wie oft vorgebracht, nur von rechtspopulistischen Aktivisten, die Diskurse mit ihren Einlassungen vergifteten und die Grenzen der Meinungsfreiheit sprengten. Auch an deutschen Hochschulen geht es inzwischen derb bis militant zu. Als hätten sich heutige Studierende Walter Benjamins Spruch von 1928 aus der berühmten Einbahnstraße zu eigen gemacht: „In diesen Tagen darf sich niemand auf das versteifen, was er ‚kann‘. In der Improvisation liegt die Stärke. Alle entscheidenden Schläge werden mit der linken Hand geführt.“

Äußerst erfolgreich zettelten sie 2017 Kampagnen aus der Minderheit heraus an, zum Beispiel an der Humboldt-Universität in Berlin. Über Monate griffen Studierende den Politikwissenschaftler Herfried Münkler und den Osteuropahistoriker Jörg Baberowski massiv an. Ein Shitstorm folgte dem nächsten gegen die beiden, sich auch öffentlich positionierenden Intellektuellen. Die anonymen Angreifer beschimpften Münkler als angeblichen Militaristen und Gewaltverherrlicher, Sexismus wird ihm obendrein noch von feministischer Seite vorgeworfen. Baberowski wird des Rassismus geziehen, weil er die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung kritisiert hat. Das Landgericht Köln verbot zwar dem Allgemeinen Studierendenausschuss (AStA) der Universität Bremen, Baberowski einen „Rassisten“ und „Hetzer“ zu nennen. Allerdings galt dies nicht für die Behauptung, er vertrete „rechtsradikale Positionen“. Das Gericht argumentierte, diese Schmähung sei im Rahmen der Meinungsfreiheit zumutbar, unabhängig davon, ob diese Bewertung zutreffend, falsch, fair oder unangemessen sei. Auch an anderen Hochschulen spielten sich ähnlich besorgniserregende Szenen ab, in denen Professoren und ihre Integrität als Hochschullehrer angegriffen wurden.

Der britische Historiker und Publizist Timothy Garton Ash attestiert in seinem jüngsten Buch über die Redefreiheit und ihre Prinzipien im 21. Jahrhundert deutschen Journalisten, Intellektuellen und Politikern eine ausgeprägte, wenn auch historisch verständliche Hemmung, Kritik an der Zuwanderung zur Sprache zu bringen. Die Folge eines Diskurses voller Tabus sei jedoch gewesen, dass Tilo Sarrazins erstes Buch, Deutschland schafft sich ab, 2010 zum größten politischen Bestseller seit der Wiedervereinigung geworden sei. Es komme nicht von ungefähr, so Garton Ash, wenn sich der „Druck des öffentlich Unausgesprochenen wie in einem Dampftopf“ entlade. Wir erinnern uns: Die Bundeskanzlerin hatte damals das Buch „diffamierend“ und „nicht hilfreich“ genannt, obwohl sie es nicht gelesen hatte, weil ihr vorab gedruckte Passagen zur Einschätzung und Beurteilung ausreichten, wie sie dem Magazin Der Spiegel sagte.

Darf nun ein Professor ein Seminar zum Thema Meinungsfreiheit an der Universität Siegen veranstalten, zu dem er Thilo Sarrazin als Referenten und, noch skandalöser, den promovierten Philosophen, ehemaligen Assistenten von Sloterdijk und AfD Bundestagsabgeordneten Marc Jongen einlädt? Darüber wurde im November 2018 nicht nur heftig gestritten, sondern die Mittel für die Veranstaltung wurden von der Universitätsleitung gestrichen. Der betroffene Siegener Philosophie-Professor Dieter Schönecker erläuterte in seiner Begründung, warum er trotz massiver Proteste an dem Seminar über Meinungsfreiheit festgehalten hatte. Er habe nichts mit der AfD und anderen rechten oder rechtsextremen Gruppen im Sinn, sondern stehe in der Tradition der Kant’schen Rechtsphilosophie, seine Sache sei die Freiheit. In der Veranstaltung gehe es um die Philosophie und Praxis der Meinungsfreiheit. „Dazu rechne ich auch die Redefreiheit, die Wissenschafts- und Lehrfreiheit und schließlich die Freiheit der Kunst. Über die Meinungsfreiheit – und nicht etwa über den Islam oder die Flüchtlingskrise – halten Sarrazin und Jong ihre Vorträge. Zur Grundlegung lesen wir Mills Freiheitsschrift und einen zeitgenössischen Text.“ Vorab würden auch die Redemanuskripte der Vortragenden gelesen, um auszuschließen, dass sie ihre Redefreiheit für andere Themen missbrauchen würden. Schönecker hatte darüber hinaus ein gutes Dutzend Personen aus dem linken Spektrum, ausdrücklich auch aus seiner eigenen Universität, eingeladen. Doch bis auf eine Ausnahme erhielt er nur Absagen, meistens mit dem ausdrücklichen Verweis auf Sarrazin und Jong. Zum Schluss fragte sich Schönecker: Selbst gesetzt den Fall, es lohne sich nicht, mit den beiden zu reden, weil sie nationalistische Rassisten seien, „könnte es nicht dennoch eine akzeptable Strategie sein, ihnen gerade deswegen öffentlich mit Argumenten zu begegnen? Wäre nicht die Universität dafür der prädestinierte Ort? Und dürfte ein Wissenschaftler nicht ebendiese Strategie verfolgen, ohne verdächtigt zu werden, Rassist zu sein?“

Auch an der Frankfurter Johann Wolfgang Goethe-Universität gab es 2017 einen handfesten Streit über die Grenzen der Meinungsfreiheit. Anlass war die Einladung des umstrittenen Vorsitzenden der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, in einer Vortragsreihe zum Thema Migration und Integration, welche die Ethnologin und Islamwissenschaftlerin Susanne Schröter initiiert hatte. Er wurde nach Protesten des AStA, der Kritik von sechzig wissenschaftlichen Mitarbeitern und Professoren und der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Hessen, die Rainer Wendt Rassismus, Racial Profiling und Sicherheitswahn vorwarfen, wieder ausgeladen, weil Tumulte befürchtet wurden.

Die Pressemitteilung des AStAs lautete dazu: Am 26. Oktober 2017 „sollte der Rechtspopulist, Unruhestifter und Vorsitzende des DpoIG Bundespolizeigewerkschaft Rainer Wendt einen Vortrag halten … Ein Mensch, der sein Gesicht in jede Kamera und Talkshow steckt und Racial Profiling, Sicherheitswahn und verschärfte Gesetze gegen alle und jeden fordert – aber vor allem gegen die Schwächsten in der Gesellschaft. Nach Kritik wurde die Veranstaltung nun abgesagt. Wir halten dies für absolut notwendig.“ Der totalitäre Duktus erinnert an die 1970er-Jahre, als Agit-Prop-Gruppen, kommunistische, maoistische, trotzkistische oder Sponti-Gruppen für Aufruhr auf dem Campus und im Lehrbetrieb sorgten.

Einige Monate nach dem Vorfall fand dann eine öffentliche Diskussionsveranstaltung an der Uni in Frankfurt am Main zum Thema „Meinungsfreiheit“ statt. Auf dem Podium im überfüllten großen Hörsaal waren neben der Universitätspräsidentin studentische Vertreter und Professoren, die sich mehrheitlich für das Rederecht und die Kontroverse aussprachen. Einer der Professoren, die den Protest organisiert und die Ausladung von Wendt verlangt hatten, führte unter großem Beifall dagegen an, er sehe sich außerstande und überfordert, mit einem Rassisten zu debattieren, deshalb hätten solche Personen nichts auf dem Campus verloren. Für die Studierenden sei es eine Zumutung. Man fragt sich nun allerdings, wo sollen die jungen Leute ansonsten das Argumentieren und Debattieren mit Andersdenkenden lernen?

Im Herbst 2019 verhinderten linke Studenten an den Universitäten in Hamburg und Göttingen Vorträge des ehemaligen Innenministers Thomas de Maizière und des FDP-Vorsitzenden Christian Lindner. Sarah Wagenknecht von der Partei der Linken konnte vorher ungestört vortragen. Die Vorlesung des Ökonomieprofessors Bernd Lucke wurde in einer „antifaschistischen Aktion“ von militanten Studenten verhindert.

Die Meinungsfreiheit, aber auch zunehmend die Wissenschaftsfreiheit sind an den Hochschulen in eine prekäre Situation geraten. Der antiplurale Wunsch nach Eindeutigkeit und Reinheit mündet folgerichtig in die Forderung nach geschützten Räumen, in denen das Unbekannte, Unfassbare oder „Böse“ ausgeschlossen bleiben soll. Im Wunsch, die Universität als einen solchen geschützten Raum zu gestalten, spiegelt sich die Angst vor Ambivalenzen und die Unfähigkeit, mit ihnen umzugehen, die Sehnsucht nach Konfliktvermeidung und der Abschottung vor der komplizierten, nicht sonderlich friedlichen Realität wider. Doch gerade für das Gegenteil stand ursprünglich universitäre Bildung, die Raum bot für Neugierde, für intellektuelle Zumutungen, Multiperspektivität und produktiven Austausch und Wettstreit der besten Argumente.

Im Wissenschafts- aber auch im Kulturbetrieb sind Tendenzen zu beobachten, die dem freiheitlichen Anspruch der Aufklärung und der einst geschätzten Meinungs- und Redefreiheit massiv zuwiderlaufen. Bilder in öffentlichen Museen werden inzwischen abgehängt, weil sich eine gesellschaftliche Gruppe beleidigt fühlt oder beleidigt fühlen könnte. 2018 provozierte etwa die Manchester Art Gallery eine europaweite Debatte, weil sie ein Bild des englischen Malers John William Water-house von 1896 abhängte. Die Kuratorin Clare Gannaway war der Meinung, es sei nicht mehr hinzunehmen, wie der weibliche Körper entweder als „passives“ dekoratives Element oder als „femme fatale“ dargestellt werde. Das Abhängen sei eigens eine künstlerische Aktion: „Lasst uns dieser viktorianischen Phantasie entgegentreten!“ Dieser Reinigungstrieb ist nicht nur Ausdruck eines neuen Puritanismus, sondern gemahnt an Zeiten, als „entartete Kunst“ aus den Museen verschwand und später Bilder ab- oder nie aufgehängt wurden, weil sie in der zweiten deutschen Diktatur den Vorgaben des „Sozialistischen Realismus“ nicht entsprachen. 2017 sorgte der Wunsch der Studierenden der Berliner Alice Salomon Hochschule, ein Gedicht von Eugen Gomringer von 1953 von der Gebäudefassade zu tilgen, für Furor in den Feuilletons. Die angeprangerte Lyrik spielt mit den Wörtern Alleen, Blumen und Frauen, die von einem Mann bewundert werden – Sexismus und Voyeurismus war prompt der Vorwurf. Die Hochschulleitung kam den protestierenden Studenten entgegen: In Zukunft wechseln sich gendergerechte Gedichte an der Fassade ab.

Auch jenseits der Hochschulen prägt immer mehr die Konfrontation verschiedener Gruppen, die sich aus den unterschiedlichsten Gründen beleidigt, verletzt, gekränkt oder missachtet fühlen, die gesellschaftlichen Debatten – ein fortschreitender Prozess der Viktimisierung, der längst über verletzte religiöse Gefühle hinausgeht und sich auf immer weitere Opfergruppen ausweitet. Diese diversen kollektiven Varianten des Beleidigt- und Gekränktseins provozieren immer neue Definitionen dessen, was politisch korrekt und gesellschaftlich-moralisch erlaubt ist. Der Schriftsteller und Jurist Bernhard Schlink spricht 2019 in diesem Zusammenhang von einer „Engführung des Mainstreams.“ (Schlink 2019)

Das Schweigen der Mitte

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