Читать книгу Herbstliebe - Ulrike Linnenbrink - Страница 4
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ОглавлениеZu dumm, es regnet nicht mehr. Der Wind hat sich gelegt, und einige späte Sonnenstrahlen tauchen die Wipfel der Bäume im Garten in goldgelbes Licht. Eigentlich ein wunderschöner Anblick, und ich könnte mich sicher ausgiebiger daran erfreuen, hätte ich nicht den ganzen Nachmittag lang darum gebetet, dass es weiter schüttet wie aus Eimern - so wie am Vormittag, denn bei Regen könnte ich die Sache einfach ausfallen lassen. Jetzt aber regnet es nicht mehr, und nun fehlt mir die passende Ausrede für Iris.
"Wieso machst du das, Carla?", frage ich mich selbst, und mir ist noch immer nicht klar, weshalb ich mich auf diesen Abend mit Iris überhaupt eingelassen habe. Ärgerlich - auch über mich selbst - schlage ich mit der Bürste durch meine widerspenstigen Naturlocken. Der graue Anteil in meinen dunklen Haaren wird immer auffälliger, und in letzter Zeit helfe ich ab und zu mit einer Intensiv-Tönung nach. Es wäre wieder einmal nötig, aber dazu bleibt nun keine Zeit. Ich lege die Bürste zurück an ihren Platz.
Lustlos verteile ich das MakeUp auf meinem Gesicht, streiche es am Hals entlang bis hinunter ins Dekolleté. Meine Fingerspitzen ziehen die Augenfalten glatt. Ich starre mein Spiegelbild an und strecke mir selbst die Zunge entgegen. Eigentlich sehe ich für mein Alter noch immer recht gut aus, und es passiert zuweilen, dass man mich für Mitte Dreißig hält.
Nun ja ...
Ich wasche mir die Hände, gehe dann hinüber in mein Schlafzimmer. Dort lasse ich mich aufs Bett fallen und verschränke die Arme hinter dem Kopf. Noch ein paar Minuten ausruhen, bevor ich mich anziehen werde.
Eigentlich würde ich mich jetzt sehr viel lieber in mollig warme Leggings und einen meiner lässigen Übergrößen-Pullover verkriechen, mir die Kamelhaardecke um den Bauch und um die Beine wickeln und - in die Sofaecke gekuschelt - umringt von Knuspergebäck, Schokolade und trockenem Wein, ein wenig auf der Fernbedienung herum klicken und an irgendeinem netten TV-Programm hängen bleiben. Oder ich würde meinen Laptop heraus kramen, für den Unterricht recherchieren, vielleicht aber auch einfach nur ein wenig im Internet herumschauen. Trotz meiner Vorbehalte hat Iris es jedoch mal wieder geschafft, mit Engelszungen und dieser einzigen Bitte im Blick. Das kann sie meisterhaft - mit ihren wunderschönen Bernstein-Augen und diesem unschuldigen Püppchen-Gesicht. Ich dummes Huhn habe eingewilligt, obwohl ich im Grunde keinerlei Drang verspüre, mich in vollgepfropfte und verräucherte Kneipen zu zwängen, um gemeinsam mit ihr nach oberflächlicher Zerstreuung zu suchen. Volksfeste jeder Art und Gedränge mit aufgezwungenem Körperkontakt finde ich einfach nur schlimm. Aber genau das steht mir nun bevor.
Sie müsse unbedingt heraus, hat sie mich angefleht, raus aus den eigenen vier Wänden und weg von ihren Problemen. "Versteh doch, mir fällt die Decke auf den Kopf. Ich glaub noch immer, ich muss ersticken. Es ist ja auch alles so neu - ohne ihn. Und allein mag ich nicht gehen."
Da ich froh bin, dass sie ihren Thomas endlich in die Wüste geschickt und auf dem richtigen Weg zu sein scheint, weil ich sie dabei auch unterstützen will, habe ich zugesagt. Außerdem konnte ich schon immer nur schlecht nein sagen.
Beinahe wäre ich auf meinem Bett fest eingeschlafen. Jedenfalls weckt mich erst ein kräftiges Rucken meines Körpers endgültig wieder auf, und ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass ich mich beeilen muss.
Ich entscheide mich für die verwaschenen Jeans und den sandfarbenen Baumwollpullover, der lang genug ist, auch den Po zu bedecken.
Verflucht, die Hose ist schon wieder enger geworden, ich muss beim Zumachen den Bauch einziehen und die Luft anhalten. Kritisch betrachte ich mich im mannshohen Spiegel neben dem Kleiderschrank. Wenn ich nicht ganz aus den Fugen geraten will, muss ich langsam wirklich etwas mehr auf meine Figur achten! Doch Diäten haben es bisher nicht gebracht. Im Gegenteil, selbst wenn ich tatsächlich ein paar Tage durchgehalten habe, sind anschließend die Pfunde ganz schnell wieder drauf - mehr sogar als zuvor. Ich weiß zwar, dass nur Bewegung etwas ändern kann, doch zu regelmäßigem Sport bin ich einfach zu faul, auch wenn schlanke Hüften, ein Busen, der keinen Bleistift unter sich begraben könnte, und eine Taille, die nicht lächerlich wirkte, wenn man sie mit einem Gürtel betont, doch schon noch zu meinen Träumen gehören würde. Aber meine Realität sieht im Moment einfach anders aus, und ich habe mich bis auf wenige Augenblicke damit abgefunden. Shira jedenfalls liebt mich so wie ich bin, und ich bin eben nicht mehr zwanzig.
Die Zeit drängt. Ich schlüpfe in meine beigen Lederpumps, stelze die Treppe hinunter, beklopfe Shira, die unten in der Diele zusammengerollt in ihrem Korb liegt, sperre ihr die Terrassentür auf und schaltete die Gartenbeleuchtung ein. "Komm, altes Mädchen, du darfst noch einmal ..."
Widerwillig quält sie sich aus ihrem Hundeschlaf, trottet mir entgegen, gähnt, streckt sich ausgiebig und wartet auf eine zweite Aufforderung. Dann läuft sie hinaus in den Garten.
Shira, meine Süße, sie ist das Produkt der Liebelei zwischen einer Schäferhündin und einem sicher großen, langhaarigen, blonden Unbekannten. Ihre bloße Anwesenheit tut mir gut. Die Geduld, mit der sie auch meine Launen erträgt, hat für mich bisher noch kein Mensch aufgebracht. Ich kann mich jedenfalls nicht entsinnen, von einem meiner Ex-Männer jemals so akzeptiert worden zu sein. Das Leben mit dieser Hündin ist einfach unkompliziert und positiv. Wir teilen alles miteinander, unsere Freude, unsere Sorgen, den Inhalt meines Kühlschrankes, ab und zu sogar das Bett, worüber meine Freundin Lydia gern die Nase rümpft und spöttische Bemerkungen machte. Ihr fehlt jegliches Verständnis für eine derart enge Beziehung zwischen Mensch und Tier. Doch da lasse ich mir nicht hereinreden - auf gar keinen Fall.
Die Trennung von Konrad hat Shiras Bedeutung für mich noch weiter erhöht und sie - neben meiner Arbeit - zum Mittelpunkt meines Lebens gemacht. Ich spüre gern ihren warmen Körper an meiner Seite, und ich bin dankbar dafür, dass eine solche Nähe für mich ohne das Beiwerk kraftzehrender Diskussionen und Machtkämpfe möglich ist. Sicher ist Shiras Existenz einer der Gründe dafür, dass ich kein Problem damit habe, allein zu leben.
Aber das ist ein Thema für sich.
Während ich am Türrahmen lehne und ihr nachschaue, läutet das Telefon. Rasch gehe ich über den grauen Teppich-Belag und nehme den Hörer vom Apparat. "Ja?"
Seit mir vor ein paar Monaten einer dieser unangenehmen Typen, die offenbar keine reale Frau ins Bett bekommen, fast täglich die Ohren vollgekeucht hat, melde ich mich grundsätzlich nicht mehr mit meinem Namen. Ich konnte ihn mittlerweile zwar allem Anschein nach mit der Hilfe von Lydias Sportpfeife erfolgreich verscheuchen, denn er hat damit aufgehört, aber man kann ja nie wissen.
"Hast du ein paar Minuten Zeit?", fragt Charlotte. "Ich würde gern zu dir kommen. Hatte heute wieder einen Riesentanz mit Papa, und Mutti ist, wie du weißt, ja noch zur Kur. Ich muss unbedingt mit einem vernünftigen Menschen reden, Tante Carla."
Ich seufze. Wenn sie mich "Tante" nennt, muss es wirklich ernst sein. Mein vier Jahre älterer Bruder Darius kommt genau nach meinem Vater. Er kann einfach nicht akzeptieren, dass seine Tochter eigene Vorstellungen von ihrem Leben hat und will sie - jetzt nach dem Abitur - unbedingt in seine Fußstapfen, eine Bankausbildung zwingen. Dabei ist es ihr Herzenswunsch, sich in Essen an der Kunsthochschule zu bewerben und Schauspielerin zu werden. Ich finde, sie hat durchaus Talent, und in braven Klamotten hinter einem Bankschalter kann ich sie mir wirklich nur schwer vorstellen.
Sie in dieser Situation zurückweisen zu müssen, fällt mir nicht leicht. "Tut mir furchtbar Leid, Schatz, aber ich hab's schrecklich eilig, muss in zehn Minuten bei Iris sein und warte nur ab, bis Shira vom Pinkeln zurück ist. Komm doch morgen Abend."
"Morgen Abend kann ich nicht, da haben wir wieder eine Abschlussfeier."
"Nehmen die denn gar kein Ende?", frage ich lachend. Es ist mindestens die vierte nach dem Abitur. "Gut, dann komm, wann du willst. Ruf aber vorher an, ja?"
"Hm. Ja, mach ich." Sie klingt unzufrieden.
"Und lass dich von deinem Vater nicht verrückt machen, das kriegen wir schon hin." Ich lege auf.
Shira kehrt von ihrem Geschäft zurück und sieht zufrieden wedelnd zu mir hoch. Ich streichele über ihre graue Schnauze, schicke sie zurück in ihren Korb und erzähle ihr, dass ich bald wieder bei ihr bin.
*
Iris wartet schon am Straßenrand vor ihrem Haus und winkt mir entgegen. Offenbar hat sie bereits an der Beseitigung trüber Stimmungen gearbeitet, denn ihr Atem, der beim Begrüßungsküsschen unter meinen Nasenflügeln stehen bleibt, lässt mich ahnen, wie sie den frühen Abend bis jetzt verbracht hat.
"Beinahe hätte ich dich noch angerufen", sagt sie und grinst mir dabei etwas verkniffen ins Gesicht. "Eigentlich hätte ich gern umdisponiert, aber dann hab ich gedacht: verabredet ist verabredet."
Und dafür habe ich nun meine und Charlottes Bedürfnisse ignoriert!
"Ich wäre dir sicher nicht böse gewesen, wenn du angerufen hättest, mache das alles doch nur deinetwegen. Was ist denn passiert?" Ärgerlich richte ich meine Aufmerksamkeit auf das Einfädeln in den Verkehr.
Sie kichert etwas übertrieben. "Nun ja, ich war schon auf dem Stadtfest, fast den ganzen Nachmittag lang. Eigentlich bin ich ziemlich müde - und ganz schön beschwipst." Dann etwas leiser und nicht mehr so aufgesetzt heiter: "Hab Thomas getroffen. Wir konnten uns wieder ganz nett unterhalten, und er wollte unbedingt, dass ich bei ihm bleibe, aber ich hab ihm gesagt, ich muss weg, bin mit Carla verabredet."
"Thomas?" Mir verschlägt es fast die Sprache! "Ich nahm an, wir machen das hier, um dich vom Trennungsschmerz abzulenken." Ich streife sie mit einem mürrischen Blick. "Dafür quäle ich mich nun hier raus, obwohl ich eigentlich überhaupt keine Lust habe. Das musstest du doch wissen!" Und ich frage noch einmal nach, da ich es nicht fassen kann: "Thomas? Gut unterhalten? Wie kannst du dich mit dem Typen plötzlich wieder gut unterhalten können? Worüber denn? Ich denke, mit ihm kann man nicht reden. Hast du ihn dir schon wieder schön getrunken?" Fassungslos schüttele ich den Kopf.
In der für sie typischen, pathetischen Geste verwirft sie die Hände. "Was soll ich denn tun? Ich schaff das einfach nicht, der kriegt mich immer wieder rum. Ich komm da irgendwie nicht raus."
"Ich glaube, du willst da gar nicht raus, du scheinst das Problem zu brauchen. Vermutlich ist dir das Leben sonst zu langweilig."
Selbst wenn ich wollte, ich könnte den Biss in meiner Stimme in diesem Moment nicht unterdrücken.
Doch sie schüttelt nur ihren frisch dauergewellten Kopf und umklammert ihre kleine, schwarze Handtasche, als sei sie ihr Thomas, den ihr nichts und niemand entreißen darf. Am liebsten würde ich auf dem Absatz kehrt machen und wieder nach Hause fahren! Wie hoch erfreut hat mich doch die gerade eine Woche alte Mitteilung, dass der Berg endlich überwunden sei. Um mich während meiner Ferientage in Eckernförde zu erreichen ist ihr sogar Mariannes Telefonnummer wieder eingefallen. Doch nun scheint sie an den spiegelglatten Wänden dieses Bergs erneut abgerutscht und wieder am Fuße angelangt zu sein. So viel masochistische Bereitschaft kann ich einfach nicht nachvollziehen.
Nach einigem Herumsuchen finden wir endlich einen Parkplatz und setzen unseren Weg zu Fuß fort. Ich frage sie unterwegs, wie lange sie gedächte, dieses Theater weiter mitzumachen und auch ihre Freunde damit an den Rand der Verzweiflung zu bringen. Doch sie hebt nur immer wieder überfordert die Schultern, sucht nach weiteren Rechtfertigungen für einen neuen Versuch, scheint davon überzeugt, ihren Thomas eines Tages doch noch ändern zu können. Diesen unangenehmen Faulpelz wird jedoch nichts und niemand ändern können, er wird ihr auch weiterhin auf der Tasche liegen, ihr Sparbuch für seine Spielsucht plündern und sie mit seinem Psychoterror quälen, da gehe ich jede Wette ein.
Nachdem wir uns lange genug durch das überfüllte Jahrmarkts-Flair gedrängt haben, verlangen meine Füße nach einer Verschnaufpause. Wir stürzen uns auf zwei Sitzgelegenheiten, die in einem Straßencafé gerade frei geworden sind, schlagen dabei einige der Mitbewerber aus dem Feld und lassen uns - auf diese Weise vom Thema abgelenkt - mit dem Gefühl der Sieger darauf nieder. Ich genieße es, mir die Menschenmassen nun aus der Distanz anschauen zu können und empfinde beinahe so etwas wie Schadenfreude darüber, dass wir es geschafft haben, für eine Weile dieser Drängelei zu entkommen.
Nun interessieren Iris sogar meine Ferientage bei Marianne, und ich erzähle davon, dass Marianne, obwohl das Immobiliengeschäft in diesen Zeiten etwas träger läuft als vor ein paar Jahren noch, keinen Moment bereue, den Schuldienst quittiert und ihr eigener Herr geworden zu sein. "Sie hat trotz der allgemeinen Flaute immer noch genug zu tun, und sie ist dabei, sich ein zweites Standbein zu schaffen. Du kennst ja ihre Vorlieben ..."
"Sag bloß, sie macht jetzt in Kunst am Bau - oder so etwas", unterbricht Iris mich.
"Ungefähr diese Richtung", lache ich, "ja, sie hat ein altes Fabrikgebäude gekauft. Ein Kulturbunker soll das werden - mit Galerie, Bühne und Internetcafé. Dort lässt sie junge Künstler ausstellen, veranstaltet Lesungen und betreut eine kleine Theatergruppe. Du weißt ja wie sie ist, bei ihr muss ständig etwas los sein. Sie lebt wie eine Kerze, die an beiden Enden brennt. Ein illustres Völkchen springt dort um sie herum."
"Kann ich mir bestens vorstellen", seufzt Iris. "Ich war selbst ja auch schon dort - nachdem ich sie aus der Distanz plötzlich wieder leiden konnte." Sie lacht kurz und hart auf. "Gott, war ich froh, dass sie damals weggegangen ist. Sonst hätte ich bei uns sicher nie die Theater-AG und den Schlüssel zum Kunstsaal bekommen. Ich war ja auch erst fünf Jahre bei euch an der Schule. Das Küken und immer noch die Neue. Fast musste man meinen, sie hätte ein Erbrecht darauf gehabt. Nicht ungeschickt, dem Böck ständig um den Bart zu schmeicheln, damit er den Plan nach ihren Wünschen gestaltet und ihr die wenigsten Springstunden und Frühaufsichten gibt. Du weißt, dass ich deshalb oft sauer auf sie war."
Ich muss auch lachen. "Ja, Menschen um den Finger wickeln, das kann sie nach wie vor gut, und mir hat das auch nicht immer geschmeckt, aber ..."
"Ach komm", fällt Iris mir ins Wort, "du, Lydia und Marianne - ihr wart doch wie eine verschworene Einheit. Die drei Super-Fachfrauen für Deutsch, Biologie, Geschichte und Kunst. Damals habt ihr doch alle drei dem Böck ins Ohr geflüstert wie ihr es gerne hättet. Und so ist das mit Lydia und dir manchmal heute noch."
Ich reagiere etwas säuerlich. "Wir flüstern dem gar nichts ins Ohr. Vielleicht haben wir nur deshalb weniger Eckstunden, weil wir seltener krank feiern als du. Eine sechste Stunde kann man eben eher mal ausfallen lassen, als eine dritte. Wir machen genug Vertretungsstunden für dich, du solltest nicht ungerecht sein."
"Was kann ich dafür, wenn es mir so oft schlecht geht?", schmollt sie.
Doch ich weiß sehr wohl, was sie dafür kann und woran es liegt, dass sie sich oft krank und elend fühlt, aber dazu will ich nun nichts mehr sagen, dieses Thema ist endlos. Deshalb wehre ich einfach nur ab. "Ja, ich weiß, du kannst nichts dafür, nie kannst du etwas dafür."
Durch Handzeichen versuche ich, den gestressten Kellner auf uns aufmerksam zu machen, aber der kann die Tische nur mühsam erreichen, da zwischen ihnen wegen der allgemeinen Enge kaum ein Durchkommen ist. Also nehmen wir ihm gleich die doppelte Portion ab, damit wir uns das nächste Mal sparen können.
"Und?", fragt Iris mit einem kleinen Schaumschnäuzer an der Oberlippe. "Lebt Marianne immer noch mit Mona allein, oder hat sie endlich mal wieder einen Freund?"
Iris hat offenbar noch immer nicht verstanden, dass Marianne sich nach dem Unfalltod ihres geliebten Mannes vor nun fast acht Jahren bewusst dafür entschieden hat, mit ihrer Tochter allein zu bleiben und, nachdem sie den damaligen Schock und ihre Trauer nach und nach überwunden hat, damit auch recht zufrieden und glücklich ist.
"Ach Iris", seufze ich. "Was soll Marianne denn mit einem neuen Mann? Es geht ihr doch gut." Ich nippe von meinem Glas und stelle es wieder ab. "Allerdings wird Mona so langsam flügge, immerhin ist sie fast zwanzig und viel von zuhause weg. Das macht Marianne schon ein bisschen zu schaffen. Sie kann ihre Tochter einfach nur schwer loslassen, schläft schlecht, wenn Mona unterwegs ist, macht sich Sorgen, dass ihr etwas passieren könnte. Ist ja auch verständlich - nach allem, was man über die Medien so mitbekommt." Ich zucke kurz mit den Schultern und greife erneut nach meinem Glas. "Da geht es ihr wie anderen Müttern vermutlich auch. Und die Kinder in unserem Alter loszulassen - nicht mehr jung, aber auch noch nicht wirklich alt, dürfte nicht leicht sein. Das ist ein erster Bruch auf dem Weg in die Wechseljahre ..."
"In unserem Alter?" Iris hebt die Augenbrauen. "Ich habe noch ein paar Jahre Zeit, bis ich vierzig bin."
Ich muss grinsen. Ja, sie legt großen Wert darauf, dass sie - im Gegensatz zu mir - noch jung und knackig ist. "Ist schon gut. Ich meinte ja auch nicht dich und mich, sondern Marianne und mich. Aber ...", ich betätschele ihren Arm, "du wirst dich wundern, wie schnell die fünf oder sechs Jährchen vergehen werden, die dich davon noch trennen."
"Sieben!", verbessert sie mich mit Nachdruck. "Ich hab noch sieben Jahre bis vierzig!"
"Auch gut, dann sind es noch sieben. Jedenfalls ist es wohl nicht immer leicht, wenn das eigene Kind erwachsen wird, und wenn seine Freunde und andere Dinge wichtiger werden."
"Ho, ho - ja", Iris gluckst und nickt mit dem halben Oberkörper, "Das glaube ich dir unbesehen. Besonders für eine Glucken-Mama muss das furchtbar sein." Doch das überhöre ich geflissentlich. Habe keine Lust mehr, mich von Iris, die im Privatleben mit Kindern nichts zu tun hat und sich privat auch um ihre Schüler kaum kümmert, darüber aufklären zu lassen, wie Marianne sich als Mutter zu benehmen hat.
Vom einen auf den anderen Augenblick will Iris dann nach Hause. Sie sei müde, gibt sie vor, schließlich sei sie schon seit dem Nachmittag unterwegs. Doch das kaufe ich ihr so nicht ab. Ich glaube zu wissen, wohin sie nun gehen wird. Außerdem habe ich mittlerweile Spaß an der Unternehmung gefunden und will noch nicht gehen.
Zufällig schieben sich mit der Menge eben auch ein paar Freunde meines Bruders Darius vorbei. Eckard, einer der Kollegen aus der Bankfiliale, die Darius leitet, mit seiner Frau Linda und einem weiteren Paar, das ich nur vom Sehen kenne. Linda hat mich ebenfalls entdeckt, zupft ihren Mann am Ärmel, alle bleiben stehen und winken zu mir herüber.
"Dann geh doch", sage ich zu Iris, während sie sich erhebt, "ich bleibe noch ein bisschen", und meine Linke hält ihren Stuhl umklammert, damit der mir nicht verloren geht.
Mit großem Hallo, das im nüchternen Zustand sicher mäßiger ausgefallen wäre, kämpfen sich die vier zu mir durch, lesen unterwegs drei weitere gerade frei gewordene Stühle auf und lassen sich an meinem Tisch nieder.
Ich genieße den erfrischenden Wechsel. Wir plaudern zunächst über belangloses Zeug, reden darüber, wie schön es sei, dass das Wetter nun doch noch mitspiele, obwohl man für das Stadtfest das Schlimmste habe befürchten müssen - "wenigstens für heute Abend". Dann diskutieren wir eine Weile das aktuelle Weltgeschehen, sprechen - angeregt durch den Skinhead, der sich eben an unserem Tisch vorbei gezwängt hat - über die wachsende Gefahr von rechts, die der eine mehr, der andere weniger für akut bedrohlich hält, bis Eckards Frau Linda die Gesprächsrichtung noch einmal wechselt. Sie beschwert sich beim Bezahlen ihres Bieres darüber, dass alles teurer geworden sei, und dass sie sich an den Euro noch immer nicht habe gewöhnen können. Während unserer Gespräche habe ich immer mal wieder meine Augen schweifen lassen. Irgendwie fühle ich eine Unruhe in mir, die ich mir nicht erklären kann. In mir ist eine Erwartung, die ich selbst recht eigenartig finde.
Außer einem Standortwechsel geschieht zunächst jedoch nichts, nichts von Bedeutung jedenfalls. In der letzten Kneipe glotzt lediglich ein älterer, unansehnlicher Mann ständig zu mir herüber. Er schwankt und kann sich kaum noch auf den Beinen halten. Vielleicht benutzt er mich als Fixpunkt, denke ich genervt, vielleicht will er testen, ob er noch geradeaus schauen kann.
Schließlich setzt allgemeines Gähnen ein, und ich will nur schnell noch zur Toilette, bevor ich mich - wie die anderen auch - auf den Heimweg machen werde. Als ich von der Toilette zurückkehre, ist der Platz an der Theke, wo wir eben noch gestanden haben, leer. Sie sind tatsächlich schon gegangen, obwohl wir doch eigentlich beschlossen haben, gemeinsam ein Taxi zu nehmen, da wir ungefähr die gleiche Richtung haben. Ja, ja, der Alkohol. Sie haben es offenbar vergessen. Vielleicht warten sie aber auch draußen auf mich.
Ich muss auf dem Weg zum Ausgang an dem betrunkenen Alten vorbei. Als ich direkt neben ihm bin, grapscht er nach mir, umfasst meine Taille und zieht mich unsanft an sich heran. Er stolpert, reißt mich fast zu Boden dabei und faselt etwas wie "Komm Süße, so jung kommen wir nicht mehr ..."
Angewidert winde ich mich aus seinem Griff und dränge mich zwischen den Menschen weiter zum Ausgang vor. Der Ärger muss mir deutlich im Gesicht stehen, jedenfalls erreicht mich plötzlich eine sympathische männliche Stimme - ganz dicht an meinem Ohr. "Eine solche Laune sollte man auf keinen Fall mit nach Hause nehmen. Ich wäre dir ja gern zu Hilfe gekommen, aber ich war nicht schnell genug."
Kein Zweifel, das gilt mir. Ich drehe mich um und sehe mich einem langmähnigen jungen Blonden gegenüber, der allein an einem der Stehtische neben der Eingangstür lehnt. Ich weiß nicht, was mich treibt, aber ich bleibe stehen, schiebe ein paar der Gläser auf dem Tisch zur Seite, die in Massen darauf warten, abgeholt und gespült zu werden und stütze mit einem Rest an Aggressivität meine Ellbogen auf die runde Tischplatte. "So?", frage ich ihn. "Was würdest du denn mit der schlechten Laune machen?"
"Dafür sorgen, dass ich sie wieder los werde, und zwar so schnell wie möglich", grinst er mich an.
Ich sehe ihm direkt in die Augen, die erst nachdem er die Haarsträhne, die sie zur Hälfte bedecken, zur Seite schiebt, eine Chance haben, überhaupt wahrgenommen zu werden. "Und was schlägst du vor - wie soll das gehen?"
"Indem du noch ein bisschen bei mir bleibst. Wir schaffen das schon." Gönnerhaft schiebt er ein volles Glas Bier zu mir herüber, und sein Lächeln zeigt mir den winzigen Spalt zwischen seinen oberen Schneidezähnen. "Wie heißt du?", fragt der Mund unter dem kleinen, frechen Schnäuzer.
"Carla", antworte ich - fast wie unter Zwang. "Und du?"
"Ich bin der Paul."
Und nach den üblichen Fragen, ob ich auch "von hier" und öfter in dieser Kneipe sei, (was ich verneine), frage ich ihn spontan - eine dumme Angewohnheit von mir - nach seinem Sternzeichen.
"Waage", sagt er, "sechster Oktober."
"Ich bin vom zehnten", sage ich.
"Ach, auch Oktober?"
Ich nicke und lächle zurück.
Er fragt mich, ob ich - da ich nach so etwas gefragt habe - von Horoskopen etwas halte, das täten doch die meisten Frauen.
"Nicht von den Vierzeilern in den Zeitschriften", erkläre ich, "die mir erzählen wollen, dass ich in der kommenden Woche unglaubliches Glück in der Liebe und im Beruf fantastische Aufstiegschancen haben werde, aber ich glaube schon, dass die Stellung der Planeten zum Zeitpunkt der Geburt einen gewissen Einfluss auf das Temperament oder den Charakter eines Menschen hat."
Er nickt zustimmend, und wieder lächeln wir uns an. "Ja, das könnte ich mir ebenfalls vorstellen, auch wenn mir schleierhaft ist, wie das funktionieren soll. Vermutlich gibt es aber Dinge zwischen Himmel und Erde, für die wir Menschen einfach noch zu blöde sind."
Wie man eben so redet, wenn man sich gerade erst kennengelernt hat, unterhalten wir uns übers Wetter – und nun, da der August ausklingt und der September beginnt, spekulieren wir, ob es ein harter oder milder Winter werden wird, und sprechen - jetzt vor den Wahlen im Land, die laut Umfragen ein Lager an die Macht bringen könnten, das wir offenbar beide nicht sehr schätzen - auch den drohenden Klimawandel, die immer weiter steigenden Energiepreise an, halten beide Atomkraftwerke für viel zu gefährlich. „Die Eiszeit ist gerade mal etwa 10.000 Jahre her, dieser Jesus von Nazareth wurde vor 2000 Jahren gekreuzigt. Kommt uns das nicht irre lange vor?“, fragt er mich. „Ja und dieser atomare Abfall strahlt lustig zigtausende von Jahren lustig vor sich hin, Wahnsinn! Über solche zeitlichen Dimensionen kann sich doch heute niemand anmaßen, einfach mal locker über die Köpfe vieler kommender Generationen hinweg zu entscheiden, oder?“ Außerdem finden wir beide, dass die Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft in letzter Zeit auf ein unerträgliches Maß gewachsen sind. Ja, wir sind uns, was die wichtigsten Bereiche des Lebens angeht, einig.
Plötzlich haben wir Getränke nachbestellt, und alles um mich herum erscheint mir wie hinter einem Weichfilter, ohne feste Konturen und völlig nebensächlich - wie der laufende Fernseher, den ich, wenn ich mich auf die Arbeit konzentriere, irgendwann nicht mehr beachte, aber auch nicht abschalte, weil mir die Hintergrundgeräusche das Gefühl vermitteln, nicht allein zu sein. Dass draußen vor der Tür eventuell ein paar Leute auf mich warten, habe ich inzwischen völlig vergessen.
Auf sein Nachfragen erzähle ich ihm, dass ich Lehrerin sei, dass mir das Fach Geschichte besonderen Spaß mache, dass ich als Kind zum Beispiel die Schliemann-Bücher verschlungen habe und gern Archäologin geworden wäre, dass aber auch Biologie eines meiner Lieblingsfächer sei.
"O je, Lehrerin", stöhnt er, "die wissen immer alles besser und laufen ständig mit erhobenem Zeigefinger herum."
Ich muss mir ein Alle-über-einen-Kamm-Scheren zwar entschieden verbitten, und das betone ich mit entsprechendem, etwas übertriebenem Nachdruck auch, doch das leise Zischen, das einige seiner Worte mit S-Laut durch die Lücke zwischen seinen Schneidezähnen begleitet, finde ich niedlich, und während ich meinen Blick nicht von seinen Lippen wenden kann, als er mir ebenfalls seine frühen Träumen offenbart, warte ich amüsiert auf den nächsten S-Laut.
Bald weiß ich, dass er nach dem Abitur - ebenso wie ich ("ho, ho - männliche Lehrer halten ihren Zeigefinger wohl immer flach ...") - auf Lehramt studiert, nach der Referendariatszeit jedoch keine Stelle bekommen hat. Zur Überbrückung habe er eine Schreiner-Lehre gemacht, "eigentlich habe ich schon immer lieber mit den Händen gearbeitet, ganz praktisch also - hatte nie Lust, mich mit wissenschaftlichen Theorien herumzuschlagen", und dass er sich - nach ein paar Jahren als Geselle in einem kleinen Tischler-Betrieb mit seinen beiden Freunden Bernd, dem Elektriker, und Magnus, dem Maler und Computerfreak, mit einer Art Recycling-Firma selbstständig gemacht hat. "Unglaublich, was Menschen manchmal wegwerfen. Wir möbeln alles wieder auf, was irgendwie noch zu retten ist. Dann verkaufen wir es wieder zu erschwinglichen Preisen."
Mir fällt auf, dass er sich beim Reden in einer immer wiederkehrenden Geste die Haare aus dem Gesicht streicht. Das macht mich ein wenig nervös, und ich verspüre ab und zu den Drang, ihm die Hand einfach festzuhalten, damit ihm auffällt, wie automatisch und sicher unbewusst er das macht.
Schließlich erfahre ich, dass sein Vater im Gegensatz zu meinem eher ein sympathisches "Weichei" ist, einer, der zuhause nicht viel zu sagen hat, dem der Bergbau, wie Paul es ausdrückt, "vor zwei Jahren den Steiger-Job wegrationalisiert" habe, und der nun - wie viele andere Menschen leider auch - ohne Arbeit und Hartz-IV-Empfänger sei. Die Familie werde durch die Mutter, die zum Glück wenigstens einen Job als Arbeiterin am Band einer Kunststoff-Fabrik gefunden habe, eher schlecht als recht über Wasser gehalten, das decke neben dem lächerlich wenigen Geld, das der Vater nach über 30 Jahren schwerer Arbeit vom Staat erhalte, nur das Existenzminimum, und sich derart einzuschränken falle seiner Mutter, gewöhnt an einen anderen Standard, doch sehr schwer. Vielleicht gehe es ihr in letzter Zeit auch gesundheitlich deshalb nicht sehr gut.
Ich nehme Letzteres mit Bedauern zu Kenntnis und gebe zu, dass so etwas wie Arbeitslosigkeit meinem Vater als Beamtem glücklicher Weise nie habe passieren können, und dass das nach seinem Tod auch ein Segen für meine Mutter sei, denn sie könne von ihrer Witwenpension recht gut leben. Kurz bevor wir aufbrechen erzähle ich ihm auch noch von Shira, und das bringt ihn auf seinen eigenen Hund, den er sehr geliebt hat. Leider sei der auf dem Wirtschaftsweg vor dem Hof, den er mit seinen Freunden gepachtet habe, unter ein Auto gekommen und an den Verletzungen gestorben, worüber er seinerzeit maßlos traurig gewesen sei, was er auch bis heute noch immer nicht ganz verwunden habe. Das kann ich ihm sehr gut nachfühlen, ist doch auch für mich ein Leben ohne Shira kaum vorstellbar.
Dieser Paul kommt mir nach allen Dingen, über die wir in relativ kurzer Zeit bereits geredet haben, schon sehr vertraut vor, und sein niedergeschlagener Gesichtsausdruck bringt mich nun fast dazu, ihn tröstend zu umarmen. Doch ich reiße mich zusammen.
Fraglos ist nach zwei oder drei Stunden an einen Abbruch des Abends nicht zu denken. Obwohl wir uns bis dahin - außer spontanen, flüchtigen Berührungen unserer Hände - kaum angefasst haben, fühle ich mich zu ihm hingezogen. Er ist mir sympathisch. Ich finde ihn angenehm unaufdringlich. Mit ihm zu reden macht mir Spaß, und er gefällt mir auch äußerlich recht gut: hoch und gut gewachsen, ein hübsches Jungengesicht mit klaren Augen und offenem Blick - so man beides wegen der immer wieder zurückfallenden blonden Haarsträhne überhaupt zu sehen bekommt. Er hat es tatsächlich geschafft, meine Laune erheblich aufzuhellen.
Ohne mich zu zieren willige ich ein, als er mir anbietet, mich nach Hause zu begleiten. Er schlägt vor, auf ein Taxi zu verzichten. "Nach der verqualmten Höhle kann frische Luft nicht schaden, was meinst du?" Auch ich halte das für eine gute Idee.
Draußen hat nun doch leichter Nieselregen eingesetzt. Die Stühle der Straßencafés sind vom Personal schräg gegen die Tische gelehnt worden, damit das Wasser besser abperlen kann. Die Jahrmarktstände haben sich hinter heruntergelassenen Planen zurückgezogen, und unsere Schritte auf dem feuchten Kopfsteinpflaster hallen ungefiltert von den Häuserwänden zurück.
Irgendwann gibt es die erste Pause, in der er mich in seine Arme zieht. Wie selbstverständlich lasse ich es mir gefallen, ist in mir doch auch der Wunsch gewachsen, ihm näher zu sein. Sanft nimmt er mein Gesicht in beide Hände und küsst meine geschlossenen Augen, meine Stirn, meine Nase, bevor seine Lippen meinen Mund umschließen, der sich bereitwillig für ihn öffnet. Sein Bärtchen kitzelt ein wenig, und es ist ungewohnt für mich, da ich bisher nie einen Mann mit Bart geküsst habe. Doch schon nach wenigen Sekunden registriere ich es nicht mehr.
Etwas benommen löse ich meine Lippen von seinen, lehne meinen Kopf ein Stück zurück. Wir sehen uns lächelnd in die Augen. "Du riechst gut", flüstere ich, beuge mich wieder vor und beschnuppere seinen Hals.
"Du auch", sagte er und küsst mich wieder.
Passanten nehmen wir kaum wahr. Wir stehen so lange eng umschlungen bei einander, bis uns jemand anrempelt und eine Bemerkung macht, die sich nach "spart euch das für zuhause auf" anhört. Doch das Lallen ist nur mit Mühe zu verstehen, und das, was der Betrunkene danach noch sagt, kann bei exakter Übersetzung auch einen Schlag ordinärer gewesen sein.
"Haargenau so klang meine Oma, wenn sie abends ihre Zähne im Glas hatte", wispert Paul mir ins Ohr, und wir prusten los. Er nimmt mich bei der Hand, und wir laufen rasch weiter, um von diesem besoffenen Typen wegzukommen. Unterwegs erzählt Paul - anknüpfend an seine Bemerkung eben - von seiner Großmutter, dass sie ihm in der Familie eigentlich immer die Liebste gewesen sei, da sie von allen dort noch die Aufgeschlossenste war. In allem, was er bisher getan habe, habe sie ihn verständnisvoll unterstützt, "auch als ich den Job gekündigt und mit diesem Recycling-Projekt angefangen habe. Dafür hat sie sogar einen Teil ihres Sparbuches gespendet. Leider ist sie jetzt schon über ein Jahr lang tot. Aber nein", er wehrt mein aufkeimendes Bedauern für ihn ab, "keine Sorge, ich hab's überwunden."
Natürlich legen wir auf unserem langen Weg noch ein paar weitere Pausen ein, und seine Küsse bringen in mir eine Saite zum klingen, die ich für tief vergraben hielt.
"Lebst du hier ganz allein?", fragt er - schließlich neben mir auf dem grauen Ledersofa, während seine Augen im Schnelldurchgang meine Wohnung abtasten, eine seiner Hände meine Schulter beknetet und die andere hingebungsvoll von Shira abgeschleckt wird. Auch sie hat ihm gegenüber keine Sekunde lang gefremdelt.
Nach meinem zustimmenden Nicken und dem lachenden Verweis auf Shiras Zuneigungsbekundungen bemerkt er, dass er es irgendwie unsozial fände, wenn eine Person allein ein so großes Haus bewohne, während sich andere auf engem Raum zusammenquetschen oder gar unter der Brücke leben müssten.
Das sehe ich im Grunde ähnlich, und ich beginne, mir um die Ideale meiner Studentenzeit Gedanken zu machen. Bei dieser Gelegenheit fällt mir mit ungläubigem Erschrecken auf, dass diese Zeit schon eine halbe Ewigkeit hinter mir liegt.
"Hast du das hier gemietet, oder ist es deins?"
"Ich hab's gekauft", gestehe ich und schäme mich fast dafür, dass ich mir inzwischen ein eigenes Haus leisten kann.
"Und? Bist du verheiratet, oder so was?"
Mit "oder so was" meint er vermutlich eine feste Beziehung. "Nein, aber ich war es zweimal."
"Was denn, gleich zweimal?"
"Ja, zweimal. Und du?"
"Für mich ist das - glaube ich - nichts", sagt er und konzentriert sich dabei auf Shiras Ohren. "Bin bisher so gerade noch davongekommen."
"Und sonst?", frage ich und meine damit "oder so was".
"Du meinst, eine Freundin?"
"Ja, eine Freundin."
Mir ist, als flöge ein leichter Schatten über sein Gesicht, doch er hat sich schnell wieder im Griff. "Im Augenblick eigentlich nicht."
"Was heißt eigentlich nicht?"
"Na ja, ich kenne schon einige Frauen, mit denen ich befreundet bin, aber ich glaube nicht, dass du die meinst. Also nichts Festes, Enges." Er schüttelt die langen, blonden Haare. "Nee, im Augenblick nicht."
Als er wieder damit beginnt, mich näher an sich heran zu ziehen und sich nun unter meinem Pullover zielstrebig nach oben arbeitet, fällt mir ein, dass ich ihm bisher eine wichtige Frage noch nicht gestellt habe. "Sag mal, wie alt bist du eigentlich?"
"Meinst du in Zahlen oder interessierst du dich für das Gefühl?", fragt er grinsend zurück. "Manchmal fühle ich mich wie hundert."
Ich kneife die Augen zusammen und zupfte an seinem Ohrläppchen. "Wenn es dir nichts ausmacht, wüsste ich schon ganz gern die Zahl."
"Was schätzt du?"
Die Haare müssen aus seinem Gesicht, um dieses vielleicht trügerische Indiz der Jugend auszuschalten, und um feststellen zu können, wie er mit dem kurzen Schnitt eines gestandenen Beamten auf mich wirkt. "Dreiundzwanzig?"
"Fast siebenundzwanzig", schmunzelte er mich an, "im Oktober. Und du?"
Für einen Augenblick bin ich geneigt, auch ihn mein Alter erraten zu lassen. Dann entscheide ich mich jedoch dagegen, denn möglicherweise hätte es mich doch getroffen, wenn er zu weit nach oben gegriffen hätte. "Nun ja", sage ich daher zögernd, "bei mir sind's schon vierzig. Genau genommen bald dreiundvierzig, ebenfalls im Oktober." Ich lächle noch, aber ich spüre, wie beim Vergleich dieser Zahlen für mich die Wirkung des Alkohols ziemlich rapide nachlässt.
"Was soll's?", flüstert er gegen meine Stirn. "Du bist nett. Und das ist es doch, worauf es ankommt, oder?"
Dann stützt er sich am Sofa ab, muss ein wenig darauf achten, das Gleichgewicht nicht zu verlieren, und nimmt den Zettel mit meiner Telefonnummer und meiner E-Mail-Adresse vom Tisch. Er faltet ihn und schiebt ihn in die Brusttasche seiner Jeansjacke. "Ich werde jetzt gehen", sagt er mit einem kleinen Seufzer und zieht auch mich aus dem Sofa zu sich hoch, "aber darf ich wiederkommen?"
Ich zucke mit den Schultern und lächle verlegen.
"Mal sehen. Vielleicht."
Oder hätte ich da besser "Nein" sagen sollen?