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Shira ist zuerst wach, und sie hat ganz andere Probleme als ich. Die Leistungsfähigkeit ihres Schließmuskels ist erheblich überfordert, und ein Blick auf die Uhr sagt mir, warum. Immerhin ist es fast Mittag!

Mühsam quäle ich mich aus dem Bett, und in meinem Kopf dröhnt und hämmert es, als sei darin eine komplette Schmiede untergebracht. Muss ich denn immer gleich so übertreiben? Im Geiste höre ich Konrad, meinen zweiten Geschiedenen, mit diesem ironisch abwertenden Unterton, den ich so fürchterlich an ihm gehasst habe. Unangenehme Sprüche bringt man eben auch nach Jahren nicht so leicht aus dem Kopf.

Shira jagt vor mir her die Treppe hinunter - froh, mich endlich geweckt und von der Notwendigkeit ihrer Bedürfnisse überzeugt zu haben, und ich beneide sie um ihr ungetrübtes Temperament, bringt doch jeder Schritt mein Gehirn derart in Wallung, dass ich glaube, mir müsse der Schädel zerbersten.

Das Bild, das sich mir in meinem Wohnzimmer bietet, trägt auch nicht gerade zur Verbesserung meines Zustandes bei. Die leeren Flaschen auf dem selbstgebauten, roten Holztischchen, der überquellende Aschenbecher, zu dem der Weg gestern Nacht offenbar manchmal zu weit war, was die Asche-Häufchen auf meinem brandneuen, grauen Edelteppich beweisen. Ich begreife nicht, dass überreichlicher Alkoholgenuss mich immer wieder zum Rauchen verleitet, obwohl ich mir dieses Laster seit zwei Jahren abgewöhnt zu haben glaube.

"Wir fahren heute zu Lydia", verspreche ich Shira auf dem Weg in den Garten, denn zu Hause auf die Fortsetzung dieser Dummheit zu warten, kommt für mich auf keinen Fall in Frage. Ein Jüngling, der aussieht, wie ein Rockstar und ein Altersunterschied von sechzehn Jahren! Ich kann doch wohl nicht recht gescheit sein! Mein Gott, welch ein Segen, dass ich nicht auch noch mit ihm geschlafen habe!

Nach der Morgentoilette, ein paar Tassen Kaffee und einem Toast, der die Grundlage für zwei Kopfschmerz-Tabletten schaffen muss, telefoniere ich nach einem Taxi, das mich in die Stadt zu meinem Wagen bringen soll, stelle den Anrufbeantworter ein, nehme den Hund an die Leine und fliehe aus meiner eigenen Wohnung, in der ich mich plötzlich irgendwie nicht mehr sicher fühle.

*

Lydias und Stefans Haus sieht man die Handschrift des avantgardistischen Architekten an. Am gesamten Gebäude gibt es kaum eine rechteckige Wand, und auch die Verglasungen sind sicher nicht als Norm-Anfertigungen in einem Baumarkt zu haben. Stefan hat mit seiner Liebe zum Detail und viel Glas und Stahl ein neuzeitliches Schlösschen entworfen, das in der Siedlung nur eine einzige Entsprechung findet. Auch dieses Haus entspringt Stefans Planung, ist entworfen worden, weil der zukünftige Nachbar einfach hingerissen war und unbedingt ähnlich wohnen wollte.

Während der knapp zehn Jahre, die ich mit Rolf, meinem Ersten, verheiratet war, habe ich Lydia insgeheim um ihren Mann beneidet. Nie musste sie um Stefans Anerkennung kämpfen, nie sich gegen seinen Willen auflehnen. Er hat sie von Anfang an als gleichwertige Partnerin respektiert. Stefan ist ein Mann, dem von seinem jungenhaften, erfrischenden Wesen, mit dem sich durch die Lebenserfahrung inzwischen sensible Reife gepaart hat, nichts verloren gegangen ist. Rolf dagegen ein Mensch, der - wie mein Vater - mit wachsendem Alter immer selbstgerechter, unbeweglicher und härter geworden ist.

Ich lenke meinen Wagen in die Einfahrt, stelle den Motor ab und bleibe noch einen Moment sitzen. Vielleicht war es gerade das, was mich an diesem Paul gestern so fasziniert hat, überlege ich. Er scheint in seiner Art Stefan sehr ähnlich. Unbekümmert, fröhlich und unverkrampft. Ganz anders als die meisten Männer meiner Generation. In der Regel wirkt deren versprühter Charme auf mich albern, aufgesetzt und krampfhaft bemüht. Spätestens ab vierzig starren sie alle so angstvoll auf diesen Wendepunkt vom jungen zum alten Mann, als befänden sie sich einer angriffslustigen Kobra gegenüber. Männer wie Stefan, bei dem die scheinbar ewig junge Seele vergessen macht, dass er in wenigen Monaten sechzig wird, haben so etwas nicht nötig. Und Paul erscheint mir wie eine jüngere Ausgabe von ihm.

Endlich gebe ich mir einen Ruck, ziehe den Autoschlüssel ab, greife nach meiner Handtasche und steige aus. Shira stürmt ungeduldig von der Rückbank und stößt mich durch ihre Hektik fast um. Auf dem kleinen Weg, der um das Haus nach hinten in den Garten führt, habe ich sie schnell aus den Augen verloren.

Da ich davon ausgehe, dass Lydia sich bei dem schönen Wetter heute auf jeden Fall draußen im Garten aufhalten wird, versuche ich gar nicht erst, an der Haustür zu klingeln. Ich vermute sie am Sitzplatz neben dem Teich, da auch Shira in diese Richtung verschwunden ist. So folge ich den leichten Windungen des holzgepflasterten Pfades, laufe über den Rasen auf die üppigen Rhododendren zu, lasse die links liegen und entdecke Lydia - damit beschäftigt, Shiras heftige Liebesbekundungen abzuwehren und die Zeitschrift, in der sie offenbar eben noch gelesen hat, in Sicherheit zu bringen. Sie erhebt sich sofort aus ihrem Liegestuhl und kommt mir mit der sie weiter umtänzelnden Shira entgegen.

"Mein Gott, wie siehst du denn aus? Bist du krank?"

Wange an Wange schnalzen wir unsere obligatorischen Küsschen in die Luft, haken uns gegenseitig unter und gehen gemeinsam hinüber unter den überdimensionalen, nesselbezogenen Sonnenschirm.

"Ich war gestern mit Iris auf der Piste", sage ich mit einem kleinen Seufzer und lasse mich in das Polster eines der Gartensessel fallen.

"Du?", fragt sie gedehnt. "Wie hat sie denn das geschafft?"

"Eine Aktion zur Thomas-Bewältigung. Aber ich glaube, das Problem ist noch immer nicht beseitigt. Sie scheint nun doch wieder mit ihm zusammen zu sein."

"O nein!", stöhnt Lydia und hebt abwehrend die Hände. Auch sie kennt die Geschichte aus hautnahem eigenem Erleben und mag darüber - ebenso wie ich - eigentlich nichts mehr hören. In ihrem Souterrain-Appartement hat Iris bei einem ihrer Fluchtversuche einmal Asyl gefunden - nur bis zur direkt auf dem Fuße folgenden Versöhnung mit Thomas, versteht sich, und Lydia hätte sich eher mit dem Teufel verbündet, als Iris noch einmal bei sich aufzunehmen. Das, was sich an Dramatik in ihrem Hause damals abgespielt hat, will sie auf gar keinen Fall noch einmal erleben. "Die Macht, die er immer wieder über sie hat, muss ihn doch fast größenwahnsinnig machen. Der ist ja um Längen schlimmer als dein Rolf es war."

Ich nicke. "Aber Rolf hat wenigstens nicht von meinem Geld gelebt, er verdiente selbst genug. Und wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte ich nach der Ausbildung nicht arbeiten gehen müssen."

Lydia verdreht die Augen. "Für Rolf gehörten Frauen ja auch an den Herd - bestenfalls zum Repräsentieren an die Seite ihres Mannes."

"Das sieht Thomas im Grunde aber auch nicht anders", sage ich. "Iris darf zwar in die Schule, doch nur um das Geld heranzuschaffen. Danach muss sie dann den kompletten Haushalt erledigen, und er hängt den ganzen Tag zuhause, macht nur die Jobs, die ihm genehm sind, ansonsten legt er die Beine hoch und rastet aus, wenn der Staubsauger ihn beim Fernsehen stört."

"Tja", seufzt Lydia, "aber er weiß anscheinend, wo er bei ihr die richtigen Knöpfchen zu drücken hat, denn im Bett scheint es himmlisch zu klappen zwischen den beiden. Ab und zu wird er ja auch mal gut gelaunt sein, und Versöhnung steigert anscheinend die Leidenschaft. Vielleicht brauchen sie diese Tiefen, damit es auch solche Höhen gibt."

"Vielleicht", sage ich. "Jedenfalls ist es für mich ziemlich spät geworden, und nun habe ich ein Problem."

Ich erzähle ihr von der vergangenen Nacht und von Paul, während Shira wie immer erfolglos versucht, einen der Fische aus dem Teich zu schnappen oder aus der Uferbepflanzung vor ihr fliehende Frösche zu fangen. "Siebenundzwanzig ist er", wiederhole ich noch einmal, "sechzehn Jahre jünger als ich."

"Nun ja, das ist schon heftig", wiegt sie bedächtig ihren Kopf. "Aber wo liegt da das Problem? Die Kopfschmerzen bist du, dank der Hilfe der Pharmaindustrie, inzwischen los, oder? Und die Sache mit diesem Jungen dürfte doch auch nicht unlösbar sein. Falls du ihn wirklich nicht willst, meine ich. Du kennst doch dieses kleine, effektive Wörtchen NEIN, oder?" Dabei schmunzelt sie süffisant. "Würdest du ihn wollen, oder nicht?"

Hilflos hebe ich die Schultern. "Wie soll ich das wissen - nach einer einzigen Nacht, in der nicht einmal Entscheidendes passiert ist? Himmel, bin ich froh, dass ich mit ihm nicht auch noch im Bett gelandet bin. Will mir eigentlich keine weiteren Gedanken darüber machen. Vielleicht meldet er sich ja auch gar nicht mehr."

"Tja", hakt sie nach, "aber was machst du, falls er es doch tut?"

Ich greife nach Lydias Teeglas, nehme einen Schluck daraus und wische die Feuchtigkeit von meiner Oberlippe. "Der Anrufbeantworter bleibt erst mal eingeschaltet und E-Mails kann man löschen."

Doch Lydia scheint Gefallen daran gefunden zu haben, ein mögliches Szenario durchzuspielen. "Stell dir vor, er ruft tatsächlich an und gibt nicht auf, selbst wenn du ihn eine Weile auf dem Anrufbeantworter auflaufen lässt oder seine E-Mails löscht. Unter Umständen steht er sogar eines Tages vor deiner Tür. Könntest du ihn abweisen? Ich meine, du klangst gerade nicht so, als fändest du ihn absolut unsympathisch. Ich kenne dich doch, als du eben von ihm erzähltest, hattest du so etwas verdächtig Verträumtes im Gesicht."

Energisch schüttele ich den Kopf. "Das kann nicht sein."

"Komm schon", sie lacht und stößt gegen meinen Arm, "gib's zu, er hat dich beeindruckt, sonst hättest du anders geklungen, oder gar nicht erst von ihm erzählt. Ich kenne dich lange genug. In deinem Gesicht lese ich wie in einem offenen Buch."

"Ach Lydia", wehre ich ab, "ich kann doch nichts mit so einem langmähnigen Jüngling anfangen. Wenn du schon unbedingt weiter denken willst - gesetzt den Fall, den ich für sehr unwahrscheinlich halte: Stell dir nur vor, wir hätten eine Kollegiumsfeier mit Partnern und ich tauchte mit ihm dort auf. Die würden mich doch alle für völlig durchgeknallt halten. Und meine Mutter erst - Himmel! Was meinst du, wie die auf so etwas reagieren würde?"

"Glaubst du, unser Kollege Scholz zum Beispiel macht sich darüber Gedanken, wenn er eine seiner hübschen jungen Freundinnen mitbringt? Und wenn du mal an Stefan und mich denkst - da sind es auch fast zwanzig Jahre."

Ich nicke. "Aber du darfst nicht vergessen, dass es da die Männer sind, die so viel älter sind. Das scheint immer noch weniger Probleme zu machen als umgekehrt."

"Unsinn!", widerspricht sie mir sofort. "Schau dich doch mal um. So ungewöhnlich ist das heute gar nicht mehr. Vielleicht sind sie auf dem Dorf noch so verklemmt und verschlafen, aber hier in der Stadt? Da wird wegen so etwas keine Frau mehr schief angesehen. Ich könnte dir auf Anhieb ein paar Beziehungen nennen, wo die Frauen älter sind - allein schon unter den Schülereltern meiner Klasse. Ist das bei dir anders?"

Ich grinse. "Die Geburtsdaten meiner Schülereltern hab ich nicht im Kopf, aber es kann schon sein, dass der eine oder andere Vater jünger ist als die Mutter."

"Ich finde jedenfalls, du solltest nicht so sehr darauf schielen, was andere Leute denken. Tust du doch sonst auch nicht. Jedenfalls nicht mehr." Lydia grinst viel sagend und trinkt den Schluck aus ihrem Glas, den ich ihr übrig gelassen habe. "Nun ja, und was deine Mutter betrifft ... Ich denke, darüber müssen wir nicht mehr groß diskutieren, was? Du meinst zwar, du hättest inzwischen den Einfluss deiner Eltern abgeschüttelt, der dir lange Zeit im Nacken saß, aber ein bisschen was davon hat dich noch immer am Faden, glaube ich." Sie wedelt eine Wespe von ihrem Gesicht und zuckt mit den Schultern. "Aber du musst wissen was du tust, ich will dir da nicht reinreden. Bist ja erwachsen."

Sie kichert, streicht mit beiden Händen durch ihre schulterlangen, blonden Haare, fasst sie am Hinterkopf zu einem kleinen Schwänzchen zusammen und wechselt unvermittelt das Thema. "Übrigens - die Unterlagen für die Klassenfahrt sind gestern gekommen, jetzt nach den Ferien haben wir ja nur noch eine knappe Woche bis dahin. Du musst mit unterschreiben, damit ich die Anmeldung für die Unterkunft morgen gleich wieder losschicken kann. Warte einen Augenblick, ich hole die Prospekte und Papiere rasch mal her und bringe uns neuen Eistee mit." Sie grinst und tätschelt mir die Hand. "Scheinst ja ordentlich Nachdurst zu haben."

Nachdenklich schließe ich während ihrer Abwesenheit die Augen. Wie von weit her rückt die Schule wieder in mein Bewusstsein, aber sie kann die Gedanken an diesen Paul nicht verdrängen.


Herbstliebe

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