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Ich bin spät dran heute Morgen und habe mich entsprechend beeilt. Wenn mein Schulleiter etwas auf den Tod nicht ausstehen kann, ist es Unpünktlichkeit. Montags reagiert er darauf besonders allergisch, denn für ihn ist klar, dass man am Wochenende zu heftig gefeiert haben muss, sonst kann so etwas nicht passieren. Damit hätte er bei mir heute völlig falsch getippt.

Die letzte Ampel habe ich bei Rot überfahren und gehofft, dabei nicht geblitzt worden zu sein. Vor der Schule steht ein fremder Wagen auf dem Platz, den ich durch die Macht der Gewohnheit als den meinigen betrachte. Um nicht lange herumsuchen zu müssen und mich auf diese Weise noch mehr zu verspäten, parke ich kurz entschlossen - wenn auch ungern - direkt neben den Fahrradständern. Eilig schließe ich mein Auto ab und hoffe, später daran keine Kratzer entdecken zu müssen.

Als ich die Tür zum Lehrerzimmer aufreiße, sieht Lydia zu mir hoch. Sie hat einen Stapel Hefte vor sich und nutzt wie immer die Freistunde nach ihrer Frühaufsicht, um einige der Korrekturen schon hier zu erledigen. Ich schleudere meine Tasche auf den Konferenztisch und suche mein umfangreiches Bund nach dem Schlüssel für mein Schrankfach ab.

"Der Chef hat deine Süßen schon herein gelassen", sagt sie. "Mit einem solchen Gesicht." Dabei hält sie ihre Hand unter das Kinn und lässt sie langsam nach unten fahren. "Morgen, Carla."

"Morgen", grüße ich etwas geistesabwesend zurück und wühle in meinem Schrank nach der blauen Mappe mit meinen Bio-Arbeitsblättern für die Zehnte. "Der soll sich wieder abregen", brumme ich. "Schließlich mache ich das nicht absichtlich. Was kann ich dafür, wenn zwei Idioten zusammenrasen müssen. Der Zubringer war völlig dicht."

Endlich habe ich gefunden, was ich suche. Ich quetsche die Mappe in meine ohnehin schon reichlich volle Tasche und will schnell wieder aus dem Raum.

"Ach Carla", hält sie mich zurück. "Kannst du deine Klasse mal für einen Moment beschäftigen und wieder runter kommen? Ich muss dir dringend etwas erzählen. Davon müssen die anderen in der Pause nicht unbedingt etwas mitbekommen."

"Huch, wie geheimnisvoll", grinse ich. "Ja, ich will's versuchen."

Ich spurte die Treppen zur ersten Etage hoch und hetze den spiegelblank gebohnerten Gang entlang bis zu der Tür mit dem Schildchen 'Klasse 10b, Frau Berger'. Meine Klasse. Im Normalfall ein quirliges Häufchen. Nun aber, unter der Aufsicht unseres kurz vor der Pensionierung stehenden Schulleiters, der selbst einigen Schülereltern noch als der strenge Böck ein feststehender Begriff ist, mucksmäuschenstill über einer Aufgabe brütend. Mir ist schleierhaft, wie der das immer macht.

"Tut mir furchtbar Leid", versuche ich eine Entschuldigung. "Ein Unfall unterwegs. Ich kam nicht schneller durch."

Doch Herr Böck scheint mir gar nicht zuzuhören. Er stützt sich am Pult ab und erhebt sich aus meinem Stuhl. "Ich weiß, dass eigentlich Biologie dran gewesen wäre, aber ich lasse einen Aufsatz schreiben", brummt er, "Thema: Mögliche Folgen der Globalisierung - Wie gerecht ist unsere Welt?" Ich bin verblüfft. Ein so hochpolitisches Thema, bei dem er sich mit Paul hätte zusammentun können, hatte ich ihm gar nicht zugetraut.

"Vielleicht können wir eines der Elaborate später für unsere Schülerzeitung gebrauchen. Lassen Sie Ihre Klasse also ruhig weitermachen und forsten Sie die Arbeiten später daraufhin durch."

Verwundert sehe ich ihm nach.

Die Sache mit dem Aufsatz kommt mir jedoch sehr gelegen. Ich bitte meine Lieben, für ein paar Minuten leise ohne mich weiterzumachen - aber wirklich leise (!), da ich dringend noch einmal ins Lehrerzimmer zurück müsse, um ein vergessenes Buch zu holen. Dann schleiche ich über den Gang zurück zur Treppe. Ich beuge mich über das Geländer und vergewissere mich, dass Herr Böck unten in seinem Amtszimmer verschwunden ist. Dann husche ich zurück zu Lydia.

"Was ist los?"

"Iris ist heute nicht gekommen." Obwohl niemand außer uns im Lehrerzimmer ist, spricht sie so leise, als müsse sie sich vor Lauschangriffen in Acht nehmen.

"Na und? Was ist daran so Besonderes? Die nimmt doch regelmäßig ihre Grippe oder ihre Migräne."

"Jaaa", haucht sie gedehnt. "Aber dieses Mal liegt sie im Krankenhaus und ist dem Totengräber so gerade noch einmal von der Schippe gesprungen."

"Nein!" Das ist nun wirklich eine aufregende Nachricht. Ich muss mich setzen. "Woher weißt du das?"

"Iris hat mich gestern aus dem Krankenhaus angerufen." Sie macht eine kleine Pause und studiert die Reaktion auf meinem Gesicht.

"Und?", dränge ich ungeduldig. "Was ist passiert? Hat er sie aus dem Fenster geworfen oder ihr eine Mahlzeit Knollenblätterpilze serviert? Nun mach schon, ich muss wieder hoch!"

"Sie hat sich am Donnerstag die Pulsadern aufgeschnitten. Ausgerechnet zu der Zeit, als wir beide unterwegs waren. Hat sie bei dir denn nicht angerufen?"

Für einen Augenblick macht mich diese Mitteilung sprachlos. Ich denke zunächst nicht an die Nachricht auf dem Anrufbeantworter und schüttele den Kopf, starre Lydia nur an. Obwohl Iris ein paar Mal angedeutet hat, dass sie etwas in dieser Art irgendwann tun würde, falls sie es nicht endlich schaffe, von Thomas los zu kommen, habe ich das nie wirklich ernst genommen, habe ihr immer wieder nur eine Therapie angeraten.

Dann fällt mir wieder ein, was meine Mutter mir erzählte. Ich fasse an meine Stirn. "Ah ja, doch! Meine Mutter hat mir gesagt, dass Iris auf meinen Anrufer gesprochen hat, aber ich habe den selbst noch gar nicht abgehört." Wieder schüttele ich den Kopf. "Ich hätte nicht gedacht, dass sie so etwas wirklich macht."

Lydia nickt. "Doch ja, ganz offensichtlich hat sie es getan."

"Nein!", stöhne ich erneut, stütze die Arme auf den Konferenztisch und lege meine Stirn in die Hände. Mein Gewissen meldet sich. Ich hätte reagieren und wenigstens den Anrufbeantworter abhören müssen! Es war ja in der Tat ungewöhnlich, dass Iris angerufen hat - zu einem Zeitpunkt, von dem sie wissen musste, dass ich nicht zuhause war. Zudem wusste ich von meiner Mutter, dass sie offenbar verzweifelt war. Aber wer denkt denn auch gleich an das Schlimmste? "Was ist denn so Außergewöhnliches geschehen, wie kommt sie dazu, sich tatsächlich umbringen zu wollen?"

Lydia zuckt mit den Schultern. "Anscheinend hat Thomas sich in eine andere Frau verliebt und zieht nun zu der. Nachdem er Iris noch vor kurzem - das ist doch gerade mal zwei Wochen her, nicht wahr? - unbedingt wieder zurück haben wollte, kam das für sie natürlich absolut unerwartet. Sie muss völlig fertig gewesen sein."

Ich lehne mich in meinem Stuhl zurück und atme tief durch. "Unter anderen Umständen würde ich ja sagen: Endlich hat er ein neues Opfer. Aber natürlich darf man das nicht so ..." Ich breche ab und stiere auf Lydias Finger, die mit dem Rotstift spielen. "Wie ist sie überhaupt ins Krankenhaus gekommen? Hat Thomas sie hingebracht?"

"Nein, der war zu diesem Zeitpunkt schon weg", sagt Lydia. "Das viele Blut muss sie dermaßen geschockt haben, dass sie sich nach der Schnibbelei selbst noch zum Telefon geschleppt hat, um den Notruf zu wählen."

"Weiß Thomas denn schon davon?"

"Ich gehe davon aus. Sie hat im Krankenhaus angegeben, dass man ihn informieren soll, und die haben ihn gebeten zu kommen. Aber er war bis gestern Abend noch nicht dort."

"Das hab ich fast nicht anders erwartet", seufze ich, "aber wegen eines solchen Typen bringt man sich doch nicht um!"

"Nun ja", sagt Lydia, "das muss für sie schlimmer gewesen sein als alles andere vorher."

Entschieden weise ich jedes Verständnis zurück. "So etwas tut man einfach nicht. Für nichts und niemanden. Das ist krank und kindisch! Aber lass uns später in Ruhe noch mal drüber reden. Ich muss wieder in meine Klasse."

Ich stehe auf und fische ein Buch aus dem Regal. "Das muss ich mitnehmen", sage ich und wedele damit in ihre Richtung, "ich hab meinen Lieben erzählt, ich hätte im Lehrerzimmer ein Buch vergessen."

Sie sieht mir nach und dreht weiter den Rotstift zwischen ihren Fingern. "Hast du übrigens mal wieder etwas von diesem Paul gehört?"

Ich zucke nur kurz mit den Schultern und ziehe die Tür hinter mir zu.

Noch während der ersten Minuten in der Klasse kann ich mich kaum beruhigen. In meinem anfänglichen Ärger werfe ich Iris sogar vor, das Ganze komplett inszeniert zu haben. Dass sie wirklich sterben wollte, nehme ich ihr nicht ab. Für mich war es eindeutig der Versuch, Thomas zu erpressen und auch bei uns nach Aufmerksamkeit zu fischen. Ja, auch bei uns, ihren Freundinnen. Aber es soll keine Wirkung haben, und das soll sie spüren, verdammt noch mal. Soll sie ruhig schmoren - dort in ihrem Krankenbett.

Meine Schüler schreiben sehr ruhig und konzentriert an ihren Arbeiten, und je länger ich unbeschäftigt an meinem Pult sitze, desto milder und mitleidvoller denke ich über Iris nach. Schließlich finde ich, dass Lydia irgendwie schon Recht hatte, als sie sagte, Iris müsse wirklich verzweifelt gewesen sein. Um ein paar Leute zu beeindrucken schluckt man vielleicht Tabletten, aber man schneidet sich nicht die Pulsadern auf - das muss doch höllisch wehtun!

Ich beschließe, sie gleich nach der Arbeit im Krankenhaus zu besuchen.

*

Von der Schule aus ist es nur ein kleiner Umweg bis zur Klinik. Unterwegs halte ich kurz bei einem Blumengeschäft, kaufe einen Strauß gelber Rosen und besorge aus der Drogerie nebenan eine Flasche Traubensaft. Lydia hat mir Iris' Zimmernummer genannt, und so muss ich bei der Anmeldung nicht nachfragen, kann durch die Eingangshalle direkt den Aufzug ansteuern. Ich drücke beide Knöpfe - den Pfeil nach oben, auch den nach unten - und warte. Ich mag Krankenhäuser nicht. Sie erinnern mich an den furchtbaren Tod meines Vaters. Diesen starken Mann in einem Klinik-Bett derart vom Krebs geschrumpft und leidend erleben zu müssen, dieses neue, unfassbar reduzierte Bild eines Mannes, der stets seine Familie beherrschte und kaum Widerspruch zuließ, hat mich damals sehr irritiert. Meine Abneigung gegen Krankenhäuser, in denen selbst ehemals kraftvolle Menschen derart hilflos wirken können, ist seither geblieben. Schon der Geruch drückt mir auf den Magen.

Die stählernen Aufzugtüren fahren zur Seite, Menschen kommen heraus, ich gehe hinein.

Iris sieht mir voller Erwartung entgegen. Das Aufblitzen in ihren Augen verschwindet jedoch gleich wieder, und die Mundwinkel verziehen sich zu einem gequälten Lächeln. Sie ist enttäuscht, das ist nicht zu übersehen. Ich kann mir vorstellen, wen sie sich erhofft hat.

Ihre Handgelenke liegen dick eingewickelt auf der Bettdecke, und das Gesicht, umrahmt von künstlichen blonden Kringel-Löckchen, hätte in ihrem Kissen wie das einer Käthe-Kruse-Puppe gewirkt, wären da nicht diese vom vielen Weinen verquollenen Lider.

Ich strecke ihr die Flasche aus dem Reformhaus entgegen. "Hier, etwas Traubensaft. Soll gut sein für die Blutbildung, hat man mir gesagt. Das kannst du jetzt sicher gebrauchen, nicht wahr?" Ich bemühe mich, locker zu wirken, zwinkere ihr zu und lege ihr den Strauß gelber Rosen auf die Bettdecke. "Gibt es hier irgendwo eine Vase?"

Die Frau im Bett nebenan nickt mir grüßend zu, schiebt die Beine auf den Boden, fährt in die Pantoletten und streift ihren Bademantel über. Dann schlurft sie in Richtung Tür, macht einen tiefen Atemzug und sieht mich mit einem Blick an, als wolle sie sagen: Gut, dass mich hier endlich jemand ablöst. "Kleine Zigarettenpause", lächelt sie verlegen, "Vasen finden Sie auf dem Flur - in einem Schrank. Steht dran." Dann ist sie verschwunden.

Im Flur gibt es tatsächlich einen Schrank mit der Aufschrift "Vasen". Ich suche eine passende aus, fülle sie im Krankenzimmer mit Wasser und stelle die Blumen hinein. Iris legt den Arm über die Augen. "Diesmal ist es endgültig, glaube ich." Dann weint sie ein paar Sekunden lang still in ihren Verband. "Das hier", und dabei hebt sie beide Arme an, "wird er mir nie verzeihen können."

Sie richtet sich auf und versucht, die Rolle mit dem Küchenpapier vom Nachttisch zu angeln. Doch die Verbände behindern sie. So reiße ich ein Blatt ab und reiche es ihr.

"Ich hätte nicht gedacht, dass diese Schnitte so verdammt wehtun." Sie schnieft kräftig ins Papier. "Du kannst dir gar nicht vorstellen, was ich plötzlich für eine Panik bekommen hab."

"Doch, kann ich mir vorstellen."

Die letzten Schluchzer rucken durch ihren Körper, und sie putzt sich noch einmal über die Nase, bemüht sich dann um ein zaghaftes Lächeln. "Danke für die Blumen und für den Saft."

Ich hole mir den Stuhl aus der Ecke und setze mich zu ihr ans Bett. Einen Moment lang überlege ich, suche nach Worten. Nicht leicht, in dieser Situation etwas nicht allzu Plattes zu sagen. So gieße ich ihr erst einmal etwas Traubensaft ein und gebe ihr das Glas.

"Gut möglich, dass er dir das nicht verzeiht", sage ich schließlich. "Er ist im Verzeihen sicher nicht so großzügig wie du. Du solltest aber auch mal darüber nachdenken, ob so etwas", und dabei deute ich mit dem Kopf auf ihre Handgelenke, "der richtige Weg ist. So hält man keinen Menschen."

"Weiß ich doch", wimmert sie und trinkt einen Schluck.

Um das Gespräch auf eine eher pragmatische Ebene zu verlagern, frage ich sie: "Wie lange werden sie dich denn hier behalten? Musst du mit diesen Verbänden unbedingt tagelang hier herumliegen? Laufen kannst du doch, oder?"

"Sicher kann ich laufen, aber der Hauspsychologe meint, ich muss so lange bleiben, bis ich nicht mehr gefährdet bin." Sie starrt ins Leere, nimmt dabei noch ein paar Schlückchen Saft. "Er sagt, es könne sein, dass er mich noch in die Psychiatrie schicken muss."

"Wovon hängt das ab?"

"Er meint, er müsse noch ein paar Gespräche mit mir führen, dann würde er darüber entscheiden."

"Gespräche mit einem Psychologen können sicher nicht schaden", sage ich. "Und was meinst du selbst? Würdest du das noch einmal machen?"

Sie zuckt mit den Schultern. "Keine Ahnung. Im Moment ist mir alles scheißegal."

Ich sehe mich einen Moment hilflos im Zimmer um. Himmel, was soll man darauf nur sagen? "Schau mal", beginne ich zögernd, "ich lebe doch nun auch schon lange allein."

"Ja, ja, ja, ich weiß", unterbricht sie mich aggressiv, "für dich ist das ja auch leicht. Du hast ja auch noch nie jemanden wirklich geliebt. Du weißt doch gar nicht, wie solche Gefühle sind!" Die letzten Worte schreit sie fast. Und auch wenn sie damit vielleicht Recht hat, es trifft mich.

Ich senke den Blick und schweige - bis ich fühle, wie sie mit ihrem Verband an meinem Arm entlang streicht. "Ach Carla, verzeih mir, so hab ich es nicht gemeint. Kann sein, dass ich dir ziemlich auf den Wecker gehen werde, wenn ich zu Hause bin." Sie versucht ein müdes Lächeln. "Ich glaube nicht, dass ich das viele Alleinsein ertrage. Jedenfalls am Anfang nicht."

Na, das war doch wenigstens schon mal ein kleines Licht am Horizont. Ich schlucke meinen Anflug von Ärger hinunter, greife den Faden dankbar auf und frage sie augenzwinkernd. "Meinst du, du schaffst es, meine Nerven noch mehr zu strapazieren als bisher?"

Sie nickt mit großen Augen und lächelt noch immer dabei.

Herbstliebe

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