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Fast hätte ich ihn nicht wiedererkannt. Er hockt auf dem dicken Holzpflock neben meiner Haustür. Die Ellbogen auf die Knie gestützt und das Kinn in beiden Händen schaut er mir entgegen, verfolgt grinsend, wie ich vor Schreck fast seine Ente ramme und den Wagen unsicherer als sonst in die Einfahrt rangiere. Dann, beim Näherkommen, wird mir endlich bewusst, wer er ist. Es trifft mich wie ein Schock!

Ich steige aus, winke ihm kurz zu und krame dann nach den Einkäufen im Kofferraum. Vergrabe mich eine Weile regelrecht darin und überlege krampfhaft, wie ich mit der Situation umgehen soll. Ihn einfach wegzuschicken bin ich zu feige, so brüsk kann ich mit ihm nicht umgehen. Das kann ich mit niemandem - eben weil ich zu so etwas eigentlich zu feige bin. Besonders, wenn ich mir meiner Ablehnung nicht ganz sicher bin, wenn ich den Menschen, um den es geht, im Grunde ganz nett finde. Aber was soll ich tun, wenn er mich zum Beispiel über den normalen Handschlag hinaus anfassen wird? Wenn er da weitermachen will, wo wir aufgehört haben und mir um den Hals fällt? ...

"Na, das ist ja ein Ding!" Zu höheren geistigen Ergüssen reicht es bei mir momentan nicht, dazu bin ich viel zu aufgeregt. Ich klemme mir eine der Tüten unter den Arm, schlinge den Riemen meiner Handtasche über die andere Schulter, greife nach dem Korb mit dem Gemüse, werfe die Kofferraumhaube wieder zu und gehe langsam zu ihm.

Er steht auf, wischt sich in einer flüchtigen, ebenfalls Verlegenheit signalisierenden Bewegung über den Jeans-Po, kommt die paar Schritte auf mich zu und nimmt mir den Einkaufskorb aus der Hand. Jetzt erst betrachte ich ihn genauer. Der kurze Haarschnitt lässt seine hübschen, schmalen Gesichtszüge sehr viel besser zur Geltung kommen, und der fehlende Schnäuzer gibt einen Mund mit festen, klar gezeichneten Lippen frei. Himmel, er sieht wirklich unverschämt gut aus! Und nun muss er sich nicht mehr ständig diese lästige Haarsträhne aus dem Gesicht streichen ...

"Ich habe mir gedacht, schau doch mal nach, was mit ihr los ist. So oft kann man ja gar nicht unterwegs sein. Bestimmt zwanzig Mal habe ich nur deinen Anrufbeantworter erwischt."

"Nun übertreib mal nicht", sage ich, "genau zehn Mal war's."

"Ist doch auch eine ganze Menge, oder? Bekomme ich dafür jetzt einen Kaffee oder einen Tee bei dir?" Er steht neben mir, so nah, dass ich sein angenehm dezent duftendes Rasierwasser riechen kann und sieht mir dabei zu, wie ich die Haustür aufschließe. Dann erzwingt Shira sich stürmisch unsere Begrüßung, was die Situation zunächst ein wenig entspannt.

"Wenn du schon mal hier bist ...", versuche ich zu lächeln und bitte ihn ins Haus, trete zur Seite und lasse ihn an mir vorbei.

In der Küche packe ich meine Einkaufstasche auf die Anrichte, nehme ihm den Korb wieder ab und stelle ihn zu den anderen Sachen auf den Tisch.

"Ich war eine Woche lang auf Klassenfahrt", sage ich, öffne den Vorratsschrank und hole die Teedose heraus.

"Aber ich versuche inzwischen seit zwei Wochen, dich zu erreichen", sagt er, zieht sich einen der Küchenstühle zurecht und setzt sich unaufgefordert. "Deine Klassenfahrt erklärt es also noch nicht. Was ist los? Wolltest du nicht mit mir reden?"

"Mir ist das Ganze im Nachhinein ein wenig unangenehm", gestehe ich - auch für mich selbst überraschend ehrlich. Ich wende ihm den Rücken zu, befülle das Teesieb und hänge es in die Kanne, fülle den Wasserkocher und schalte ihn ein. Dann setze ich mich ihm gegenüber an den Küchentisch und schaue ihn offen an. "Sieh mal, wir hatten einen schönen Abend mit einander, aber ..."

"Das fand ich auch", unterbricht er mich. "Einen sehr schönen sogar. Nichts mit aber. Für mich war dieser Abend bedingungslos einfach nur schön. Weshalb ist dir das nun unangenehm?"

Ich schaue nach unten und beknete - nun doch wieder verunsichert - meine Finger. Wie sag ich es ihm nur? "Hast du schon mal unseren Altersunterschied ausgerechnet?", frage ich ihn dann.

Er lacht. "Ach darum geht's!" Er greift über dem Tisch nach meinen Händen, hindert sie daran, sich weiter mit sich selbst zu beschäftigen und holt sie ein Stück zu sich herüber. "Kann es sein, dass du ein wenig spießig bist?"

Ich entziehe ihm meine Hände und lehne mich in meinem Stuhl zurück. "Ja, kann sein." Ich verschränke die Arme vor meiner Brust - wie um mich zu schützen. "Mensch Paul", fahre ich ihn dann an, "du bis sechzehn Jahre jünger als ich, was willst du mit einer so alten Tante?"

"Alte Tante? Du siehst nicht aus wie eine alte Tante und du bist auch keine. Ich finde, du bist eine klasse Frau, dein Alter ist mir egal, und ich hab mich - glaube ich - in dich verknallt. Ist das schlimm?"

"Tja", ich hole tief Luft, "ich weiß nicht recht. Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, dass ein so junger Mann wie du mehr als ein Abenteuer mit einer Frau wie mir suchen könnte. Und auf ein kurzzeitiges Abenteuer habe ich so gar keine Lust."

Er lehnt sich nun ebenfalls zurück, ahmt meine Körperhaltung nach und nickt mit dem Kopf. "Aha, weil ich ein paar Jahre jünger bin als du, kann es gar nicht anders sein, als würde ich ein - wie sagst du? - kurzzeitiges Abenteuer mit dir suchen. So, so, ich verstehe."

Ich beuge mich wieder vor. "Ist es etwa nicht so?"

Wieder tut er es mir nach. "Könnte es nicht auch so sein, wenn wir beide gleich alt wären? Sind Beziehungen mit gleichaltrigen Männern immer etwas für die Ewigkeit? Wie war das nochmal mit den Erfahrungen, die du zu diesem Thema bisher gemacht hast?"

Damit hat er mich natürlich erwischt. Ich senke den Blick und schweige.

Nun grinst er mich an. "Siehst du? Da stimmt doch etwas bei deiner Beurteilung der Lage nicht. Jede Beziehung ist eine unsichere Sache - ganz gleich wie alt die Menschen sind, die sie eingehen. Da kann es niemals Garantien geben, es zählt immer nur das aktuelle Gefühl. Und? Wie schaut's bei dir damit aus? Magst du mich nicht? Sag's ehrlich, dann gebe ich auf der Stelle Ruhe. Aber die Ausrede mit dem Altersunterschied kann ich nicht akzeptieren."

"Doch", sage ich leise, "mögen täte ich dich schon ..."

"Na bitte", lächelt er triumphierend, "dann hätten wir das ja geklärt. Und nun bitte kein Wort mehr zu diesen blöden sechzehn Jahren. Und wo liegt nun für uns das Problem? Bin ich zu weit gegangen? Wir hatten doch Spaß mit einander. Was ist falsch daran?"

"Zum Beispiel der Alkohol", sage ich. "Wir haben eine Menge getrunken an diesem Abend, und nachdem ich am anderen Morgen wieder nüchtern war ..."

"..., da hast du dich gefragt, wie konnte ich nur, oder?"

Ich nicke und weiche seinem Blick aus. "Nun ja, erstens würde ich im nüchternen Zustand niemals einen wildfremden Menschen zu mir mit nach Hause nehmen, das hab ich vorher noch nie gemacht, jedenfalls nicht am ersten Abend, und zweitens - du hast zwar meine Telefonnummer eingesteckt, aber vielleicht besitzt du davon zuhause schon eine ganze Sammlung."

Er lacht und stützt die Ellbogen auf die Tischplatte, legt wieder sein Kinn in die Hände und schmunzelt mich an. "Oh ja, ich bin ein ausgefuchster Gigolo, nimm dich in Acht vor mir. Ich hab mich auf ältere Damen spezialisiert, vorzugsweise Beamtinnen, und ich lege es darauf an, irgendwann ihre Pension zu kassieren und zu verbraten." Er schüttelt - weiter lächelnd - den Kopf und schnalzt mit der Zunge. "Wie konntest du mich nur so schnell durchschauen? Als Pädagogin bekommt man wohl einen Blick für die Menschen, was?"

"Du bist verrückt", muss nun auch ich lachen. Ich erhebe mich, weil das Wasser hinter mir zu kochen beginnt.

"Immer noch besser, als un-ver-rück-bar. Mit dem Ver-rückt-sein kann ich gut leben. Ist vielleicht die einzig wahre Überlebensstrategie. Besser als unbeweglich und steif."

Ich gieße den Tee ein und stelle die Kanne zwischen uns auf den Tisch.

"Über diese Auslegung des Begriffs Verrücktheit habe ich noch gar nicht nachgedacht. Da ist etwas dran. Aber sieh mal, theoretisch könnte ich deine Mutter sein."

"Quatsch. Dafür hättest du ein sehr frühreifes Mädchen gewesen sein müssen, und das traue ich dir nicht zu." Er greift wieder nach meiner Hand. Das versetzt mir zwar so etwas wie einen kleinen elektrischen Schlag, aber ich lasse sie ihm dieses Mal, und wir schweigen eine Weile, sehen uns nur an. In seinem offenen Blick erkenne ich plötzlich sehr viel Ehrlichkeit. Ich beginne, ihm zu glauben, und mein Herz macht ein paar kleine, mir ungewohnte Extraschläge.

Shira, die während der ganzen Zeit Paul zu Füßen gelegen hat, rettet mich aus dieser Situation. Sie kratzt an seinem Hosenbein und fordert seine Aufmerksamkeit. Er lässt mit einem kleinen Tätschler meine Hand los und beugt sich hinunter zu ihr. "Willst wohl gekrault werden, was? Schön, dass wenigstens du nicht vor mir davonlaufen willst." Dabei wird seine Stimme sehr weich, und seine Hände wühlen ihr hinter den Ohren herum. Ich starre auf seine Finger und finde, dass er unglaublich schöne, schlanke Hände hat. Kaum vorstellbar, dass er damit seine schweren Arbeiten macht. Für einen Schreiner auch erstaunlich, dass noch alle Finger beisammen sind, denke ich.

Eine Weile reden wir gar nicht. Er konzentriert sich darauf, den Hund zu bekraulen. Ich betrachte ihn dabei. Wie warm und einfühlsam er das tut! Ich ertappe mich dabei, dass ich gerade jetzt gern an Shiras Stelle wäre.

Shira scheint genug zu haben, sie trottet von dannen und verschwindet im Flur. Paul wendet sich wieder mir zu, leert seine Tasse, schiebt sie zu mir herüber und erhebt sich. "Ich muss jetzt weiter. Hab noch ein paar Sachen im Auto, die ich ausliefern muss. Das Wichtigste haben wir für den Moment ja auch geklärt."

"Ausliefern?" Ich sehe fragend zu ihm hoch und stehe dann ebenfalls auf. "Was musst du denn ausliefern?"

"Erzähl ich dir am Samstag, wenn ich dich - sagen wir so gegen halb acht? - zum Essen abhole. Ich bin spät dran. Hast mich zu lange in deinem Vorgarten schmoren lassen."

Ohne auf mein verblüfftes Gesicht zu achten geht er vor mir her in den Flur, betätschelt Shira in ihrem Korb noch einmal den Rücken, verpasst mir einen schnellen Kuss auf die Wange und hat schon die Türklinke in der Hand.

"Äh ...", versuche ich zaghaft die Einladung zum Essen noch einmal zu thematisieren. "Hab ich das richtig verstanden? Du lädst mich für Samstag zum Essen ein? Du weißt doch gar nicht, ob ich Zeit habe."

"Hast du nicht?"

"Doch, aber ..."

"Na, dann ist ja alles klar", grinst er, streichelt mir noch einmal über die Wange und lässt mich überrumpelt zurück.

Ich schließe die Tür hinter ihm und lehne mich von innen dagegen. Brauche einen Augenblick für den Kampf gegen die Verwirrung der Gefühle in mir.

Shira stellt in ihrem Korb den Kopf schräg und horcht darauf, wie draußen der Entenmotor anspringt. Dann, als das Geräusch sich immer weiter entfernt, sacken ihre Ohren wieder nach unten. Ihre Stirn glättet sich, und sie wedelte, als wolle sie sagen: "Siehst du? So schlimm war das doch gar nicht."

Herbstliebe

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