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Es läutet an der Haustür. Ich lege den Stift aus der Hand, schiebe meinen Schreibtischstuhl mit den Kniekehlen zurück und zischte Shira an, dass sie mit dem Bellen aufhören solle. Im Flur erst stellt sich ein ungutes Gefühl ein. Das wird doch nicht etwa ...?

Auf Zehenspitzen tappe ich in die Küche und werfe vorsichtig einen Blick aus dem Fenster. Nein - ich atme auf - es muss Charlotte sein. Ihr Fahrrad lehnt am Stamm der Kastanie vor meinem Haus.

Wir umarmen uns, und ich muss mich etwas strecken, um ihr einen Kuss auf die Wange zu drücken. "Hallo, meine Süße." Dann halte ich sie ein Stück von mir weg. Ihre Jeans sitzen so eng, dass man annehmen könnte, sie habe sie sich mit einem Schuhlöffel angezogen. An den Knien ausgefranste Löcher. Das knappe, bunte Viskose-Top lässt einen Teil ihres flachen Bäuchleins frei. Die Haarsträhne hinter ihrem rechten Ohr, das einzige, was sie nach dem streichholzkurzen Schnitt von ihren prächtigen langen Haaren übrig gelassen hat, liegt zu einem dünnen Zopf geflochten auf dem Träger ihres Rucksacks und ist am Ende mit einem roten Schleifchen zusammengebunden. "Niedlich siehst du aus, Schatz", lächele ich sie an. "Ist das Oberteil neu? Hab ich an dir noch gar nicht gesehen."

Charlotte wirft sich stolz in die Brust. "Gefällt es dir?"

Ich nicke, während mein Blick sie weiter vom Kopf bis zu den Füßen taxiert. "Ja, du kannst so was tragen."

Sie nimmt wieder normale Haltung an und streicht über ihren Busen, als müsse sie ein paar Fussel wegwischen. "Hab ich mir gerade von meinem Kneipengeld gekauft. Man muss ja irgendwie seinen Frust kompensieren, wenn man einen so bescheuerten Vater hat."

Jetzt erst tätschelt sie Shira, die sich ihr an die Beine drängt, krault sie hinter den Ohren. "Ja, mein Schätzchen, ich weiß, du bist auch noch da."

"Du", sage ich, "ich muss schnell noch zwei Arbeiten zu Ende durchsehen, danach können wir reden. Aber ich will das unbedingt vor der Klassenfahrt noch von der Schulter haben."

"Ja, verstehe. Dann koch ich schon mal Kaffee", sagt sie und lässt die Rucksackträger an den Armen herunter gleiten. "Ich hab uns nämlich Kuchen mitgebracht."

Ich grinse. "Willst mich wohl mästen, was? Na schön, lass mal sehen."

Sie holt eine Papiertüte mit dem braun-gelben Aufdruck unserer Lieblings-Bäckerei heraus. "Nur ein paar Hefeteilchen. Ich dachte, bist du heute mal großzügig mit deiner Tante. Vielleicht zahlt sich das irgendwann aus." Albern schwenkt sie dabei die Tüte vor meiner Nase hin und her.

Kopfschüttelnd sehe ich ihr nach, wie sie mit ein paar übertriebenen Hüftschwüngen in die Küche tänzelt. "Ja, ja", ruft sie von dort aus, "brauchst nichts zu sagen, ich mach keine Musik an, bin ganz still und stör dich nicht bei deiner wertvollen Arbeit."

Ich steige die Treppe wieder hoch und setzte mich zurück an meinen Schreibtisch. Nur noch zwei Arbeiten, Gott sei Dank. Unten aus der Küche höre ich Charlotte entgegen ihrer Ankündigung vor sich hin summen und mit Geschirr klappern. Kurz nach dem letzten Röcheln der Kaffeemaschine kommt sie zu mir herauf - vorsichtig zwei gefüllte Kaffeetassen vor sich her balancierend. Sie stellt meine Tasse neben das Telefon auf den Schreibtisch, ihre eigene ins Regal, dann geht sie noch einmal hinunter in die Küche, um den Teller mit den Hefeteilchen zu holen. Sie hält ihn mir zusammen mit einem Stück Küchenpapier hin. "Willst du schon eins? Du kannst es damit anfassen, dann machst du dir die Finger nicht klebrig."

Ich nehme ihr das Papier aus der Hand und greife nach einem der Kuchenstückchen, beiße hinein. Sie sieht mir über die Schulter. "Was ist denn das für eine Arbeit?"

"Geschichte. Etwas zur Judenverfolgung im dritten Reich", antworte ich kauend.

"Aha", sie stellt den Kuchenteller neben ihre Tasse ins Regal, nimmt sich ebenfalls ein Stück Kuchen und lässt sich damit in das kleine Sofa fallen. "Apropos Judenverfolgung, kennst du das Buch 'Die Welle' von Morton Rhue? Das haben wir damals zu dem Thema durchgearbeitet. Eine tolle Geschichte, wie dieser Lehrer seinen Schülern vorführt, wie plötzlich eine ganze Schule faschistisch abdrehen kann - so wie die Leute damals zu Hitlers Zeiten. Eine Prise Macht für diejenigen, die sonst nichts zu melden haben und sich endlich in ihrem Leben einmal wichtig fühlen wollen. Ein paar Befehle, die man zunächst zwar irgendwie seltsam findet, die aber ausgeführt werden, weil man diese Macht nicht mehr verlieren und nicht zurück in die Bedeutungslosigkeit will. Und dann schaukelt sich die Welle bis in den Wahnsinn hoch."

Ich lege meinen Kuchenrest auf dem Papiertuch ab und klappe das letzte Heft zu, packe es zu den anderen auf den Stapel. "Ha, geschafft!" Dann greife ich nach meiner Kaffeetasse, drehe den Stuhl und wende mich Charlotte zu. "Ja, das ist wirklich sehr geschickt gemacht. Deshalb gehört das Buch schon seit Jahren, wenn das Thema an der Reihe ist, zur Lektüre in meinen zehnten Klassen. Aber nun erzähl mal, hast du dich mit deinem Vater wieder vertragen?"

Charlotte seufzt und verdreht die Augen. "Liebe Tante Carla", das sagte sie sehr akzentuiert, "mit dem kann man sich nicht vertragen, wie du es nennst. Entweder man macht, was er will, oder man ist sein Feind. Dazwischen gibt es nichts. Dein Bruder ist ein selbstgerechtes, ignorantes Arschloch - genauso wie Opa es war. Er allein ist im Besitz aller selig machenden Wahrheiten, und wenn etwas nicht nach seiner Nase geht, ist man auf jeden Fall im Unrecht. Bin froh, wenn ich zuhause raus bin. Verstehe nicht, wie Mama das mit ihm aushält." Aggressiv stopft sie sich das letzte Stück ihres Hefeteilchens in den Mund, bemüht sich, die Menge möglichst rasch zu zerkauen, und schluckt.

Shira schluckt ebenfalls, allerdings nur das Wasser, das ihr im Maul zusammengelaufen ist, während sie die Köstlichkeit in Charlottes Hand nicht aus den Augen gelassen hat. Doch nun ist auch ihr wohl endgültig klar, dass sie davon keinen Bissen mehr abbekommen wird.

"Tja", gebe ich zu, "mit Darius auszukommen ist schon nicht leicht."

Sie nickt. "Das kannst du laut sagen. Er versteht einfach nicht, dass ich etwas Kreatives tun muss, dass ich in einer Bank oder in einem Büro ersticken würde. Nein, ich will nicht so werden wie Papa. Ich werde mein Ding durchziehen, da kann er sich auf den Kopf stellen. Und ich werde es schaffen, das weiß ich." Und nach einer kurzen Pause: "Jura", sie tippt sich mit dem Zeigefinger gegen die Schläfe, "hat er mir als Alternative angeboten. Das würde er wohlwollend unterstützen, hat er gesagt. Wenn ich den Leuten schon nicht als Anlageberaterin das Geld aus der Tasche schwatze, soll ich wenigstens die Ferkel verteidigen, für die das Abzocken ihrer Mitmenschen kein Problem ist, und die ihren Kunden gnadenlos und wissentlich unsichere Papiere andrehen - nur um des eigenen Profits wegen. Soll ich etwa so etwas machen? Nee, mit so was will ich nichts zu tun haben." Sie schüttelt energisch den Kopf. "Ich werde zuhause ausziehen und sehen, dass ich mich finanziell unabhängig von ihm mache."

"Und wie willst du das anstellen?"

Ein kurzes Zucken mit den Schultern. "Mich um ein Stipendium bemühen. Neben dem Kneipenjob noch eine andere Stelle suchen. Im Supermarkt, als Putze oder so was. Keine Ahnung, ganz egal. Ich sehe schon die Zeitungen nach Anzeigen durch. Bis ich irgendwo an einer Schauspielschule angenommen werde, kann es ja noch dauern. Aber erst schon mal zu ein paar anderen Leuten in eine WG ziehen. Ich kenne da eine, in der gerade ein Zimmer frei ist. Nicht teuer. Muss Papa mir eigentlich nicht das Kindergeld geben, wenn ich nicht mehr zuhause wohne? Das würde auf jeden Fall für die Miete reichen."

"Mit Kindergeld und was davon wem zusteht kenne ich mich nicht aus. Ich denke aber, dass er dir bei seinem Gehalt, auch wenn ihm die Richtung nicht unbedingt passt, zumindest eine erste Ausbildung finanzieren wird. Wenn sich herumspräche, dass er seine einzige Tochter hängen lässt, wäre das schlecht für sein Image. Kann mir nicht vorstellen, dass ihm das recht wäre."

"Meinst du? Na, das wäre ja schon mal passend." Sie grinst. "Finanzielle Zuwendung aus Eitelkeit. Und ich würde es nehmen, wenn es mir zusteht - Unabhängigkeit hin oder her."

"Weißt du schon, bei welcher Schauspielschule du dich bewerben willst?"

"Essen? Bochum? Hamburg? Überall vermutlich."

"Hm - wenn sie dich in Hamburg nähmen, könnte ich mit Marianne sprechen. Sie kennt dort oben eine Menge Leute, von denen dir vielleicht der eine oder andere mit seinen Verbindungen helfen kann. Und ich hatte sowieso vor", ich räuspere mich, "dir jetzt nach dem Abitur und dem Führerschein das Sparbuch zu geben, das ich bei deiner Geburt angelegt habe. Da ist inzwischen ein hübsches Sümmchen drauf. Ein kleines, gebrauchtes Auto ist sicher drin, Steuern und Versicherung wären dann mein Beitrag zu deinem Lebensunterhalt."

Charlotte reißt die Augen auf. "Ein Sparbuch? Für mich? Davon weiß ich ja gar nichts!" Sie stürzt auf mich zu, küsst und herzt mich. "Ach Carla, du bist - du bist die beste Tante, die ich je hatte."

Lachend versuche ich, mich ihrer heftigen Liebesbekundungen zu erwehren. "Ja, ja, ich weiß. Bin ja auch die einzige."

Herbstliebe

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