Читать книгу Herbstliebe - Ulrike Linnenbrink - Страница 7
4
ОглавлениеMeine Mutter hat die Verantwortung für Shira übernommen - wie immer, wenn ich für ein paar Tage unterwegs bin. Sie gießt meine Blumen, zieht die Rollläden morgens rauf, lässt sie abends wieder herunter und leert meinen Briefkasten. Außerdem finde ich jedes Mal nach meiner Rückkehr meine gesamte Wäsche sauber und gebügelt im Schrank. Das ist angenehm, und es macht mir kein schlechtes Gewissen, denn damit befriedigte sie allem Anschein nach auch eigene Bedürfnisse und kommt sich nach dem Tod meines Vaters nicht allzu nutzlos vor. In gewisser Weise tue also auch ich ihr etwas Gutes, denn sie kann sich nützlich und gebraucht fühlen.
Ich bin ein wenig erschöpft von der Klassenfahrt. Mutter hat mich mit Rahmwirsing und frischer Bratwurst versorgt, und wir sind während des Essens ins Plaudern gekommen. Darius hat sie - so selten das zu Mutters Bedauern auch vorkommt - mal wieder besucht und unter anderem mit ihr über Charlotte geredet.
"Schauspielerin!" Ihr Blick wandert verächtlich zur Zimmerdecke. "Es gibt weiß Gott genügend Schauspieler, die nicht wissen, wie sie ihre Miete bezahlen sollen. Das ist doch nichts Handfestes, nichts Sicheres. Also - nein, ich bin auch dafür, dass sie erst einmal eine Banklehre bei Darius macht oder Jura studiert. Später kann sie immer noch sehen, aber dann hat sie wenigstens einen ordentlichen Berufsabschluss in der Tasche. Willst du noch Nachtisch?" Sie erhebt sich von ihrem Küchenstuhl und holte eine Packung Brombeer-Eis aus dem Gefrierschrank.
Ich lasse meine Gabel auf den leer gegessenen Teller fallen, schiebe ihn ein Stück von mir weg und streiche demonstrativ über meinen Bauch. "Eigentlich bin ich satt, Mama, aber - na gut - ein Eis wird schon noch reinpassen." Schon wieder eine Gelegenheit zum Nein-Sagen verpasst.
Sie kratzt Eis aus der Packung, knipst jeweils drei Kugeln auf die beiden Glasteller stellt sie vor uns hin und legt Löffel dazu.
"Es ist nun mal ihr Herzenswunsch, Mutter", nehme ich unser Thema wieder auf. "Ich finde sogar, dass sie durchaus Talent hat. Hat sie dir neulich bei der Schulaufführung nicht auch sehr gefallen? Bist ja fast geplatzt vor Stolz über deine begabte Enkelin."
"Ich habe auch nicht behauptet, dass sie nicht genug Begabung hätte. Aber Talent hin - Talent her, was hat sie davon, wenn nicht auch noch eine Prise Glück hinzukommt? Wenn sie niemanden findet, der sie fördert und sie an die richtigen Adressen bringt? Wie heißt es doch so schön? Vitamin B, also Beziehungen muss man haben, und die hat sie nun mal nicht."
"Noch nicht", entgegne ich und löffele das Eis in mich hinein, "ihr erwartet immer zuerst das Negative. Sicher kann man mit seinen Träumen auch Bauchlandungen hinlegen, aber sie gar nicht erst anzupacken kann doch auch nicht der richtige Weg sein, oder? Mir tut es zum Beispiel heute noch Leid, dass ich nicht Archäologin geworden bin, weil Papa etwas dagegen hatte und mich unbedingt in den Schuldienst drücken wollte."
"Immerhin hatte er damals Möglichkeiten, dich zu unterstützen, hat beispielsweise dafür sorgen können, dass du hier in die Nähe versetzt wurdest und nicht irgendwo weit weg gelandet bist." Sie lächelt - offenbar immer noch stolz auf ihren seinerzeit einflussreichen Mann - und gießt uns den frisch aufgebrühten Kaffee ein. "Als Lehrerin bist du inzwischen aber doch auch ganz zufrieden, oder? Manchmal muss man seine Kinder eben zu ihrem Glück zwingen."
"Manchmal sollte man sich aber auch einfach mal etwas trauen und ins kalte Wasser springen", gebe ich trotzig zurück und spüre - sobald ich es ausgesprochen habe, dass ich damit etwas gesagt habe, was mich - höchst aktuell - auch selbst betrifft. Und noch während meine Gedanken sich mit Paul beschäftigen, trifft ihre Frage mich wie ein Geschoss aus heiterem Himmel.
"Sag mal, wer ist denn eigentlich dieser Paul?"
"Dieser - wer?" Ich setze die Tasse, die ich mir eben zum Mund führen will, heftig zurück auf den Tisch.
"Na, dieser Mensch, der unentwegt auf deinen Anrufbeantworter gesprochen hat."
Verdammt, sie kann doch einfach nicht die Finger von meinem Anrufbeantworter lassen! Gut, dass sie sich nicht an meinen Computer traut, sonst würde sie auch noch meine E-Mails lesen!
"Ich hab nur mal kurz rein gehört", rechtfertigt sie sich maulig, da der empörte Ausdruck auf meinem Gesicht wohl nicht zu übersehen ist. "Das Ding zeigte aber auch so viele Nachrichten an, dass ich dachte, vielleicht ist etwas Dringendes dabei. Eventuell hätte ich dich in Prag anrufen müssen. Es hätte doch sein können, oder?"
"Mutter", seufze ich matt, da ich im Grunde weiß, dass es keinen Sinn hat, "was - bitteschön - hätte denn so furchtbar dringend sein sollen? Alle Leute, die unter Umständen etwas von mir gewollt hätten, wussten doch, dass ich eine Woche lang weg bin. Ich hab dir schon tausend Mal gesagt, dass ich es nicht mag, wenn du meinen Anrufbeantworter abhörst. Wann respektierst du das endlich?"
Mit einer Handbewegung wischt sie meinen Widerspruch zur Seite. "Ja, ja, ist schon gut." Und prompt kommt, was in solchen Situationen immer kommt: "Du kannst in Zukunft auch gern jemand anderen beauftragen, sich um deine Wohnung zu kümmern, wenn du nicht da bist." Einen Moment lang senkt sie ihren Blick und schweigt beleidigt. Doch dann scheint die Neugierde über die Verletzung gesiegt zu haben. "Und wer ist das nun, dieser Paul? Hast du einen neuen Freund?"
"Ach ...", ich weiche ihrem forschenden Blick aus und sehe betont gleichgültig aus dem Fenster, "den habe ich vor zwei Wochen auf dem Stadtfest kennengelernt. Wir hatten einen netten Abend zusammen, das ist alles." Meine Mutter ist nun wirklich die Letzte, der ich dazu gern Näheres erzählt hätte.
"Dafür musst du aber einen enormen Eindruck bei ihm hinterlassen haben, er hatte reichlich Ausdauer." Sie lauert über ihrer Brille zu mir herüber, während ihre Lippen jetzt vorsichtig am heißen Kaffee schlürfen. "Du sollst dich unbedingt bei ihm melden, hat er gesagt. Seine Telefonnummer ist mindestens zehn Mal drauf."
Den Teufel werde ich tun, denke ich bei mir und frage sie, wer sonst noch angerufen hat, denn auch das kann ich mit Sicherheit schon hier und jetzt erfahren.
"Konrad", plappert sie eifrig los, offenbar froh darüber, mich mit ihren Informationen nun nicht weiter zu verstimmen, sondern mir helfen zu können. "Er braucht ein Schriftstück, das noch in einem deiner Ordner stecken soll. Was genau das nun ist, hat er nicht gesagt, aber du sollst dich bei ihm melden." Sie legt ihre Brille zur Seite und reibt sich über die Augen. "Schade - das alles. Ich hab ihn immer sehr gemocht. Er war so anständig und korrekt."
"Mama", sage ich so ruhig wie möglich. "Du weißt genau ..." Aber ich breche ab, denn ich weiß, sie nimmt mir immer noch übel, dass ich nach meiner ersten gescheiterten Ehe nicht wenigstens um meinen zweiten Mann gekämpft habe. Eine gute Ehefrau hat ihrer Meinung nach die Seitensprünge ihres Mannes auszuhalten, um ihre Ehe zu retten. Noch immer ist ihr peinlich, eine zweimal geschiedene Tochter zu haben, und sie ist sicher, dass jeder hinter ihrem Rücken darüber tuschelt. Am Anfang hat sie sich nicht einmal mehr zum Bäcker getraut.
Ich kann mir nicht vorstellen, welches Schriftstück Konrad so dringend benötigen könnte, denn im Grunde muss er alles haben. Wichtige Dokumente, die uns beide betrafen, haben wir vor seinem Auszug kopiert und die Akten entsprechend aufgeteilt. Doch einen Vorwand hat er bisher noch immer gefunden - besonders in letzter Zeit, nachdem ihn seine neue Freundin wieder verlassen hat. Er scheint verdammt einsam zu sein, aber mein Mitleid für ihn hält sich in Grenzen. Ich werde seinen Anruf ignorieren.
"Dann hat Iris einmal angerufen", fährt meine Mutter fort. "Sie klang, als sei sie betrunken. Vielleicht hat sie aber auch nur geweint." Mutter stutzt einen Moment. "Doch hätte die nicht wissen müssen, dass du nicht zuhause bist?"
Ich zucke mit den Schultern. "Eigentlich ja."
"Nun, jedenfalls habe ich kaum verstanden, was Iris gesagt hat, sie hat die ganze Zeit über nur genuschelt und geschnieft." Sie gießt sich neuen Kaffee ein und schwenkt die Kanne in meine Richtung. "Willst du auch noch?"
Aber ich habe genug und will endlich mit Shira nach Hause.
*
Das Bügelbrett steht noch vor meinem Fernseher im Wohnzimmer. Anscheinend wird Mutter langsam vergesslich. Ich klappe das Ding zusammen und räume es zurück in die Besenkammer. Den Anrufbeantworter versuche ich nicht zu beachten, denn eigentlich habe ich nicht vor, ihn abzuhören. Konrads Bitte halte ich ohnehin für vorgeschoben, und weshalb es Iris offenbar wieder schlecht geht, kann ich mir vorstellen. Auf das Hü ist vermutlich - wie immer - unweigerlich das Hott gefolgt.
Ich räume meine Reisetasche aus und werfe die Schmutzwäsche in den Korb neben der Waschmaschine. Danach sehe ich die Post durch, doch bis auf die Rechnung für meine Autoversicherung ist nichts Wichtiges dabei. Zeitungen und Werbung werfe ich ungelesen in die Papiertonne neben der Garage. Schließlich nehme ich Shira an die Leine und mache mit ihr einen langen Spaziergang.
Nach unserer Rückkehr halte ich es nicht mehr aus. Ohne weitere Umschweife steuere ich auf den Anrufbeantworter zu, spule ein Stück vor und drücke an einer beliebigen Stelle auf die Abspieltaste. Das Herz bleibt mir fast stehen, als ich seine Stimme höre: "Hallo Carla, wo steckst du? Ständig erwische ich nur deinen Anrufbeantworter. Ich dachte, du würdest vielleicht mit mir ...", er hält einen Moment inne, und ich höre leise Musik im Hintergrund. "Nun lass mich doch nicht so lange schmoren", drängt er dann. "Dabei hab ich mir sogar die Haare abschneiden lassen. Ich werde mich auf jeden Fall ..."
Hastig drücke ich den Anrufbeantworter wieder aus. Wie angewurzelt bleibe ich einen Moment davor stehen und starre das Ding an. Die Haare hat er sich abschneiden lassen? Etwa wegen meiner Bemerkung in jener Nacht - mit den langen Haaren wirke er eventuell zu jugendlich, ich müsse sie ihm aus dem Gesicht halten, um sein Alter richtig einschätzen zu können? Himmel noch mal, was soll ich nur tun?
Um mich abzulenken und wieder ruhiger zu werden, hole ich meinen Laptop aus dem Regal und versuche, mich auf Mariannes Drehbuch zu konzentrieren. Eine verrückte Nachbarschafts-Geschichte mit vielen skurrilen Verwicklungen in einem von der weiblichen Hauptperson geerbten Haus. Ich werde es ausdrucken und auch Charlotte zu lesen geben. Und obwohl es mich zwischendurch schon gereizt hätte, fasse ich den Anrufbeantworter das ganze Wochenende über nicht mehr an.