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Feiern - Kapitel 4

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Kreuzberg ist ruhig, hatte Milosch gesagt, doch ich fand das gar nicht. Kreuzberg war laut, dreckig, und obwohl es wirklich ruhiger war als im Ostteil der Stadt, lag hier etwas Unkontrolliertes, Unkontrollierbares, das Angst machen konnte, aber auch Kraft und Energie gab. Hierher verirrte sich niemand aus dem Palace, kein Technokind aus der Provinz. Der Wrangelkiez ist gefährlich, sagte Milosch, die Oranienstraße ist gefährlich und doch fühlte ich mich nicht bedroht. Nur jetzt, an diesem Montag 12 Uhr mittags, machte mir Kreuzberg Angst. Der Strom an Menschen schien einfach nicht abzureißen. Ich lief immer schneller und versuchte nachzudenken, Gedanken zu ordnen, doch es ging nicht. Nur Stichworte, unzusammenhängend und wirr. Dann war ich auf einer Brücke, ließ mich mitreißen vom Strom zu einem Markt. Ich fand eine Telefonzelle. Milosch anrufen, dachte ich. Milosch und der Gedanke an ihn gaben mir Sicherheit. Ich sah ihn vor mir, Milosch wird eine Lösung haben, ich kann wieder sprechen, wenn ich ihn sehe.

Er war sofort dran. „Ich komm rüber, wir treffen uns im Wohnzimmer.“

Ich versuchte, mir irgendwie einen Weg zurück zu bahnen. Die Oranienstraße hochzulaufen. Und dann wieder Wohnzimmer. Judith und Felix, diese Namen hatte ich mir gemerkt. „Na, haste Wladi gefunden?“, fragte Judith. „Klar.“ Ich setzte mich. „Ist das immer so leer hier?“

Judith lachte. „Der Raum ist nur für Eingeweihte.“ „Milosch kam, stutzte kurz, als er Judith sah. „Milosch?“ „Ja“, sagte er überrascht. „Ich bin´s! Judith. Judith Lehmann!“ „Milosch zuckte zusammen, Judith umarmte den verdutzten Milosch. „Mensch, toll dich zu sehen!“

„Seit wann arbeitest du denn hier?“ fragte Milosch. „Ach, erst seit letzter Woche. Meinem Bruder gehört doch jetzt der Laden.“

Milosch verzog den Mund zu einem spöttischen Lächeln, das ich noch oft bei ihm sehen sollte. Meistens in Verbindung mit Felix.

Er setzte sich. „Also, was liegt an?“

„Ja, was. Alles und nichts. Also, er. Ja, er. Alles war durcheinander. Wir sind zusammen in seinem Auto gefahren.“ „Ja und?“ „Ja, nichts und. Ich bin 17 und er ist 35! 35! Alt! Und er hat zwei Kinder und ne Frau. Das war´s. Ich war so blöd, wieso ist mir das nicht aufgefallen?“ „Naja, es war dunkel.“

Unter den Kastanien saßen die alten Männer beim Backgammon. Milosch und ich sahen ihnen traurig durchs Fenster zu. Ich fühlte mich noch immer betäubt, fassungslos, aber gleichzeitig war da wieder diese Euphorie. „So, jetzt erzähl mal“, sagte Milosch.

Ich schüttelte nur den Kopf.

„Er ist verheiratet und hat zwei Kinder, vergiss es, vergiss alles. Wahrscheinlich war ich betrunken, es war Nacht, jetzt ist Tag, kann ja mal vorkommen, passiert, egal.“

Er starrte mich nur wortlos an.

„Wie jetzt und das hat er dir alles erzählt oder was?“

„Er hat mich heute ein Stück mit dem Auto mitgenommen, wir haben Oasis gehört.“

Er unterbrach mich. „Stop mal, ihr habt Oasis gehört? Wie alt ist der?“

„Na das ist es ja, 35.“

„Alter, ich dachte da hört man so Schwuchtelmucke: Chansons und Gerhard Schöne und so`n Rotz.“

„Nein, Oasis, und nicht etwa 'Wonderwall'-'Live Forever!'“

„Respekt.“

„Ja … also … er hat mich für ne Studentin gehalten. Und als ich ihm dann die Wahrheit gesagt habe, hätte er beinahe ein Auto gerammt. Und dann bin ich ausgestiegen.“

„Kapier ich nicht. Wenn er sich vom ersten Schock erholt hätte, dann…“

„Nichts dann. Ich bin doch nicht wahnsinnig. Du hättest mal sehen sollen, wie der mich angeschaut hat. So als wäre ich eine Bedrohung.“

„Klar, der hat Angst vor dir.“

Ich lachte, „Angst, ich bin ja auch so gefährlich“.

„Nee, echt jetzt ohne Scheiß, der dachte doch sicher, mit ihm läuft nicht mehr alles rund, dass er jetzt auf 17Jährige steht.“

„Na eben, deshalb vergessen wir das alles ganz schnell.“

„Ach komm, das nehm ich dir nicht ab. Du kannst doch jetzt nicht schon aufgeben! Denkste echt, das hatte nichts zu bedeuten?“

„Was soll das denn bedeuten?“

„Keine Ahnung, aber das ist doch nicht einfach so passiert. Du musst rausfinden, was das zu bedeuten hat. Das wir uns getroffen haben! Du musst hierbleiben.“

„Ich muss doch zur Schule.“

„Ach Schule. Denkst du, ich geh dahin?“

„Und wovon soll ich leben?“

„Mach dir da mal keine Sorgen. Irgendwer hat immer Geld, ich oder Karen. Und du kannst doch auch Flaschen aufsammeln, oder Dope verticken, oder als Barfrau arbeiten.“

„Ich bin erst 17.“

„Na und? Im Ausweise Fälschen bin ich gut.“

„Und wo soll ich wohnen?“

„Na bei Karen natürlich.“

Er legte den Arm um meine Schultern: „Du bist jetzt meine kleine Schwester, klar?“

Dass es Liebe einfach so gab, Freundschaft ohne Hintergedanken, das war völlig neu für mich. Das kannte ich nicht, aber es schien normal zu sein in dieser Welt. Für Milosch war das keine große Sache. Wen er in sein Herz schloss, blieb da, doch es waren nicht viele. Man musste sich seine Freundschaft nicht verdienen. Ich lernte langsam, keine Fragen zu stellen.

Später erfuhr ich, dass Milosch der Adoptivsohn von Christoph ist, der in den Rundbriefen nie erwähnt wurde.

Milosch hasste ihn.

Warum, war mir noch nicht ganz klar. Es hatte was mit seinen Eltern zu tun, die unter rätselhaften Umständen verschwunden waren.

Milosch traute Christoph nicht, weil seine Eltern ihm nie getraut hatten, weil Wladi ihn nicht mochte.

Milosch lebte auf der Straße, im Palace, bei Wladi, der sich als Sozialarbeiter offiziell um ihn kümmerte. Inoffiziell war er der echte Adoptivvater, denn er hatte Miloschs Eltern noch gekannt, denen er weggenommen wurde, Sieben war er da gewesen, seine Kindheit hatte er in einem Erziehungsheim verbracht.

Beide, Wladi und Milosch, hatten einen Teil ihres Lebens im Gefängnis verbracht,

sie glaubten, die Hälfte ihres Lebens verpasst zu haben.

Christoph ging es gut, immer ging es ihm gut.

Während seine Freunde aus der Gemeinde Demos planten,

machte er Karriere.

Und jetzt versuchte er verzweifelt, den Schein zu wahren.

„Kommst du mit, wenn Familientag ist?

Ich pack das nicht ohne dich.“ Ich versprach es.

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