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Die Reise nach Draka
ОглавлениеTonya fand sich pünktlich am Tor ein. Sie trug das kleine Bündel unter dem Arm, das alles enthielt, was ihr geblieben war, und ein paar Dinge, die die Äbtissin ihr hatte bringen lassen. Ungeduldig und auch voller Furcht wartete sie auf den Magier. Eine Schwester führte das untote Ross in den Hof, das dort reglos und ohne einen Laut von sich zu geben stehen blieb.
Zum ersten Mal machte sich Tonya darüber Gedanken, auf welche Weise sie die Insel verlassen würde. Würde sie mit dem Magier zusammen auf diesem Wesen reiten müssen? Sie trat ein wenig näher. Sie konnte die Aura des Todes fühlen und den bösen Geist, der über den Tod hinaus das Wesen des Tieres gefangen hielt.
»Gefällt dir mein Ross?« Die Stimme des Magiers riss sie aus ihren Gedanken.
Tonya fuhr herum und verneigte sich. »Es ist ein interessantes Wesen«, sagte sie widerstrebend.
»Und schnell! Also lass uns reiten, damit wir die Sümpfe rasch hinter uns lassen.«
Noch ehe er sich in den Sattel schwingen konnte, wurde er von einer leisen Stimme zurückgehalten. Die Priesterin, die am Vorabend die Beschwörung geleitet hatte, trat aus dem Schatten.
»Wartet, Meister Astorin, Mutter Morad hat entschieden, dass Ihr den Weg durch die Höhlen nehmen dürft.«
Astorin betrachtete sie mit Interesse. »Es gibt ein Höhlensystem, das unter dem Sumpf hindurchführt?«
»Folgt mir«, sagte die Priesterin. »Dann werdet Ihr es sehen. Das Pferd könnt Ihr mitnehmen.«
Die Priesterin führte sie durch einen Torbogen in eines der Gebäude und dann eine Rampe hinunter, die tief in den felsigen Untergrund führte. Eine Höhle mit gewölbter Decke, ähnlich der, in der die Beschwörungen abgehalten wurden, war ihr Ziel. Wände und Decke waren mit magischen Symbolen bedeckt, rechts und links konnte Tonya Altäre entdecken, die den Unterweltgöttern Tyr und Hel geweiht waren. Am Ende der Höhle befand sich jedoch das, was ihre und die Aufmerksamkeit des Magiers gefangen nahm: ein hoher Torbogen, um den die Luft in allen Farben schimmerte und in Schlieren auf und ab wogte.
»Es gibt ein festes Astraltor hierher?«, wunderte sich Astorin.
»Nicht ganz«, erwiderte die Priesterin abweisend. »Dieses Tor ist nicht mit der Astralebene verbunden. Es führt über einen anderen Weg und darf nur von uns höheren Priesterinnen benutzt werden. Gebt Euch keine Mühe, Ihr werdet keinen der Zugänge auf der anderen Seite finden!« Sie maßen sich mit Blicken, und Tonya war sich nicht sicher, wer das Duell gewinnen würde.
»Geht nun«, sagte die Priesterin schließlich. »Auf der anderen Seite wartet eine Kutsche auf Euch, in der Ihr auch angemessene Kleidung finden werdet. Novizin Tonya sollte besser nicht in den Gewändern unseres Ordens nach Draka reisen. Außerdem rät ihr die Mutter Oberin, ihr Amulett zu behalten, es jedoch gut unter ihren Gewändern zu verbergen.«
Astorin nickte knapp und führte seinen Rappen unter den Bogen. Tonya folgte ihm. Es kam ihr vor, als träte sie in kühles Wasser. Ihre Bewegungen und selbst ihre Gedanken wurden träge. Jeder Schritt forderte mehr Anstrengung als der vorherige. Sie fühlte sich, als wäre sie in einen der Sumpftümpel mit ihrem zähen Schlamm geraten, der einen nicht wieder freigab, war man erst einmal in seine tödliche Falle getreten. Tonya blinzelte. Nur verschwommen konnte sie den Magier mit seinem Ross erkennen. Das Tier schien ganz normal weiterzugehen. Tonya ruderte mit den Armen und versuchte so, schneller voranzukommen. Als sie spürte, wie ihre Kräfte sie verließen, war es plötzlich vorbei. Sie befanden sich zwar immer noch in einer Art überwölbtem Gang, doch ihr Blick und ihre Gedanken waren wieder klar, und ihre Beine bewegten sich ohne Widerstand. Der Weg stieg nun an und endete in einem rechteckigen Raum. Durch die Ritzen eines Holztores fielen dünne Lichtbänder auf den Boden und ließen den tanzenden Staub aufleuchten. Irgendwo schnaubten Pferde. Astorin schob die Torflügel auf. Grelles Sonnenlicht blendete Tonya, sodass sie blinzeln musste. Nun sah sie die Kutsche hinten an der Wand. Eine leichte Reisekutsche mit moderner Federung und bequemem Polster, wie sie der Adel bevorzugte. Sie war schwarz mit goldenen Verzierungen und einem Wappen am Schlag, das Tonya nicht kannte. Zwei Rappen waren bereits eingespannt. Edle, kräftige Tiere. Die junge Frau wunderte sich immer mehr, und es war ihr, als könnte sie Unbehagen über das hagere Antlitz ihres Begleiters huschen sehen. Sicher dachten sie das Gleiche: Was wusste Mutter Morad, und wie weit reichte ihre Macht?
Ein Hüsteln ließ Tonya herumfahren. Ein Mann stand im offenen Torbogen. Im Gegenlicht konnte sie nur seine Silhouette erkennen. Er verbeugte sich und trat dann in die Schatten der Halle.
»Mein Name ist Ramon. Ich bin Euer Kutscher, verehrter Meister, verehrte Dame. Wenn Ihr Euch umgekleidet habt und bereit seid, können wir fahren.« Er trug eine dunkelblaue Livree mit goldenen Knöpfen. Nicht aufdringlich, aber edel, so wie es sich für einen Diener aus einem hohen Adelshaus gehörte. Er schnallte eine Ledertruhe von der Kutsche hinten los, stellte sie vor Tonya und öffnete den Deckel. Sie fand zwei prächtige Kleider, ein schlichtes Reisegewand, Hemd und Unterkleid, Schuhe und Schmuck.
Nach den langen Jahren in ihrer rauen Kutte würde sie sich an diese Stofffülle erst gewöhnen müssen. Hoffentlich behinderte sie sie nicht zu sehr in ihrer Bewegungsfreiheit. Sie warf Astorin einen fragenden Blick zu.
»Worauf wartest du? Zieh dich um und dann lass uns endlich aufbrechen.« Ungeduldig schritt er auf und ab.
Ramon führte Tonya in eine Kammer, reichte ihr die gewählten Kleider und zog sich dann diskret zurück. Die junge Frau hatte einige Schwierigkeiten mit den Haken und Bändern, doch dann saß das Reisekleid und hüllte ihre Figur perfekt ein. Selbst die Farbe war zu ihrem kastanienbraunen Haar gut gewählt. Zu gut, als dass es sich um einen Zufall handeln konnte! Sie bürstete ihre Locken, die sie schon lange nicht mehr offen getragen hatte, schlang ein Band um sie, damit sie ihr nicht ins Gesicht fielen, und kehrte dann in die Halle zurück.
»Meister Astorin, ich bin bereit.«
Er fuhr herum. Seine Ungeduld wandelte sich erst in Erstaunen und dann in Zufriedenheit.
»Recht ansehnlich«, lobte er knapp. »Was so eine Kutte alles verbergen kann. – Und nun steig ein.«
Er schwang sich in den Sattel. Ramon verneigte sich, öffnete den Schlag und half ihr beim Einsteigen. Dann stieg er auf den Kutschbock und knallte mit der Peitsche. Die Kutsche setzte sich schwankend in Bewegung. Eine Weile sah Tonya aus dem Fenster. Mutter Morad hatte ihnen starke, ausdauernde Pferde besorgt, die in gleichmäßigem Tempo trabten, sodass das Moor mit seinen Dunstschleiern bald weit hinter ihnen zurücklag. Die Sonne stieg über den Hügeln auf und schien auf dürres Grasland. Der Weg schien alt und wenig benutzt und wand sich zwischen den Kuppen. Ein paar Kaninchen stoben davon. Krähen erhoben sich in den blauen Himmel. Es wurde wärmer. Tonya gähnte. Sie fühlte sich schläfrig und hatte bald Mühe, die Augen offenzuhalten. Die Kutsche rumpelte voran und schaukelte sie hin und her. Bald schon sank Tonyas Kopf in die Polster, und sie schlief ein. Den ganzen Tag änderte sich die Landschaft nicht, und auch als es Nacht wurde, hielten sie nicht an. Nur wenn Tonya es gar nicht mehr aushielt, zügelte der Kutscher die Pferde und wartete, bis sie sich hinter einem Busch erleichtert hatte. Sie fand einen Korb mit Essen und zwei Krügen Wein und Wasser im Wagen und griff hungrig zu. Astorin benötigte anscheinend weder etwas zu essen noch eine Unterbrechung. Vielleicht war er gar kein richtiger Mensch mehr, überlegte Tonya, so wie sein Pferd, das nicht mehr ermüden konnte.
So zogen sich auch am zweiten Tag die Stunden dahin, bis der Weg steiler und immer steiniger wurde. Die Pferde verlangsamten ihren Schritt, dennoch wurde Tonya unsanft hin- und hergeschleudert. Sie fuhr aus ihren wirren Träumen hoch und rutschte näher ans Fenster. Der Tag neigte sich dem Ende zu. Die Sonne war zwischen den dichten Stämmen von Fichten und Tannen nicht mehr zu sehen. Ein stürmischer Wind pfiff durch die Bäume und zerrte an ihren Wipfeln.
Tonya lehnte sich aus dem Fenster und sah hinauf in das winzige Stück eisgrauen Himmels, das die Bäume über ihr freiließen. Das Heulen eines Wolfes erklang in der Ferne. Ein anderes Tier antwortete. Die Pferde schnaubten nervös. Ramon rief ihnen beruhigende Worte zu, doch Tonya spürte, dass auch er von der Furcht ergriffen wurde, die wie ein Schatten über den Berghang herabglitt. Tonya fühlte ein Kribbeln, das sich an ihren Beinen emporwand und wie kalte Finger über ihren Rücken kroch. Sie ergriff das Amulett ihres Dämonen, das unter ihrem Mieder verborgen um ihren Hals hing. Die Beklemmung ließ nach, und es war ihr, als könnte sie wieder freier atmen. Immer wieder sah Tonya aus dem Fenster, denn sie spürte, dass sie ihrem Ziel nahe waren. Endlich wichen die Bäume zurück. Ramon zog an den Zügeln. Die Pferde blieben mit einem Aufwiehern stehen.
»Seht Euch das an, Fräulein Tonya«, sagte der Kutscher, der bisher jede Gefühlsregung vermieden hatte, mit einem Keuchen.
Tonya raffte ihr Kleid, stieß die Wagentür auf und kletterte hinaus. Ihr Blick wanderte den Weg entlang, der an einem jähen Felsabbruch endete. Eine Zugbrücke führte über die Schlucht auf eine Felsnadel hinaus, auf deren Spitze die Burg emporwuchs. Sie war so nahtlos mit dem Berg verbunden, dass man kaum ausmachen konnte, wo der natürliche Fels endete und die Mauern begannen. Vermutlich war bei ihrem Bau Magie im Spiel gewesen. Türme und zinnenbewehrte Mauern reckten sich in den rötlichen Abendhimmel. Schwarz und abweisend sahen sie auf die kleinen Menschen herab. Obwohl die Burg nicht baufällig war, wirkte sie kalt und verlassen.
»Nicht sehr einladend«, murmelte der Kutscher und legte den Kopf in den Nacken. Zwei Adler zogen über ihnen ihre Kreise und krächzten heiser. Tonya fragte sich, wie viel Ramon über ihren Auftrag wusste. Hatte man ihm gesagt, dass sie den mächtigsten Vampir aller Länder um das Thyrinnische Meer aufsuchen wollten? Vermutlich nicht.
Astorin, der bis zur herabgelassenen Brücke geritten war, kehrte um und hielt sein Pferd neben der Kutsche an.
»Was ist? Was steht ihr hier herum?«
»Es ist ein gewaltiger Anblick«, sagte Tonya. »Eine mächtige, düstere Festung, einem mächtigen, düsteren Herrscher angemessen.«
»Hm, ja«, brummte der Magier und warf der Burg einen flüchtigen Blick zu. »Aber nun lasst uns in den Hof reiten. Ich vermute, dass unser Gastgeber bald erwachen wird. Vielleicht können wir uns vorher schon ein wenig umsehen.«
Tonya fühlte einen Kloß im Hals und schluckte mühsam. Sie nickte nur, raffte ihre Röcke und stieg in die Kutsche. Astorin schlug die Türe zu. Sie rollten das letzte Stück über den Weg und dann auf die Zugbrücke hinaus. Die Wagenräder dröhnten auf den Holzbalken, dann knirschte Kies unter ihnen. Ramon lenkte in einen Bogen ein und brachte die Pferde zum Stehen. Er kletterte vom Kutschbock und öffnete den Schlag. Tonya nahm seine Hand und ließ sich die beiden Stufen hinabhelfen. Ihr Blick huschte zu den Zinnen hinauf. Der Himmel verblasste bereits. Die Sonne war untergegangen. Astorin hatte sich vom Pferd geschwungen und war an die Kutsche getreten.
»Lass uns sehen, ob wir hineinkommen«, drängte der Magier. Tonya nickte nur und versuchte, die Beklemmung abzuschütteln, die wie ein schwerer Mantel auf ihr lastete. Sie wusste, dass es zu spät war. Sie konnte seine Gegenwart spüren, seinen Blick, der über sie hinwegglitt, doch sie vermochte kein Wort zu sagen, um Astorin zu warnen. Das war allerdings auch nicht nötig. Der Burgherr hatte anscheinend nicht vor, ein Versteckspiel zu beginnen. Noch ehe Tonyas Begleiter auch nur einen Schritt auf das Portal zumachen konnte, löste sich eine Gestalt aus dem Schatten und glitt auf sie zu. Der Graf bewegte sich so lautlos und schnell, dass man ihm mit dem Blick kaum folgen konnte.
Tonya hörte den Kutscher hinter sich stöhnen. Vielleicht wurde ihm jetzt klar, auf was für eine Mission man ihn geschickt hatte.
»Willkommen auf Draka!« Die Stimme klang glatt und schmeichelnd. Der Graf trat zuerst auf Astorin zu und musterte ihn. Die Männer verneigten sich höflich voreinander und stellten sich vor. Zumindest der Gastgeber blieb bei der Wahrheit, während der Magier einen unscheinbaren Namen wählte.
»Erfreut«, sagte der Graf und neigte noch einmal den Kopf. Ob er ihm glaubte, konnte Tonya nicht sagen. Dann kam der Graf auf sie zu. Er war sehr groß mit drahtig schlankem Körperbau und der blassen, fast durchscheinenden Haut, die Vampiren zu eigen ist. Seine Augen waren von tiefem Schwarz mit einem rötlichen Glitzern, wenn das Licht sie traf.
»Und wer ist Eure reizende Begleiterin?«, schnurrte der Graf und stand auch schon vor ihr, um nach ihrer Hand zu greifen. Kalte Lippen huschten über ihre Fingerspitzen und jagten ihr – trotz der Handschuhe, die sie trug – einen Schauder durch den Körper. Hatte sie ihm ihre Hand denn gereicht? Tonya wusste es nicht. Sie fühlte nur, dass zwei Mächte in ihr kämpften und sie verwirrten.
Verwirrt schien allerdings auch der Graf zu sein. Zumindest glaubte sie in seinen Augen kurz ein Flackern der Unsicherheit erkennen zu können. Er wich einen Schritt zurück und musterte sie eindringlich. Vielleicht konnte er das Amulett ihres Dämonen spüren? Oder ihre ganz besonderen Kräfte? Es war nun an ihr, sich vorzustellen. Wie sollte sie sich nennen?
»Das ist meine Nichte Tonya aus dem Bärental«, hörte sie Astorin mit Ungeduld in der Stimme. Vermutlich war er erzürnt, dass sie die Möglichkeit verpasst hatten, das Schloss zu untersuchen, ehe der Graf aus seiner Gruft gestiegen war oder wo er sonst die Tage zubrachte. Nun mussten sie eine ganze Nacht überleben, bis sich wieder eine Möglichkeit auftat. Als ihr bewusst wurde, was sie eben gedacht hatte, erschauderte sie erneut.
»Welch wundervoller Zufall hat Euch hierher geführt, um mir heute Abend die Langeweile zu vertreiben?« Die Lippen des Grafen teilten sich und ließen seine weißen Zähne aufblitzen.
»Ja, ein Zufall«, nahm Astorin den Faden auf, »der uns vom Weg abkommen ließ und hier auf den Berg geführt hat. Wir müssen Euch also um ein Nachtlager bitten.«
Graf von Draka schien in sich hineinzulachen. Ob er sich nur über die unerwartete Beute freute oder über die fantasielose Ausrede amüsierte, konnte Tonya nicht sagen. Er bot der jungen Frau den Arm.
»Dann kommt herein, werte Gäste. Ich habe hier in meiner Burg nicht häufig Besuch, der die Einsamkeit vertreibt. Eure Gemächer werden bald gerichtet sein. Bis dahin folgt mir in die Halle, esst und trinkt und erzählt mir die Neuigkeiten aus den Welten draußen. Für Euren Kutscher und die Pferde wird gesorgt.«
Tonya warf Ramon noch einen Blick zu. Seine Angst war nun fast greifbar, und sie konnte ihm nicht einmal sagen, er bräuchte sich nicht zu sorgen. Auch die Kutschpferde wieherten nervös und stampften mit den Hufen auf. Nur Astorins Ross stand reglos da, als wäre es eine Statue.
»Ihr habt ein ungewöhnliches Reittier«, sagte der Graf, als sie auf die Flügeltüren zutraten.
»Ja, es ist ungewöhnlich ausdauernd und schnell. Erstaunlich, was Magie alles vermag«, antwortete Astorin kühl. Graf von Draka nickte nur und musterte den Besucher aufmerksam. Die Türen schwangen wie von Geisterhand auf. Wie tröstlich wirkte das weiche Licht der Kerzen, das durch das Tor in die kühle Nacht hinausströmte. Tonya wusste, dass dieses Gefühl eine Illusion war, dennoch raffte sie beherzt ihren Reisemantel und trat ein. So sehr sie sich auch bemühte, sie konnte die Schritte des Grafen nicht hören. Dafür spürte sie seinen kalten Atem in ihrem Nacken, obwohl er dafür viel zu weit weg stand.
Ein Diener in rotem Livree, an deren Revers große goldene Knöpfe prangten, stand stumm in der Tür und verbeugte sich steif. Sein Gesicht blieb eine unbewegliche Maske, als er die Hand ausstreckte, um Tonya den Mantel abzunehmen. Er nahm den eleganten Reiseumhang entgegen und wartete, bis die junge Frau ihre Handschuhe abgestreift und ihm gereicht hatte. Als sich ihre Finger versehentlich berührten, stieß der Diener ein knurrendes Geräusch aus. Seine Glieder zuckten unkontrolliert. Mantel und Handschuhe von sich gestreckt, taumelte er zwei Schritte zurück. Seine Augen flackerten rötlich. Er war ein Untoter. Sie hätte es sich denken können. Tonya versuchte so zu tun, als wäre nichts geschehen, doch dem Hausherrn war der Zwischenfall nicht entgangen. Der Graf zog die Brauen zusammen und sah erst seinen Diener, dann die junge Frau an.
»Wie wundervoll!«, rief Tonya aus, um ihn abzulenken. Sie breitete die Arme aus und schritt in die von Kristalllüstern erleuchtete Halle. Die spitzbogigen Fenster, die sie von außen gesehen hatte, waren mit schweren blauen Samtvorhängen verhüllt. Der Boden war mit einem Mosaik belegt, an den Wänden hingen wertvolle Teppiche, doch was das Auge anzog, war die doppelläufige Treppe, die in anmutigem Schwung von zwei Seiten nach oben führte, um sich dann in der Mitte unter einem freskengeschmückten Torbogen zu vereinen, durch den man wohl die Gemächer der oberen Stockwerke erreichte. Kein Stützpfeiler störte den harmonischen Bogen.
»Nicht wahr? Es ist eine architektonische Meisterleistung«, schnurrte der Graf.
Oder eine magische, dachte Tonya und lächelte ihn so charmant wie möglich an. Graf von Draka führte seine Besucher unter der Treppe hindurch zu einem Speisesaal und bat sie, an der Tafel Platz zu nehmen. Ein weiterer Diener, der genauso stumm und untot war wie der an der Eingangstür, servierte ihnen Wein in kristallenen Gläsern. Tonya wunderte sich nicht, dass der Graf zu seinem eigenen Zinnkrug griff und sich nicht vom Wein einschenken ließ. Spannungsgeladene Stille senkte sich herab, nachdem sie sich gegenseitig zugeprostet und sich Gesundheit gewünscht hatten. Tonya betrachtete scheinbar interessiert einen Wandteppich. Goldbestickte Ornamente wurden von verschlungenen Formen in dunklem Rot umrankt. Dazwischen flatterten exotische Vögel. Alles wirkte sehr kostbar, wenn auch ein wenig altmodisch.
»Nun, gefällt Euch mein bescheidenes Heim?«, brach der Graf die Stille.
»Bescheiden?« Tonya lächelte ihn an. »Prächtig wäre das passendere Wort, Herr Graf.«
Die Antwort schien ihm zu gefallen. Er entblößte seine Zähne zu einem Lächeln. Tonya fühlte Astorins Unruhe. Was erwartete er von ihr? So ungewöhnlich ihre Kräfte auch sein mochten, sie war nicht in der Lage, einen so mächtigen Vampir zu vernichten oder ihm gar – gegen seinen Willen – ein Geheimnis zu entreißen. Nein, sie mussten behutsam vorgehen, wenn sie die Figur finden wollten. Dann würden sie vielleicht gar nicht mit dem Vampir kämpfen müssen.
»Es ehrt mich, wenn Euch mein Heim gefällt«, sprach der Graf weiter und erhob sich. »Ich führe Euch später gerne herum, wenn es Euch interessiert. Verzeiht, das Essen wird noch ein wenig dauern. Wir waren ja nicht auf Gäste vorbereitet. Ihr wünscht Euch sicher vorher ein wenig frisch zu machen. Euer Gepäck findet Ihr in Euren Gemächern. Meine Diener werden Euch hinaufbegleiten und zum Mahl wieder abholen. Die Burg ist sehr weitläufig. Ich möchte nicht, dass Ihr Euch verirrt.«
Schon standen zwei Diener mit Leuchtern in den Händen an der Tür und schritten mit hölzernen Bewegungen voran. Tonya knickste vor dem Grafen und folgte dann ihren Führern und dem Magier in die Halle zurück und die Treppe hinauf. Oben trennten sich ihre Wege. Sie warf Astorin einen fragenden Blick zu, doch der zuckte nur mit den Schultern. Tonya wagte nicht, ihn vor den Dienern zu fragen, was er nun vorhabe. Vielleicht konnten die Toten ihrem Meister ja davon berichten. So blieb ihr nichts anderes übrig, als einem der Diener in ihr Gemach zu folgen.
»Welch prachtvolle Gemälde«, sagte sie und deutete auf einige Portraits an den Wänden. »Sind das Vorfahren des Grafen?«
Der Diener gab keine Antwort. Entweder konnte er nicht sprechen oder der Graf hatte es verboten. Sie strich an menschengroßen Bildern in vergoldeten Rahmen vorbei: Ahnen, stumm aneinandergereiht mit ernsten Mienen und in aufwändigem Putz. Die Herren in Reithosen und Stiefeln oder in langen Gewändern, die Damen in ausladenden, mit Rüschen besetzten Kleidern. Tonya blieb vor dem Bildnis einer jungen Frau stehen. Sie trug ein schlichtes weißes Seidenkleid mit Schleppe. Ihr Haar wallte in schwarzen Locken über den Rücken. Sie trug einen Kranz mit weißen Lilien im Haar. Welch seltsame Wahl für einen Brautkranz, und das sollte er ja wohl sein, oder nicht? Tonya sah in ihr Gesicht. Die schwarzen Augen blickten hart und boshaft auf sie herab. Die Eckzähne waren ein wenig zu spitz für eine gewöhnliche junge Dame. Wenn es nicht nur ein Bild wäre, würde Tonya fast glauben können, diese Augen würden sie wirklich sehen und jeder ihrer Bewegungen folgen. Tonya beeilte sich, den Diener wieder einzuholen, der ihr voller Ungeduld winkte. Sie konnte die Augen in ihrem Rücken spüren! – Nein, das war nicht möglich. Sie durfte sich von der Atmosphäre des Schlosses nicht einschüchtern lassen. Sie trug die Gabe in sich und musste sich nicht fürchten! Tonya trat wie unabsichtlich näher an den Diener heran. Seine Augen weiteten sich, und er machte einen Satz zur Seite.
Gut, mit den untoten Wesen, mit denen sich der Graf umgab, würde sie keine Schwierigkeiten bekommen. Ihr Herzschlag beruhigte sich. An den Hausherrn selbst dachte sie lieber nicht. Besser, sie sah sich ihr Gemach an und zog sich für das Abendessen um. Der Diener ließ Tonya eintreten, verbeugte sich noch einmal und schloss dann die Tür. Tonya fühlte sich ein wenig unwohl in dieser üppigen Pracht. Sie war an ihre einfache Zelle im Kloster gewöhnt und nicht an überladene Himmelbetten, vergoldete Schnitzereien und schwere Vorhänge. Im Zimmer nebenan fand sie eine ganze Reihe Kleider mit tiefen Ausschnitten, Spitzen und Borten, deren verzierte Stofffülle über einem Reifrock getragen werden musste. Dagegen wirkten die ihr so prächtig erschienenen Gewänder aus ihrer Reisetruhe fast ärmlich. Sollte sie eines dieser Kleider nehmen oder doch das, was Mutter Morad für sie bestimmt hatte? Was um alles in der Welt war passend, um mit einem Vampirgraf zu speisen? Darauf hatte sie niemand vorbereitet!
* * *
Ramon lud die Truhe von der Kutsche ab und ging damit auf einen der Diener zu.
»Zeigst du mir das Zimmer der Herrin? Dann bringe ich ihre Sachen hinauf«, bat er freundlich. Der Mann starrte ihn nur an und entriss ihm die Kleidertruhe. Ohne ein Wort zu sagen, stapfte er davon. Ramon sah ihm kopfschüttelnd nach. Dann würde er eben die Pferde in den Stall bringen. Er ging in den Hof zurück, fand aber weder die Kutsche noch die Pferde vor. Und auch Astorins unheimliches Ross war nirgends zu entdecken. Seltsam. Wie hatten die Bediensteten des Grafen sie so schnell wegbringen können? Ramon umrundete den Hof, bis er ein Pferd schnauben hörte. Er schob eine Tür auf und fand sich in einem geräumigen Stall wieder, in dem nicht nur die Kutschpferde und der Rappe standen. Es gab noch zwei weitere, sehr edle Reitpferde und ein Vierergespann, das vermutlich die Kutsche zog, die er auf der anderen Seite eines doppelten Bogens neben dem Gefährt stehen sah, in dem sie angekommen waren. Die Pferde waren abgerieben und gestriegelt worden und kauten nun an frischem Heu. Wann war das geschehen? Er war doch kaum ein paar Augenblicke in der Halle gewesen! Ramon trat zu einem seiner Kutschpferde und streichelte ihm den Hals. Das Pferd rollte mit den Augen und zog an seinem Halfter, das mit einer verlängerten Leine an einen Eisenring gebunden war.
»Wohin hat die Mutter Oberin uns nur geschickt? Hier stimmt etwas ganz und gar nicht«, flüsterte Ramon dem Pferd ins Ohr, das genauso nervös war wie er selbst. Es wieherte und stampfte mit den Hinterhufen auf den harten Boden. Ramons Hand strich ihm beruhigend über die Stirn.
»Nicht wahr, du kannst es auch spüren? Es ist, als ob gleich etwas Schreckliches über uns hereinbricht.«
»Welch sensibler Sinn hinter diesem einfachen Äußeren«, sagte eine samtweiche Stimme hinter ihm. »Guter Mann, du hast ganz Recht.«
Ramon fuhr herum und krallte seine Finger in die Mähne des Pferdes, das ängstlich schnaubend zurückwich, bis der Strick sich straffte.
Der Graf kam langsam näher. Kein Strohhalm raschelte unter seinem Schritt. »Haben sie dir nicht gesagt, wohin eure Reise euch führt? Ein Zufall! Daran kannst nicht einmal du glauben! Hast du denn noch nie von mir gehört? Graf Luferno von Draka?«
Ramon stand eng an das Pferd gedrückt und starrte in die rötlich funkelnden Augen. Er versuchte nicht auf den Mund zu sehen, der sich nun zu einem Lächeln verzog und zwei spitze Fangzähne entblößte. Ramon spürte, wie die Farbe aus seinem Gesicht wich und seine Knie weich wurden.
»Ah, wie ich sehe, hast du begriffen.« Der Vampir strahlte. »Weißt du, der Hunger nach jedem Schlaf ist unendlich, und das Blut von Tieren ist geschmacklich nicht verlockend. Dagegen sind allein die zarte Haut und der betörende Duft eines Menschen ein Gedicht! Und dann der Geruch des Angstschweißes und des warmen Blutes, wenn es erst fließt! Es entfacht diese Gier in mir, die ich nicht beherrschen kann!« Mit einem Seufzer zog der Graf die Oberlippe noch ein wenig höher.
In ohnmächtigem Entsetzen starrte Ramon auf die beiden immer länger werdenden Fänge. Längst war die Erkenntnis in seinen Geist gesickert, in wessen Burg er gelandet war. Er wollte schreien und weglaufen, doch er stand so sehr unter dem Bann des Blickes, dass er sich nicht mehr rühren konnte.
Der Graf legte dem Kutscher einen Arm um die Hüfte und bog ihm mit der anderen Hand den Kopf zurück, so dass sich ihm der Hals mit seinen pulsierenden Adern darbot. Mit einem wohligen Seufzer strich seine Zungenspitze an einer bläulichen Blutbahn entlang und verharrte dann.
»Weißt du, es gelüstet mich mehr nach Frauen. Vor allem nach jungen Frauen«, fuhr der Graf im Plauderton fort, ohne den Hals seines Opfers freizugeben. »Und wenn sie dann noch so schön sind wie das Fräulein Tonya, dann sind sie ein Festmahl, das man sich nicht durch übermäßigen Hunger verderben sollte. Es hat durchaus seinen Reiz, den Abend in die Länge zu ziehen.«
»Astorin wird es nicht zulassen«, krächzte der Kutscher.
»Astorin?« Der Vampir zog die weiße Stirn kraus. »Der schwarze Magier? Willst du mir etwa sagen, dass ich so hohen Besuch habe? Das ist gut zu wissen. Ich danke dir und werde auf der Hut sein.«
Ramon verstummte entsetzt. Es blieb ihm jedoch keine Zeit, darüber nachzudenken, ob sein Fehler Folgen für Tonya und den Magier haben würde. Er fühlte nur noch, wie sich die Fangzähne in seinen Hals gruben und sein Blut aus den beiden kleinen Wunden schoss. Die eisigen Lippen des Vampirs umschlossen sie und saugten das Blut gierig auf. Mit jedem Schluck fühlten sie sich wärmer an. Und mit jedem Schluck wurde Ramon schwächer. Er wunderte sich, dass der Tod gar nicht schmerzte. Plötzlich hielt der Vampir inne und schob Ramon ein Stück von sich.
»Du würdest einen passablen Diener abgeben. Ich könnte einen Kutscher brauchen.«
Hoffnung strömte durch Ramons geschwächte Glieder. Konnte es sein, dass er dem Schicksal doch noch entkam? Der Graf musste die Gefühle gespürt haben, denn er begann, leise zu lachen.
»Nein, ich muss dich enttäuschen. Lebendig nützt du mir nichts. Ist es dir noch nicht aufgefallen? Alle, die mir hier auf Draka dienen, sind tot. Außer den Wölfen natürlich, doch auch sie gehorchen nur meinem Befehl.«
Mit diesen Worten senkte er die Zähne wieder in den Hals seines Opfers und saugte ihm den Rest an Leben aus, bis der Blutstrom versiegte. Schnell ließ er ihn fallen, ehe der letzte Herzschlag verklang.
Graf von Draka seufzte wohlig. Er zog ein spitzenbesetztes Taschentuch hervor und tupfte sich die Mundwinkel. Als er aufsah, bemerkte er den großen weißen Wolf, der durch die angelehnte Stalltür hereingeschlüpft war. Er huschte näher und schnüffelte an der noch nicht erkalteten Leiche.
»Lass das! Ich brauche ihn noch.«
Der Wolf bleckte die Zähne und knurrte. Sie maßen sich mit Blicken. Der Vampir aus seinen dunkelroten, der Wolf aus gelben Raubtieraugen. Eine Weile verharrten sie so, dann winselte das Tier und drückte die Schnauze auf den Boden. Der Vampir ließ sich auf die Knie nieder und legte seine Hand auf das gesträubte Nackenfell des Wolfes.
»Wage es nicht, meinen Befehlen zuwider zu handeln! Du lässt diese Leiche unversehrt und wirst dich auch nicht an meinen Gästen vergreifen, solange ich es dir nicht gestatte! Vor allem nicht an dem hübschen Fräulein Tonya!« Er lächelte. »Sie ist etwas Besonderes!«
Der Wolf starrte ihn aus seinen gelben Augen an, hob die Schnauze und stieß ein Heulen aus.
»Ja, etwas Besonderes, und damit meine ich nicht ihre Jugend und ihre Schönheit, die mir durchaus zusagen. Nein, da ist etwas anderes, Ungewöhnliches in ihr. Eine Kraft, die mich anzieht und abstößt. Hast du gesehen, wie die Diener vor ihr zurückzucken? Ja, selbst ich brauche meine ganze Überwindung, um sie berühren zu können. Das wird interessant! Vor allem möchte ich zu gern wissen, warum sie hier ist – und mit ihr der Magier Astorin!«
Der Wolf spielte mit den Ohren und fletschte die Zähne. Ein tiefes Knurren grollte in seiner Kehle. Der Vampir tätschelte ihn.
»Ja, der Magier ist dir zu Recht unheimlich. Sieh nur, was er aus seinem Pferd gemacht hat.«
Der Vampir trat an das untote Reittier, das bewegungslos in seiner Box stand. Er strich über das glatte, glänzende Fell.
»Vielleicht sind wir uns gar nicht so unähnlich«, sagte er und betrachtete den Rappen nachdenklich. »Dennoch, so sehr ich meine willenlosen menschlichen Diener schätze, so ein totes Ross wäre nichts für meinen Geschmack. Ein Pferd muss Leben in sich haben, einen eigenen Willen und Feuer!« Mit einem feinen Lächeln auf den Lippen beugte er sich wieder zu dem weißen Wolf herab. »Und ein Wolf muss ebenfalls heißes Blut in sich haben, meinst du nicht auch?«
Der Wolf schnappte nach seiner Hand und lief knurrend hinaus. Der Vampir lachte und folgte ihm. »Nun, dann wollen wir mal nach der reizenden Tonya sehen«, sagte er und eilte über den Hof und die Treppen hinauf zu den Gemächern.