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Die Macht kehrt zurück

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Es war ein schöner, lauer Abend. Der erste in diesem Frühling, der dazu einlud, auch nach Einbruch der Dunkelheit noch im Hof zu verweilen. In einer Ecke hatten die Kinder der Wachen ein Feuer entzündet und tanzten um die Flammen. Die Zofe der Gräfin und zwei der Dienstboten trugen Stühle hinaus und schürten ein Kohlenbecken, um das die Gräfin und ihre Gäste Platz nahmen. Lamina übergab ihren Sohn der Zofe, die ihn ins Bett bringen sollte, und rückte sich den Schal um ihre Schultern zurecht. Sie ließ den Blick über die Freunde schweifen, die ihrem Herzen so nah standen. Links von ihr saß Rolana aufrecht in ihrem Stuhl, die Hände im Schoß ihres schlichten Kleides gefaltet. Seit langem trug sie ihr Haar endlich wieder einmal offen, sodass es ihr in prächtig schwarzen Locken über den Rücken fiel. Neben ihr saß Cay. Natürlich! Er würde auch bei Nacht nicht von ihrer Seite weichen, wenn Rolana ihre Tür nicht jeden Abend verschließen würde, dachte die Gräfin ein wenig traurig. Sie waren ein ungleiches Paar: der einfache Bauernsohn, der sich zu einem guten Schwertkämpfer emporgearbeitet hatte, und die Tochter eines reichen Senators aus Ehniport und jüngste Erwählte des heiligen Mannes Solano, der über den Mondorden gebot. Dennoch hätte Lamina die beiden gern zusammen glücklich gesehen. Es schmerzte sie zu beobachten, wie Cay sich nach Rolana verzehrte.

Neben dem Kämpfer saß Thunin, der Zwerg aus den Kupferbergen, der ihm kaum bis an die Schulter reichte. Seit er auf Burg Theron war, trug Thunin seinen Bart und das Haupthaar zu sauberen Zöpfen geflochten. Von seiner Streitaxt trennte er sich jedoch nicht einmal hinter den sicheren Burgmauern. Vermutlich legte er sie sich nachts sogar unter das Kopfkissen, dachte Lamina. Mit Thunin konnte man fröhlich trinken und feiern. Bei Tag dagegen war er eher wortkarg – was man von der grünhaarigen Elbe an seiner Seite ganz und gar nicht behaupten konnte. Auch das Stillsitzen war nicht ihre Stärke. So sprang sie nun auch von ihrem Stuhl auf und schlenderte zu den Kindern hinüber. Für eine Elbe war sie nicht groß, hatte jedoch den typischen feingliedrigen Körperbau. Ihre Ohren waren spitz, und ihre Haut hatte den sanften Schimmer, den Lamina so lieben gelernt hatte – bei Seradir, einem Elb aus Aitansonee, der Stadt in den Bäumen, die sie selbst nur aus Erzählungen kannte. Wie sehr vermisste sie ihren Freund, den sie gern ihren Geliebten genannt hätte. Wann würde er nach Theron zurückkehren? Würde er überhaupt wiederkommen, nachdem er nur knapp einem Anschlag entgangen war, den ihre eigenen Leute und ihr Vater zusammen angezettelt hatten? Bei diesem Gedanken ballte sich ihre Rechte zur Faust. Eine hagere, faltige Hand legte sich auf die ihre.

»Was ist mit dir? Hast du Schmerzen?«, fragte ihr Hofmagier. Lamina schüttelte den Kopf. »Nur schmerzliche Erinnerungen, Lahryn. Nichts, was uns an diesem schönen Frühlingsabend beunruhigen müsste.«

Sanft streichelte der alte Magier ihre Hand, die sich langsam wieder entspannte. »Gedanken fragen uns nicht erst, ob die Zeit günstig ist.«

Lamina lächelte. »Wann ist schon die rechte Zeit für Trübsinn und Schmerz? Nein, diese Gefühle würden aussterben, müssten sie uns erst um Erlaubnis fragen.«

Lahryn schob eine weiße Haarsträhne aus dem Gesicht und lächelte zurück. »Ja, da könntest du Recht haben.«

Lamina spürte, wie der junge Mann an Lahryns Seite sie beobachtete. Sie unterdrückte einen Seufzer. Vlaros war mit den Freunden nach Theron gekommen und unterstützte nun Lahryn, um vielleicht später einmal seine Stelle als Hofmagier zu übernehmen. Als Magier und Berater machte er seine Sache gut, doch er neigte dazu, sich in eine Beschützerrolle hineinzusteigern und seine Umgebung – seine männliche Umgebung! – wie eine bissige Dogge eifersüchtig zu verdrängen. Lamina bezweifelte, dass Vlaros tiefe Gefühle für sie hegte, schließlich hatte er noch vor kaum einem Jahr mit Cay um Rolanas Gunst gebuhlt. Er steigerte sich in seine Verliebtheit hinein. Seit der Gräfin das klar geworden war, benahm sie sich bewusst kühl und zurückhaltend, wenn sie mit Vlaros zu tun hatte. Sie wollte ihn nicht auch noch ermuntern.

Vom anderen Ende des Hofs erklang das helle Lachen der Elbe. Die Kinder hatten sich um Ibis geschart, die sie sicher wieder mit einem ihrer Tricks verblüffte. Sie hatte nichts verlernt, obwohl ihr Leben in der Unterwelt von Ehniport schon einige Jahre zurücklag.

»Was ist?«, hörte die Gräfin Cay sagen. Sie sah zu ihm hinüber.

Rolana hatte sich von ihrem Stuhl erhoben. Ihr Blick war glasig und in die Ferne gerichtet. Sie schien Cay nicht zu hören. Es war, als wäre nur ihr Körper im Burghof von Theron zurückgeblieben, und ihr Geist reiste an einen Ort, den die anderen nicht sehen konnten.

»Rolana?« Cay sprang auf und nahm ihre Hand. »Geht es dir nicht gut?«

Nun erhob sich auch der Zwerg und trat einen Schritt vor. Wie aus Gewohnheit glitt seine Rechte an den Stiel seiner Axt.

»Lass sie«, sagte er zu Cay. »Reiße sie nicht aus ihrer Trance. Wer weiß, was sie sieht. Vielleicht hat Covalin sie gerufen.«

Cays braungebranntes Gesicht strahlte. »Oh, es wäre schön, von dem kleinen Ungeheuer zu hören.«

Ibis trat lautlos in den Kreis und sah rasch von einem zum anderen. Sie musste gespürt haben, dass etwas Ungewöhnliches vor sich ging.

»Was ist los?«, fragte sie den Zwerg.

»Eine Vision oder so etwas«, sagte er und sah sie mit hilflosem Blick an. »Ich kenne mich mit so etwas nicht aus, doch vielleicht spricht sie mit Covalin. Sieh nur, wie das Amulett glüht! Man kann es durch den Stoff hindurch sehen.«

Ibis musterte Rolana, deren Arme sich hoben und deren Hände sich nach vorn reckten. Mit hölzernen Bewegungen ging sie ein paar Schritte auf die Kohlenpfanne zu. Ihre Augen waren weit aufgerissen und starr, ihr Gesicht verzog sich in stummer Qual.

»Etwas Schreckliches muss geschehen sein«, sagte Ibis leise, die in Rolanas Zügen zu lesen versuchte. »Ich hoffe nur, Covalin ist nichts zugestoßen.«

Mit bangen Blicken standen die Freunde um Rolana herum, doch keiner wagte sie zu berühren. Ihr Mund öffnete sich zu einem Schrei, der über den Hof bis zu den Wehrgängen hallte. Ihr Körper verkrampfte sich, sie fiel auf die Knie.

»Das Amulett!«, schrie Lahryn und hastete auf die Priesterin zu, deren Glieder zuckten. Rauch stieg von Rolanas Gewand auf. Der Stoff über ihrer Brust begann sich zu schwärzen. Ibis war mit einem Satz bei Rolana und riss ihr Gewand über der Brust entzwei. Sie zog ihren Dolch und zerschnitt das Lederband, an dem das Amulett hing. Es fiel zu Boden. Mit sprachlosem Entsetzen sahen die Freunde die Flammen, die in dem gläsernen Drachen auf loderten. Zischend grub sich das Amulett einige Zoll tief ins steinerne Pflaster. Rolanas Glieder hörten auf zu zucken. Für einen Moment kniete sie völlig erstarrt auf dem Boden, dann sanken ihre Lider herab und sie sackte zur Seite. Cay, der sich neben sie auf das Pflaster hatte fallen lassen, fing sie auf, ehe ihr Kopf auf dem Stein aufschlug. Er erhob sich, die leblose Gestalt in seinen Armen. Ihr Kopf fiel gegen seine Schulter. Über der Brust klaffte das verbrannte und zerrissene Gewand auseinander und legte die Wunde frei, die das Amulett in ihre Haut gebrannt hatte.

»Wir müssen sie in ihr Gemach bringen und die Wunde versorgen«, drängte Lahryn. »Vlaros, lauf in meine Kammer und hol mir den Kasten mit den Heiltränken.«

Cay lief schon neben Lamina die Freitreppe zum Portal hinauf. Die anderen folgten ihm. Nur Ibis blieb zurück und setzte sich neben dem in den Stein eingebrannten Amulett auf den Boden. Die Flammen waren erloschen. Es stieg auch kein Rauch mehr von den geschmolzenen Steinen auf. Nur noch ein paar Funken schwebten hinter den gläsernen Schuppen des Drachenkörpers. Ibis näherte vorsichtig ihre Fingerspitze, bis sie das Amulett berührte. Es war nur noch warm. Sie hob die zerschnittenen Enden des Lederbandes auf. Das Amulett löste sich vom Boden und ließ eine Mulde zurück, die den genauen Umriss des Drachen nachzeichnete. Zaghaft legte Ibis es auf ihre Handfläche. Es fühlte sich gut an, warm und lebendig, und sie war sich sicher, dass sie es nie wieder hergeben wollte, ja, es mit ihrem Leben beschützen würde! Ihre Finger umschlossen den gläsernen Drachen mit sanftem Druck. Dann eilte sie den Freunden nach.

* * *

Es dauerte eine ganze Weile, ehe Rolana wieder zu sich kam. Verwirrt schlug sie die Augen auf. Sie brauchte einige Augenblicke, ehe ihr klar wurde, dass sie auf ihrem Bett lag. Jemand hatte eine Decke über sie gebreitet. Ihre Brust schmerzte, und der süßliche Geruch von verbranntem Fleisch hing in der Luft. Rolana ließ den Blick über die Freunde schweifen, die sich alle vor ihrem Bett versammelt hatten.

»Was ist geschehen?«, fragte sie mit heiserer Stimme.

»Das wollen wir eigentlich von dir wissen«, antwortete der Zwerg.

»Du hast geschrien und bist ohnmächtig geworden«, ergänzte Cay. »Schmerzt es noch sehr? Lahryn hat dir irgendetwas Heilendes aufgelegt, aber es scheint nicht viel geholfen zu haben.«

Der alte Magier schüttelte besorgt den Kopf. »Ja, das ist ungewöhnlich. Es ist eine wirksame Mischung, und die Wunde hätte sich sofort schließen müssen, wenn es sich um eine normale Verletzung handeln würde.«

Rolanas Hand wanderte zu der Stelle, die den Schmerz aussandte. Sie schrie auf, als ihre Fingerspitzen die Brandwunde berührten. »Was ist das?« Vorsichtig schlug sie den zerrissenen Stoff auseinander und starrte auf die schwärzlich verfärbte Verbrennung, die zwischen den Ansätzen ihrer Brüste ihr Fleisch zerstört hatte. Es zeichnete genau die Form eines Drachen nach.

»Mein Amulett! Wo ist das Amulett?«, schrie sie und wollte aus dem Bett springen, doch Cay drückte sie mit starker Hand in die Kissen.

»Es liegt unten im Hof. Ibis hat es abgeschnitten, als es sich in deine Haut zu brennen begann.«

Rolana versuchte sich Cays Händen zu entwinden. »Ich muss es holen«, keuchte sie.

»Bleib im Bett«, fuhr Thunin sie an. »Ich hole dir dein Amulett, und dann sagst du uns, was das alles zu bedeuten hat.« Er sprach barsch, wie so oft, doch Rolana kam es vor, als könnte sie Furcht in seiner Stimme hören. Oder war es nur ihre eigene Angst, die ihr das Herz umklammerte und ihr die Brust so sehr zusammenpresste, dass sie kaum atmen konnte?

Sie lauschte den Schritten des Zwerges, die sich entfernten. Sie hörte das Tor schlagen. Für einige Momente war es still. Dann hörte sie die Tür noch einmal. Die Stiefel klangen eilig. Der Zwerg rannte die Treppe herauf und stürmte atemlos ins Zimmer.

»Es ist weg«, keuchte er. »Es hat sich in die Steine gebrannt und ein schwarzes Loch zurückgelassen, aber das Amulett ist weg.«

Panik schlug über Rolana zusammen. Es war weg! Der gläserne Drache war verschwunden. Sie hatte ihn mit ihrem Leben schützen wollen. Der Druck auf ihre Brust verstärkte sich, ihr Atem kam pfeifend. Das Bild vor ihren Augen verschwamm.

Cay ergriff ihre Hände. »Ganz ruhig. Du musst ruhig durchatmen!«

Seine Augen waren erstaunlich blau. Woher nahm er diese Ruhe, wenn doch alles zusammenbrach und die Panik sie wegspülte.

»Wir werden es wieder finden. Mach dir keine Sorge. Du musst ganz ruhig ein- und ausatmen, dann wird alles wieder gut.«

Die Stimme drang durch ihre Angst. Sie konnte gar nicht anders, als seinen Worten gehorchen. Der Druck ließ nach, das Bild klärte sich.

Sie löste sich sanft aus Cays Griff und richtete sich gerade auf. Sie ließ den Blick über ihre Freunde schweifen, die sie alle ansahen. Rolana konnte ihre Gefühle spüren: Zuneigung und Angst, Verwirrung und Ratlosigkeit. Aber da war noch etwas. Ihr Blick blieb an der Elbe hängen, die sie aus schimmernd grünen Augen anblickte. Rolana streckte die Hand aus.

»Ibis, gib es mir«, sagte sie sanft.

»Was?« Die Elbe reckte angriffslustig das Kinn empor.

»Gib mir das Drachenamulett. Es ist sehr wichtig, dass ich es zurückbekomme.« Die Elbe presste die Lippen zusammen und rührte sich nicht.

Thunins Stirn umwölkte sich. Er stemmte die Hände in die Hüften und baute sich drohend vor der Elbe auf. »Hat Ibis dein Amulett genommen? Bist du dir sicher?«

Rolana nickte. Sie spürte den Schmerz, der in dem Zwerg aufwallte.

»Bei Thors Hammer, ich kann es nicht glauben«, polterte er. »Du bestiehlst deine Freunde und weigerst dich dann auch noch, deine Beute wieder herauszugeben? Ich war noch nie in meinem Leben so enttäuscht!«

»Halt ein, Thunin«, rief Rolana und schwang die Beine über die Bettkante. »Lass sie, es ist nicht so, wie du denkst!« Cays helfenden Arm wies sie zurück. Mit wackeligen Schritten trat die junge Priesterin auf die Elbe zu, die noch immer mit verschlossener Miene an der Wand lehnte und kein Wort sagte.

»Ibis, ich kann deine Gefühle verstehen«, sagte sie mit sanfter Stimme. »Es ist die Magie, die in ihm wohnt. Als du es berührt hast, da hast du dir geschworen, es nie mehr herzugeben und es bis an dein Lebensende zu beschützen. Ist es nicht so?«

Ibis standen Tränen in den Augen, doch sie regte sich nicht. Rolana hob langsam die Hand und streckte ihr die offene Handfläche entgegen.

»Ich ahne, wie schwer es dir fällt, und dennoch bitte ich dich von ganzem Herzen, gib es mir zurück. Etwas Schreckliches ist geschehen, und ich muss wissen, ob Covalin etwas zugestoßen ist.« Sie hörte die Freunde hinter ihr vor Schreck nach Luft schnappen.

Ganz langsam bewegte sich Ibis' Hand. Sie zitterte, als müsste sie großen Widerstand überwinden. Ihre Finger fuhren unter ihr Wams und zogen das zerschnittene Lederband heraus. Dann glitt das Amulett zwischen den Stoffschichten hervor und pendelte über Rolanas Handfläche in der Luft. Die Priesterin hielt Ibis' Blick fest. »Bitte«, sagte sie noch einmal.

Ein Stöhnen entwich Ibis' Lippen, als litte sie unter Schmerzen, doch dann legte sie den kleinen Drachen behutsam in Rolanas Hand.

»Such Covalin«, flüsterte sie.

»Ich danke dir.« Rolana wankte zum Bett zurück und ließ sich auf die Matratze sinken. Sie fühlte sich ausgelaugt und erschöpft, doch die warm pulsierende Figur in ihrer Hand verströmte Kraft, die ihren Körper aufrecht hielt.

»Was hat das zu bedeuten?«, wiederholte Lahryn. »Kannst du es uns sagen? Warum wurde das Amulett plötzlich so heiß? So etwas ist doch noch nie passiert. Nicht, als der alte Graf es getragen hat, und auch nicht, als Gerald noch lebte.«

Rolana holte tief Luft, um sich zu sammeln. Es war ihr, als würde der Schrecken erst seine ganze Kraft entfalten, wenn sie die Worte laut aussprach.

»Die Macht der Drachenkrone ist zurückgekehrt.«

Zuerst waren die Freunde sprachlos, dann redeten sie alle durcheinander.

»Wie meinst du das?«, wollte Lahryn wissen.

»Die zerstörerische Magie der Drachenfiguren ist wieder erwacht«, sagte Rolana laut. »Das bedeutet, dass die Krone ihre ganze Macht über die Drachen entfalten wird, wenn es jemandem gelingt, sie wieder zusammenzusetzen... wenn es Astorin gelingt«, fügte sie leiser hinzu.

»Das kann nicht sein«, protestierte Ibis. »Covalins Geburt hat sie ihrer Magie beraubt.«

Rolana nickte. »Ja, das ist wahr, und dennoch habe ich die Erschütterung der Magie gespürt. Die bösen Mächte dieser Welt haben frohlockt. Es gibt keine andere Erklärung. Ich habe es ganz deutlich gesehen.«

Thunin schluckte. »Bedeutet das, dass nun wieder alle Farben in der Krone enthalten sind? Dass es keinen weißen Drachen mehr gibt? Dass Covalin tot ist?«

Ibis stieß einen Schrei aus. Cay griff nach Rolanas Hand und umklammerte sie. Die Priesterin zuckte hilflos mit den Schultern. »Ich wünschte, mir fiele eine andere Erklärung ein.«

Ibis trat mit schnellen Schritten näher und krallte ihre Finger in Rolanas Ärmel. »Ruf ihn! Jetzt, sofort. Wir müssen es wissen!«

Die Priesterin nickte. »Ja, ich werde ihn rufen. Tretet ein wenig zurück und seid ruhig. Ich werde Covalin suchen.« Nicht nur sie selbst konnte die Verzweiflung und die Angst in ihrer Stimme hören.

Rolana trat ans Fenster und ließ ihren Blick über das nächtliche Land schweifen. Der Mond stand silbern am Himmel und sandte sein tröstliches Licht auf die Burg und den See. Rolanas Finger rieben über die glatten Schuppen des Amuletts, während ihr Geist nach dem des kleinen weißen Drachen rief, den sie vor dem Winter im Schutz der nördlichen Vulkanberge zurückgelassen hatten.

Covalin! Öffne deinen Geist und komm zu mir.

Rolana, du bist es. Ich habe dich so vermisst, erklang ganz deutlich die Stimme des kleinen Drachen in ihrem Geist. Wo bist du? Wann kommst du mich holen? Ich muss so schrecklich viel lernen.

Kein Zweifel: Covalin lebte, und es schien ihm gut zu gehen.

Bist du gesund?, versicherte sie sich dennoch. Ist dir nichts zugestoßen?

Aber nein! Der Goldene lässt mich nicht aus den Augen. Der kleine Drache seufzte dramatisch. Bitte, holt mich ab. Ich will wieder mit euch Abenteuer erleben und Zwerge befreien. Ich kann jetzt auch schon richtig gut fliegen, und ich kann Feuer spucken. Ich wäre euch eine große Hilfe!

Das glaube ich dir. Du machst das sehr gut! Aber noch ist deine Ausbildung nicht zu Ende. Sei weiterhin brav und übe, was der Goldene dich lehrt.

Covalin maulte enttäuscht, dann brach die Verbindung ab. Tränen der Erleichterung rannen Rolana über die Wangen, als sie sich den Freunden wieder zuwandte. Ihre schwimmenden Augen missverstehend, starrten die Gefährten sie beklommen an.

»Ist er tot?«, wagte Lahryn endlich zu fragen.

Rolana schüttelte den Kopf. »Nein, er lebt, daran besteht kein Zweifel, und es geht ihm gut.« Die Freunde atmeten erleichtert auf. Ibis wischte sich hastig über die Augen.

»Dann verstehe ich nicht, was geschehen ist«, sagte Lahryn und zog die Stirn in Falten.

»Ich auch nicht«, stimmte Rolana ihm zu. »Ich werde auf die Lichtung hinausreiten und beten. Ich hoffe, Soma kann mir eine Antwort geben!« Sie deutete auf ihre Brust, auf der noch immer die Wunde schmerzhaft pochte. »Und nun lasst mich allein. Ich möchte mich umkleiden.«

Lamina trat zu ihr und legte ihr die Hand auf den Arm. »Ich schicke dir Veronique, damit sie dir zur Hand geht. Es ist sicher schmerzhaft.« Rolana widersprach nicht.

Als die junge Priesterin kurz darauf in Reithose, Wams und Umhang aus dem Zimmer trat, erwartete sie Cay, ebenfalls zu einem Ausritt gekleidet.

»Ich werde dich begleiten. – Nein, widersprich mir nicht, denn du kannst mich nicht abhalten. Du wirst mich nicht sehen. Ich werde mich so weit zurückziehen, dass ich dich nicht störe, aber ich werde in dieser Nacht über dich wachen!«

Rolana schluckte ihre Widerworte hinunter und drückte Cay dankbar die Hand.

»Mein Freund, ich habe deine Treue nicht verdient.«

»Doch, das hast du, und auch meine Liebe, ganz egal, was du tust«, erwiderte er rau. »Und nun lass uns gehen. Dort draußen in der Welt geht etwas vor sich, das uns sicher zu Recht in Unruhe versetzt!«

* * *

»Was hast du erfahren?«, drängte Ibis, als sie sich alle zu einem frühen Morgenmahl in der Halle trafen. Rolana sah übernächtigt aus und hatte dunkle Ringe unter den Augen.

»Nun lass sie sich doch erst einmal stärken«, widersprach der Zwerg und schob ihr einen Becher mit warmem Bier über den Tisch zu.

»Nein! Essen und trinken können wir, wenn die Gefahr gebannt ist«, begehrte die Elbe auf und sah Rolana erwartungsvoll an. Die anderen waren nicht weniger angespannt. Vermutlich hatten sie in dieser Nacht ebenfalls keinen Schlaf gefunden. Die Priesterin erhob sich von ihrem Platz und sah in die Runde.

»Ich hatte Recht. Die Krone hat ihre zerstörerische Macht zurückgewonnen. Astorin ist es irgendwie gelungen, eine weitere Figur für die Krone zu schmieden: einen weißen Drachen!«

»Nun sind also wieder alle Farben in ihr vereint«, nickte Lahryn. »Ich hätte nicht gedacht, dass so etwas möglich ist.«

»Ich auch nicht«, pflichtete ihm Rolana müde bei und ließ sich auf ihren Stuhl fallen.

»Und was machen wir jetzt?«, fragte der Zwerg und sah in die Runde, bis sein Blick an der Elbe hängen blieb. In seinem Gesicht zeichnete sich Missbilligung ab. Ibis griff nach einer Scheibe kaltem Braten, legte einen dicken Brotkanten dazu und angelte sich dann noch ein gebratenes Hühnerbein.

»Ach, hast du deine Meinung geändert? Ich dachte, du wolltest die Gefahr noch vor dem Essen bannen.«

Ibis kaute mit vollen Backen. Die meisten Elben bevorzugten Speisen ohne Fleisch. Wenn sie überhaupt Tiere zum Verzehr töteten, dann waren es Fische. Ibis jedoch hatte so lange in der Unterwelt von Ehniport gelebt, dass sie die Essgewohnheiten der Menschen dort übernommen hatte, und bei Ferules Bande wurde meist Fleisch aufgetischt.

»Wie schön, dass es dir schmeckt«, sagte Thunin säuerlich.

Die Elbe biss ein Stück aus dem Hühnerschenkel. »Ja, es schmeckt!«, bestätigte sie mit vollem Mund und nickte dankend zu Lamina hinüber. »Du solltest auch etwas essen, solange es so üppig auf dem Tisch steht. Ich denke, wir werden auf unserem Weg nicht immer die Möglichkeit dazu haben und unseren Gürtel wieder enger schnallen müssen.« Sie sah in die Runde. »Wann brechen wir auf? Ich würde gern meinen Pfeilvorrat noch ein wenig ergänzen.« Die anderen starrten sie an. »Was ist?«, wollte Ibis zwischen den nächsten Bissen wissen. »Ich denke, wir müssen nach den Drachenfiguren suchen, die Astorin noch nicht in seinen Händen hält – oder ihm die, die er bereits gefunden hat, wieder abjagen, oder etwa nicht?«

Lahryn nickte langsam. »Ja, so ähnlich. Etwas anderes wird uns nicht übrig bleiben, wenn wir den Gewittersturm, der auf die Welten zukommt, noch abwenden wollen.«

»Und wo sollen wir suchen?«, wollte der Zwerg wissen, »Wir haben nicht den kleinsten Anhaltspunkt.«

Cay zuckte mit den Schultern. »Wir wissen immerhin, wo Astorins Burg steht. Dort wird er wohl die Figuren aufbewahren, die er gefunden hat.«

»Und nun willst du dort hinreiten, hineinspazieren und ihm die Figuren entreißen?«, ereiferte sich der Zwerg.

»Warum nicht?«, erwiderte Cay gelassen. »Hast du einen besseren Vorschlag?«

Der Zwerg plusterte sich auf, aber Rolana brachte die beiden mit einer Handbewegung zum Schweigen.

»Ich werde den goldenen Drachen um Rat bitten. Vielleicht kann er uns einen Hinweis geben, wo wir mit unserer Suche beginnen sollen. Wenn es möglich ist, dann würde ich Astorins Burg lieber meiden. Wir hätten dort alle Nachteile auf unserer Seite. Er kennt sich aus, weiß, wo die Figuren sind, und hat sicher viele Männer auf seiner Seite.« Die anderen nickten zustimmend, nur Ibis zuckte mit den Schultern und stopfte sich Brot in den Mund.

Zurück in ihrem Zimmer, kniete sich Rolana auf den Teppich vor dem offenen Fenster und nahm das Amulett in die Hände. Sie sah es genau an, dann schloss sie die Augen. In ihrem Geist schuf sie das Bild des großen goldenen Drachen. Sie rief ihn und bat ihn um Antwort. Nach ihrem dritten Ruf schallte seine Stimme in ihrem Kopf.

Rolana, Tochter des Mondes, ich kann dich hören. Ich habe die Erschütterung der Macht mit Sorge gespürt. Die Kräfte des Bösen erstarken wieder. Sie machen sich auf, die freien Drachen erneut zu versklaven.

Rolana hörte ihn ganz deutlich. Seine tiefe Stimme rollte wie Donner durch ihren Geist und Körper.

Du Weiser unter den Drachen, was können wir tun, um das zu verhindern? Wir müssen Astorin aufhalten!

Alleine können wir Drachen den Teilen der Krone nichts anhaben. Aber ihr könnt sie finden und dann mit unserer Hilfe zerstören.

Ihr Herz begann schneller zu schlagen. Sag uns, was wir tun sollen! Wir folgen deinem Wort. Hat Astorin bereits alle Teile beisammen?

Nein. Ich fühle, dass sich drei der alten Drachen in seiner Aura befinden – und der neue, den er mit Hilfe der alten Kräfte geschmiedet hat.

Rolana überlegte. Du weiser Drache, kannst du uns einen Hinweis geben, wo wir mit unserer Suche nach den verlorenen Teilen beginnen können? Weißt du, wo sie einst verborgen wurden?

Als der große Feuersturm sich legte, zerbrach die Krone in sechs Teile, und die Drachen waren wieder frei, ihrem eigenen Willen zu folgen. Doch mit der Freiheit ihres Geistes kehrte auch die alte Feindschaft zwischen den farbigen und den glänzenden Drachen zurück. Jede Gruppe erhob Anspruch auf die Teile, die keiner von uns ohne fremden Befehl zerstören konnte. Schließlich einigten wir uns, dass jeder die Figuren seiner eigenen Art verwahren und so verstecken sollte, dass sie nicht mehr zu unserem Schaden wiedergefunden werden konnten. Rolana hörte den Drachen tief seufzen. Ich weiß nicht, wo die letzte der farbigen Figuren ruht. Ich kann nur eine starke, böse Kraft um sie herum fühlen.

Und die silberne und die goldene Figur? Wo sind sie?, drängte die Priesterin.

Die goldene Figur bewacht das Drachentor zwischen den Welten, weit im Osten, wo sich einst die prächtige Magierstadt Xanomee erhob. Den silbernen Drachen haben wir den Magiern der aufstrebenden Akademie von Ehniport übergeben.

Ein Prickeln überlief Rolanas Rücken. Ehniport! Nur ein paar Tagesreisen entfernt. Hatten die Magier die Figur noch immer in ihrer Obhut? Wie sollten sie die mächtige Gilde überzeugen, ihnen diesen Schatz auszuliefern? Nun, darüber würden sie nachdenken müssen, wenn sie die Figur ausfindig gemacht hatten.

Ist die Figur noch dort?, stieß sie aufgeregt hervor.

Ich kann ihre Aura spüren, doch ich weiß nicht, ob sie noch in Händen der Gilde ist. Es war mir vor einigen Jahren, als fiele ein Schatten über sie.

Rolana wurde das Herz schwer. Dann werden wir sie suchen müssen. Ich danke dir, goldener Drache.

Ruf mich wieder, wenn ihr die Figur in Händen haltet. Dann werde ich euch den Weg zum Tor weisen, denn nur dort kann die Krone vereint oder zerstört werden.

Die Verbindung brach ab. Rolana kniete noch einige Augenblicke auf dem Teppich. Sie fühlte sich erschöpft und ausgelaugt. Wieder einmal lag eine große Aufgabe vor ihnen, von deren Gelingen das Schicksal der Länder rund um das Thyrinnische Meer abhing, ja vielleicht sogar das Schicksal der Welten.

Das Drachentor

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