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Der weiße Drache

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Astorin stand in seinem Studierzimmer vor dem bogenförmigen Fenster und sah hinaus. Sein Blick war starr auf die abweisende Vulkanlandschaft gerichtet, ohne dass er sie sah. Seine Augen waren ohne Glanz, fast wie die eines Toten, als wäre der Geist aus dem Schädel, zu dem er gehörte, gewichen. Lange schon stand der Magier da, ohne sich zu rühren. Fast müsste es ihn wundern, dass er überhaupt noch stehen konnte, hätte er darüber nachgedacht, aber sein Kopf war leer wie sein Blick. Wochenlang hatte Astorin gewütet. Er hatte sich weder Essen noch Schlaf gegönnt, war unablässig in seiner Burg auf und ab gelaufen und hatte in all seinen Büchern und Schriftrollen nach einer möglichen Rettung für seine Pläne gesucht. Nichts. Nicht der kleinste Hinweis. Er war gescheitert. Alles hatte sich in Rauch aufgelöst – oder sollte er besser sagen, war von einem kleinen weißen Drachen verschlungen worden?

Es spielte keine Rolle mehr. Wozu sollten noch Gedanken in seinem Schädel kreisen, jetzt, da sein Lebenswerk vernichtet war. Dabei war er schon so weit gekommen! Wie von einer fremden Macht angezogen, wandte er langsam den Kopf. Die Pupillen zogen sich ein paarmal zusammen und fixierten dann den Schrein, um den die Luft bläulich schimmerte. Noch immer schützte ein magisches Feld seinen Inhalt. Wozu? Mit hölzernen Schritten trat Astorin näher. Sein Blick blieb an den drei Drachenfiguren hängen, die so verführerisch, ja fast überirdisch schimmerten und die nun so nutzlos waren. Ein kupferner, ein roter und ein blauer Drache lagen dort. Astorin wusste, dass der schwarze Drache vom Herrn auf Draka geschützt wurde und dass der silberne Drache vermutlich in den Katakomben von Ehniport gestrandet war, aber dieses Wissen war nun nichts mehr wert. Die Figuren der Drachenkrone hatten ihre Macht in dem Augenblick verloren, da der einzige weiße Drache aller Welten aus seinem Ei geschlüpft war: Covalin, dessen Schuppen bei Sonnenauf- und Sonnenuntergang wie Kupfer glänzten und der im hellen Licht des Tages schimmerte wie frisch gefallener Schnee. Solange er lebte, würden mit den sechs Figuren nicht mehr die Farben aller Drachen in der Krone vereint sein. Selbst wenn es ihm gelang, die restlichen Bruchstücke aufzuspüren und sie unter dem Drachentor zwischen den Welten zusammenzusetzen, die Macht der Krone war dahin.

Astorin hatte den weißen Drachen gejagt, um ihn zu töten, doch er war gescheitert. Covalin war in den nördlichen Vulkanbergen in Sicherheit, denn er stand unter dem Schutz des großen goldenen Drachen, des ältesten und weisesten Wesens der Welten. Solange Covalin dort blieb, war er für Astorin unerreichbar.

Der Magier brachte mit einer Handbewegung das Kraftfeld zum Erlöschen. Er öffnete den Schrein und nahm die rote Drachenfigur in die Hand. Sie fühlte sich nicht anders an als vor Covalins Erscheinen, warm und schwer. Astorins Finger tasteten über die winzigen Schuppen, die Fänge und Rückenstacheln, die wie im Kampf aufgestellt waren.

Was sollte er jetzt tun? Solange er zurückdenken konnte, war sein ganzes Streben auf die Entdeckung und die Wiedervereinigung der Bruchstücke der Drachenkrone ausgerichtet gewesen. Dafür hatte er studiert, sich geplagt, geraubt und getötet. Was würde er nun mit seinem Leben anfangen? War es denn überhaupt noch wert, es weiter zu leben? Achtlos legte Astorin die Figur zurück und ließ sich in den gepolsterten Scherenstuhl vor seinem Schreibpult fallen. Er machte sich nicht die Mühe, das Kraftfeld wieder zu errichten. Er fühlte sich müde und ausgelaugt. Seine Lider sanken herab. Wenn er doch nur schlafen könnte. Für immer schlafen und nie wieder erwachen.

Zuerst war es in seinem Kopf angenehm dunkel und leer. Die Gedanken wurden träger und erstarrten dann, wie die Eisschicht auf einem winterlichen See. Er glitt hinab in die tröstliche Finsternis. Stille.

Stille? War da nicht ein Kichern? Kalt und boshaft?

Nein, das konnte nicht sein. Sein Studierzimmer war ruhig und verlassen. Keiner der Diener wagte es, ihn zu stören, und selbst der Wind, der so oft klagend über die verbrannten Ebenen strich, war verstummt. Es war nur der Nachklang einer Erinnerung.

Wieder spürte er das böse Kichern wie einen eisigen Lufthauch, doch nicht um sich herum. Es strich durch seinen Geist und ließ sich nicht verscheuchen. Nun war es ihm gar, als könnte er Worte vernehmen. Sie zischelten, als kämen sie von der gespaltenen Zunge einer Schlange.

Astorin, der große Zauberer – oder sollte ich besser sagen: der verblassende Schatten eines großen Zauberers? Wieder kicherte es in seinem Kopf. Astorin riss die Augen auf. Er sprang von seinem Stuhl und schüttelte heftig den Kopf, als gälte es, eine lästige Fliege zu vertreiben, die sich auf seinem Haupt niedergelassen hatte. Das schadenfrohe Gelächter wurde nur noch lauter.

Was bist du nur für ein Bild des Jammers. Ich wusste ja, dass du schwach und einfältig bist, doch dass du zu so einem Versager wirst? Ja, gib auf und überlass dich deinem Schmerz. Oder noch besser: Steig ein paar Treppen tiefer, verkriech dich in einer Höhle und überlass dich dem Sterben, wenn das alles ist, was noch in deinen Kräften liegt.

Astorin hielt mitten in der Bewegung inne. Seine tief liegenden Augen weiteten sich. »Tomord!«

Wer sonst?, hallte das Kichern durch seinen Geist.

»Bei den Göttern, wie schaffst du es, in meine Gedanken zu dringen?«

Seit wann hast du es mit den Göttern?, gab die Stimme zurück, die dem Magier gehörte, der einst die Drachenkrone geschaffen hatte. Nun war von ihm nur sein Schädel geblieben, der auf seinem Altarschrein in einer Vulkanhöhle tief unter der Burg ruhte.

Falsch, musste sich Astorin korrigieren. Seine Bosheit und seine Machtgier hatten die Zeiten ebenfalls überdauert. Und dass es ihm gelang, sich mit Astorins Geist zu verbinden, obwohl dieser sich viele Stockwerke über ihm in seinem Turmzimmer befand, konnte nur bedeuten, dass auch seine Stärke beträchtlich zugenommen hatte, seit Astorin zum letzten Mal in der Höhle war. War ihm gar ein unvorsichtiger Mensch vor die Knochen gestolpert, der ein willkommenes Opfer dargestellt und dessen Lebenskraft er in seinen leeren Schädel gesaugt hatte? Der Gedanke ließ Astorin schaudern. Es war eine furchtbare Vorstellung.

Nein, leider nicht, bedauerte der Schädel. Ich hätte nichts dagegen, wenn du mir ein paar deiner Diener schicktest. Hätte er noch eine Zunge besessen, er hätte vermutlich genüsslich mit ihr geschnalzt.

»Das könnte dir so passen, du verrotteter Schädel«, rief Astorin voller Zorn und ballte seine knochigen Finger zu Fäusten. Falls das überhaupt möglich war, so war der Magier in den vergangenen Wochen noch hagerer geworden, seine Adlernase noch schärfer. Sein Haar hatte eine schmutziggraue Färbung angenommen und hing ihm, wie die dünnen Barthaare, in fettigen Strähnen hinab.

Deine Dummheit ist noch schwerer zu ertragen als dein Mangel an Höflichkeit, gab der Schädel zurück. Wie konnte ich mich nur dazu hinreißen lassen, meine Hoffnung in dich zu setzen? Dir fehlt der Biss! Also lass dich fallen und ertrinke in deinem Elend. Was kümmert es mich, wenn ich noch eine weitere Ewigkeit auf einen Magier warten muss, der würdig ist, meinen Plänen zu dienen!

»Ja, du hast Zeit«, knurrte Astorin. »Was macht dir die Ewigkeit eines Drachenlebens aus? Du kannst es in Ruhe in deinem Grab aussitzen, bis Covalin aus diesen Welten verschwindet und die Krone wieder ihre Macht erlangt.«

Dummer Schwätzer, zischte der Schädel. Ich habe nicht vor zu warten, bis die Natur sich meiner Wünsche erbarmt.

»Und was kannst du sonst tun?«, höhnte nun der Magier und warf seine dürren Arme in die Luft. Doch das Gefühl der Überlegenheit zerfiel schon nach Augenblicken wieder wie ein ausgebranntes Holzscheit. »Mir bleibt diese Zeit nicht«, sagte er müde. »Meine Chance ist für immer dahin.«

Bei Tyr und Hel! Oh ihr Götter der Finsternis, ich flehe euch an, schickt mir einen Magier, der den Titel noch verdient!

Astorin ließ sich wieder in seinen Sessel sinken, verschränkte die Hände auf dem Schreibtisch und legte sein spitzes Kinn darauf. »Was würde er dir nützen?«

Er könnte beispielsweise der Krone ihre Macht zurückgeben, schnaubte die Stimme in seinem Kopf.

Wie sollte das gehen?, dachte Astorin. Wenn nicht alle Farben...

Dann muss man eben dafür sorgen, dass alle Farben in ihr vertreten sind!, fiel der Schädel des toten Magiers ihm ins Wort.

»Wie ist das möglich?«, fragte Astorin ohne echtes Interesse.

Na wie wohl?, kreischte der tote Magier. So wie ich auch die anderen Figuren erschaffen habe. Ich hätte es damals selbst getan, wenn ich die Zeit dazu gehabt hätte. Doch die Drachen fielen über mich her, sobald die Macht der Krone erlosch, töteten mich und zerstörten mein Werk. Sie verstreuten die Teile der Krone in alle Winde!

Ganz langsam wanderte Astorins Blick zu dem Schrein mit den Drachenfiguren. Sollte das wirklich möglich sein? Oder versuchte der Schädel, ihn mit einer List in seine Höhle zu locken, um dann seinen Geist zu bezwingen und sich seines Körpers zu bemächtigen?

Kein dummer Gedanke, kicherte es in seinem Kopf. Wenn du dich ungeschickt anstellst, werde ich der Versuchung sicher nicht widerstehen können. Dennoch sind meine Worte wahr. Wie sollten sie es auch nicht sein? Bin ich nicht Tomord, der Schöpfer des mächtigsten Artefakts, das es je in den Welten gab? Sie haben meinen Körper zerstört, doch mein Geist hat den Tod überdauert! Ist dir das nicht Beweis genug?

Astorin überlegte. Es klang schlüssig, und es gab ihm neue Hoffnung. Es war noch nicht vorbei! Er würde eine zweite Chance bekommen, und dann würde er siegen! Er würde die Teile unter dem Drachentor vereinen und von diesem Augenblick an die Welten beherrschen, denn alle Drachen würden seinen Befehlen bedingungslos folgen müssen.

Hübscher Traum, nicht? Komm zu mir, dann verrate ich dir das Größte aller Geheimnisse.

Astorin musste sich zügeln, dass er nicht mit wehenden Gewändern die Wendeltreppe hinunter bis in die Vulkanhöhle eilte. Nein, das wäre nicht ratsam. Er war ausgelaugt und schwach. Er würde den Kräften des Schädels nichts entgegensetzen können. Er spürte so etwas wie einen Hauch von Enttäuschung durch seine Gedanken wehen. Ein grimmiges Lächeln verzog seine Lippen.

»Nein, mein Lieber, so einfach werde ich es dir nicht machen! Verschwinde aus meinem Geist und lass mich ruhen und Kräfte sammeln. Dann werde ich zu dir hinabsteigen, und du kannst mir die Geheimnisse verraten, die mir erlauben, eine weiße Drachenfigur für die Krone zu schmieden.«

Wie du wünschst, erwiderte der Schädel in ungewohnter Demut und zog sich mit seinem untoten Geist aus Astorins Kopf zurück. Der Magier ließ sich dadurch nicht täuschen. Er würde sehr vorsichtig sein müssen, damit es dem Schädel nicht gelang, ihn zu übertölpeln. Nicht zum ersten Mal stieg in Astorin der Verdacht auf, Tomords Geist könnte sich – trotz aller Vorsichtsmaßnahmen und Schutzschilde – von seiner Lebenskraft genährt haben. So beschloss der Magier, zuerst einmal seine körperlichen Kräfte wiederherzustellen, die er in seiner Verzweiflung vernachlässigt hatte.

Astorin stieg in den Speisesaal hinab und scheuchte die Diener nach einer kräftigen Mahlzeit. Diese waren überrascht, ihren Meister so plötzlich zu sehen und noch dazu in völlig gewandelter Stimmung. So schnell wie möglich tischten sie ihm auf, was in der Küche zu finden war. Astorin aß hastig und wankte dann in sein Gemach, wo er in einen fast ohnmächtigen Schlaf fiel. Ab und zu wälzte er sich herum, und es war ihm, als könnte er den Schädel in der Ferne kichern hören. Nach fast zwanzig Stunden erwachte er, nur um wieder eine Mahlzeit zu verlangen. So aß und schlief der Magier im Wechsel fünf Tage lang. Am sechsten Morgen stieg er wieder zu seinem Studierzimmer hinauf, um mit den Vorbereitungen für seine Schutzzauber zu beginnen. Obwohl es ihn danach drängte, Antworten auf seine Fragen zu bekommen, zwang er sich zu Ruhe und Sorgfalt. Die Vorbereitung war entscheidend! Nur zweimal fühlte er die Gegenwart des untoten Geistes. Nun komm schon! Wie lange willst du mich noch warten lassen?

»Versuch es nicht! Ich lasse mich von dir nicht drängen. Hoffst du auf einen Fehler? Du wirst enttäuscht werden.«

Das werden wir sehen, schnappte der Schädel zurück. Zu Astorins Vergnügen schien er ärgerlich zu sein.

Am Abend des zwölften Tages waren die Vorbereitungen abgeschlossen. Astorin warf noch einen nervösen Blick in den Spiegel und strich sein runenbesticktes Gewand glatt, dann begann er, die Wendeltreppe hinabzusteigen, an deren Ende der Zugang zur Lavahöhle lag.

* * *

Eine einsame Gestalt schritt den Wehrgang entlang. Sie kam an einem der Wächter vorbei, der ihr grüßend zunickte, sich jedoch nicht von der Stelle rührte und weiterhin seinen Blick über das sich verdüsternde Land schweifen ließ. Noch war er wachsam. Der Tag war noch nicht ganz zerronnen und hatte sich der Nacht noch nicht ergeben. Doch wenn der Mond sich den Wipfeln des Waldes näherte, würden die Lider längst schwer, die Beine müde und der Blick trüb geworden sein. Wenn ein Angreifer es auf Burg Theron abgesehen hatte, dann würde er die Stunde vor dem Morgengrauen wählen, um die Mauern zu erstürmen oder sich mit List Zugang zu verschaffen.

Der Wind blies den Umhang der abendlichen Wanderin auseinander und enthüllte einen schlanken Körper in einem einfachen Wollkleid. Die Frau blieb zwischen zwei Zinnen stehen und ließ wie der Wächter ihren Blick über den See, den Waldrand entlang und bis hinauf zu den Gipfeln der Silberberge schweifen. Alles war ruhig. Niemand würde die Burg angreifen. Es herrschte Friede in den Westlanden des Thyrinnischen Meeres.

Und doch...

Sie hörte die Schritte hinter sich, drehte sich aber nicht um. Sie wusste, dass es Cay war, der über sie wachte und der ihr hinterherkam, sobald sie sich zu lange von den anderen entfernte. Seine unerschütterliche Treue gab ihr das warme Gefühl von Geborgenheit, und dennoch regte sich auch ein wenig Unmut in ihr. Es verlangte sie danach, allein zu sein. Musste sie denn immer bei tiefer Nacht aus der Burg schleichen, wenn sie bei ihrem Gott sein wollte? Bei Soma, dem Gott des Mondes.

»Hier bist du«, erklang die Stimme des sehnigen Kämpfers. »Ist dir nicht kalt?«

Wie zum Trotz warf Rolana die Kapuze ihres Umhangs ab, so dass das letzte Licht des Tages sich in ihrem schwarzen Haar spiegelte. Sie hatte die Locken in einem strengen Knoten gebändigt.

»Wir haben Frühling.«

»Mag sein, die Nächte sind aber immer noch kalt«, brummelte er. Er hob die Hand, als wollte er die Kapuze wieder über ihren Kopf ziehen, ließ sie dann aber sinken, ohne Rolana zu berühren.

»Nun, bist du heute zur Nachtwache eingeteilt?«, versuchte Cay einen leichten Ton anzuschlagen. »Ich wusste gar nicht, dass man eine zusätzliche Schicht beschlossen hat. Droht uns denn Gefahr?«

Obwohl sein Ton deutlich sagte, dass er sie nur necken wollte, blieb Rolana ernst. Mit gerunzelter Stirn sah sie über den See, dessen Wasser nun glatt und schwarz unter ihnen lag.

»Vielleicht«, sagte Rolana leise. »Das Unheil ballt sich am Horizont zusammen. Ich kann es spüren.«

Cay folgte ihrem Blick zu dem wolkenverhangenen Himmel. »Ja, du hast Recht, es könnte heute Nacht noch ein Gewitter geben.«

Rolana seufzte. Wollte er sie absichtlich nicht verstehen? »Kein normales Gewitter könnte mir meine Ruhe rauben!«, sagte sie schärfer, als sie es beabsichtigt hatte, doch Cay schien nicht gekränkt. Er trat einen Schritt näher und legte ihr dann zögernd einen Arm um die Schulter.

»Was fürchtest du? Ich denke, Covalin ist in den Vulkanbergen vor Astorins Verfolgung sicher. Er steht unter dem Schutz des Goldenen! Oder denkst du, unser nichtsnutziger kleiner Drache hat wieder etwas angestellt?«

Rolana schüttelte den Kopf. Sie widerstand dem Drang zurückzuweichen und Cays Arm abzustreifen. Sie mochte den großen, kräftigen Kämpfer mit dem stets zerzausten Haar sehr gern. Ja, vielleicht liebte sie ihn sogar. Warum nur konnte sie seine Nähe kaum mehr ertragen?

Ihre Hand umfasste das gläserne Drachenamulett, das ihre Verbindung zu dem weißen Drachen war. »Nein, ich denke, mit Covalin ist alles in Ordnung. Das Amulett schweigt«, sagte sie langsam. »Und dennoch. Es ist diese Ahnung, tief in mir, die mir keine Ruhe lässt. Etwas geht vor sich. Ich kann es nicht greifen, doch ich weiß, dass böse Kräfte am Werk sind, die Leid und Elend über die Westlande bringen werden – und vielleicht nicht nur über unser Land.«

Cay öffnete den Mund, so als wollte er ihre Bedenken als überspannte Phantasie beiseitewischen, schloss ihn jedoch wieder, ohne ein Wort zu sagen. Schweigend standen sie beisammen und sahen den Gewitterwolken zu, die, von einem stürmischen Wind getrieben, den Sternenhimmel Stück für Stück verschlangen, bis sie den See und die Burg erreichten. Als die ersten Gewitterböen über die Zinnen hinwegfegten, verstärkte Cay den Druck seines Armes. Widerstandslos ließ sich Rolana zurück zur Treppe und dann zum Palas hinüberführen. Die ersten Tropfen fielen, als sie den Fuß der Freitreppe erreichten, und als Cay das große Tor aufstieß, strömte bereits der Regen herab, und der Donner hallte von den Burgmauern wider.

In der Halle war es düster. Nur wenige Kerzen brannten in den Haltern. Cay nahm Rolana den Umhang ab.

»Hast du eine Vorstellung davon, um was es sich handelt? Meinst du, Astorin ist wieder am Werk? Doch was will er anrichten, jetzt da die Krone ihre Macht verloren hat?«

Rolana zuckte hilflos mit den Schultern. »Ich kann es dir nicht sagen, denn ich weiß es nicht, und dennoch bin ich mir sicher, dass dies nicht nur eine trübe Stimmung ist, wie sie Frauen ab und zu befällt!«

»Das habe ich auch nicht angenommen«, verteidigte sich Cay nun doch ein wenig gekränkt. »Ich – wir alle haben deinem Urteil stets vertraut, sind dir über Berge und durch die Wüste gefolgt und waren bereit, unser Leben zu geben.«

Beschämt senkte Rolana den Blick. »Verzeih mir, ich bin eine Plage.« Sie umarmte Cay kurz, ließ ihn jedoch gleich wieder los. »Ich habe solch treue Freunde nicht verdient. Und dennoch bin ich froh, euch zu haben... dich zu haben«, fügte sie viel leiser hinzu, raffte ihr Gewand und strebte mit langen Schritten auf die Treppe zu. »Ich werde vor dem Essen noch nach Lamina sehen«, sagte sie und eilte davon. Cay sah ihr stumm hinterher.

* * *

Die Tür zu den Gemächern der Gräfin von Theron war nur angelehnt. Die junge Priesterin des Mondordens klopfte und trat dann ein, obwohl sie keine Antwort erhielt. Das erste Zimmer – mit einer prächtigen Sitzgarnitur vor dem offenen Kamin – war leer. Rolana trat durch die offene Tür ins Schlafgemach der Gräfin. Lamina saß auf der Fensterbank, ein Deckenbündel in den Armen, das Laute der Zufriedenheit von sich gab. Rolana blieb unter der Tür stehen und beobachtete den sich wandelnden Gesichtsausdruck der Gräfin, die sie offensichtlich noch nicht bemerkt hatte. Wehmut und Trauer huschten über ihre Züge, der Hass jedoch war verblasst, und eine neue Zärtlichkeit stand in ihrem Blick, als sie ihrem Kind mit dem Finger über die Wangen strich. Erleichterung durchflutete die junge Priesterin. Sie hatte nicht nur um das körperliche Wohlergehen von Mutter und Sohn gebangt, nachdem das Kind einige Wochen zu früh zur Welt gekommen war. All ihre Kräfte hatte Rolana eingesetzt und Soma um seine Gnade gebeten, um die beiden Leben zu retten. Den seelischen Kummer dagegen hatte sie nicht heilen können.

Das stand nicht in ihrer Macht. Bis zuletzt war vermutlich nicht einmal der Gräfin klar gewesen, ob sie ihr Kind annehmen würde, das gegen ihren Willen mit Gewalt gezeugt worden war. Nun schien die Natur mit ihren heilenden Kräften den Schrecken ein wenig von ihr zu nehmen. Dennoch war Rolana bewusst, dass Lamina die Tage, die sie in der Gewalt der Piraten gewesen war, nie würde vergessen können.

Die junge Priesterin räusperte sich. Laminas Hand zuckte zurück, als hätte man sie bei etwas Verbotenem erwischt. Das zärtliche Lächeln verschwand, als sie sich der Besucherin zuwandte.

»Oh, Rolana, du bist es. Was gibt es?« Diese atemlose Unsicherheit passte nicht zu der jungen Frau, die während der vergangenen Monate die Grafschaft mit ruhiger Hand und festem Willen geführt hatte. Rolana trat näher.

»Es gibt nichts Natürlicheres in diesen Welten, als dass eine Mutter ihr Kind liebt. Jedes ihrer Kinder!«

Laminas Wangen röteten sich, doch sie stritt ihre widersprüchlichen Gefühle nicht ab. »Du hast sicher Recht, und doch denke ich manches Mal, ich dürfte es nicht lieben. Ist es nicht auch Teil seines Vaters, für den ich nichts anderes als Abscheu empfinden kann?«

Rolana wiegte den Kopf hin und her. »Sicher tragen wir alle das Erbe unserer Väter in uns – aber auch das unserer Mütter. Noch ist dein Sohn ein unschuldiges Wesen. Sorge mit deiner Liebe dafür, dass deine guten Kräfte in ihm stärker werden. Sieh in sein Gesicht. Ich kann dich darin erkennen.«

Das zärtliche Lächeln erschien wieder auf Laminas Lippen und ließ ihre schmalen Züge weicher erscheinen. »Gerald«, flüsterte sie.

»Es ist gut, dass du ihn nach dem Mann genannt hast, der sein Vater hätte sein sollen.«

»Ich habe es nicht getan, damit die Leute nicht reden, denn das tun sie sowieso!« Kampflustig reckte sie das Kinn.

»Ich weiß«, beschwichtigte sie Rolana. »Dennoch ist es auch aus diesem Grund gut. Er kam früher zur Welt, und keiner deiner Freunde wird darüber sprechen.«

Lamina schwieg, dann erhob sie sich und legte das inzwischen schlafende Kind in seine Wiege.

»Ist es schon Zeit für das Abendessen? Dann werde ich mit dir hinuntergehen. Es wird Zeit, dass ich mich wieder mit meinen Freunden an die Tafel setze. Veronique wird über Geralds Schlaf wachen.« Sie warf noch einen letzten Blick ins Kinderbett und folgte dann Rolana hinaus in den Gang. Bis zur Treppe schwiegen die Frauen.

»Auch du bist mager und blass geworden. Hat unsere Pflege dich so deiner Kräfte beraubt? Verzeih, das ist mir bisher nicht aufgefallen.« Die Gräfin musterte Rolana aufmerksam. Diese schüttelte jedoch den Kopf.

»Nein, das hat nichts mit dir und deinem Sohn zu tun.«

»Was ist es dann? Darf ich dich fragen? Sind wir nicht zu Freunden und Vertrauten geworden?«

Die Hand bereits an der Klinke der Esszimmertür hielt Rolana inne. »Wenn ich es nur selbst wüsste«, seufzte sie. Der Schatten des Bösen lag schwer auf ihrer Seele und raubte ihr seit Tagen den Schlaf.

»Ich hoffe, ich irre mich«, murmelte sie, auch wenn sie wusste, dass dem nicht so war.

* * *

Astorin blieb im Eingang der Höhle stehen, seine schwarzen Augen fest auf den Schädel gerichtet, der auf einem säulengesäumten Altar in einer Wandnische lag. Rechts und links standen zwei angelaufene Kerzenständer. Selbst das rötlich flackernde Licht in den Augenhöhlen des Schädels war noch so, wie es ihn in seinen Träumen verfolgt hatte. Nichts hatte sich seit seinem letzten Besuch hier unten verändert. Wie sollte es auch! Außer ihm konnte niemand die Höhle betreten. Astorin überprüfte im Geist noch einmal seine Zauber, die ihn vor der Macht des Schädels schützen sollten, ehe er zaghaft ein paar Schritte näher trat.

Ah, da bist du ja endlich, großer Zauberer, ließ der Schädel seine spöttischen Worte in seinem Geist vernehmen.

»Auf ein paar Tage kann es dir ja nicht ankommen«, gab der Magier zurück.

Der Schädel kicherte. Oh, du bist gereizt? Hast du feuchte Hände vor Angst? Das solltest du auch, denn es wird ein spannendes Spiel

»Das ich gewinnen werde!«, rief Astorin und kam, ohne darüber nachzudenken, ein paar Schritte näher.

Wir werden sehen, gab der Schädel zurück. Doch nun sei still und öffne deinen Geist. Dann werde ich dir zeigen, wie es dir gelingen kann, die weiße Drachenfigur zu erschaffen.

Bilder begannen durch Astorins Kopf zu schwirren, verwirrende Blitze, scheinbar ohne Zusammenhang. Er spürte, wie die Konzentration an seiner Kraft zehrte, oder versuchte der Schädel schon wieder einen seiner Tricks, um ihm das Leben auszusaugen? Bald fiel es Astorin schwer, seine Schutzzauber noch aufrechtzuerhalten.

»Schluss!«, rief er und presste die Hände an die Schläfen. »Lass deine Spielchen!«

Ich spiele nicht! Du wirst Kraft brauchen, der Figur ihre Magie einzuhauchen. Wenn du jetzt schon aufgibst, dann wäre es besser, du lässt es mich an deiner Stelle tun. Wie hungrige Wölfe schlichen die Nebelfetzen seines Geistes um die Schutzhülle.

Astorin straffte die Schultern. »Nein! Mach weiter, ich werde es schaffen.«

Nun gut, wie du willst.

Mit letzter Kraft wankte Astorin aus der Höhle. Es war ihm klar, wenn der Schädel in diesem Augenblick nach seinem Leben gegriffen hätte, dann wäre es ihm gelungen. Aber anscheinend verfolgte er andere Pläne und ließ den erschöpften Magier mit dem Auftrag gehen, die nötigen Zutaten zu besorgen. Vielleicht wollte er warten, bis alles bereit war? Schon möglich, dachte Astorin, ehe er auf sein Lager und in einen traumlosen Schlaf fiel.

Das Drachentor

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