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Der Moradorden

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In den tiefen Sümpfen südlich des Adasees erhob sich auf einem Hügel ein düsteres, quadratisches Gebäude. Es war groß. Vier Flügel, von einer unüberwindlichen Mauer umgeben, umschlossen einen Hof. Eine der Mauern war von einem Tor durchbrochen, das jedoch stets mit starken, eisernen Türflügeln verschlossen war und von zwei Türmen bewacht wurde. Ringsum gluckste und schwappte das trübe, stinkende Wasser des Moores. Verwesungsgeruch drang durch jede Ritze und tränkte das Mauerwerk. Nur selten erleuchtete die Sonne diesen verfluchten Ort. Meist verhüllte Nebel den Blick zum Himmel, grünlich und schleimig wie das Wasser ringsumher. Vielleicht wollten die Götter gar nicht sehen, welch frevelhaftes Treiben dort herrschte. Der Moradorden hatte sich diesen Platz mit Bedacht gewählt, weitab von allen Menschen und ihren Siedlungen. Ungestört widmete er sich hier in der Einsamkeit den bösen Mächten, huldigte Dämonen und Teufeln und trieb seine zerstörerischen Experimente.

Eine Gestalt huschte den Gang entlang, der von den spartanischen Zellen der Schwestern zu der kleinen, überwölbten Halle führte, in der die Mutter Oberin meist auf ihrem thronartigen Sessel saß, Aufgaben verteilte und sich Berichte über Experimente anhörte. Hier empfing sie auch Besucher, von denen es allerdings nicht viele gab. Ja, in manchen Jahren verirrte sich gar niemand in die düsteren Adasümpfe.

Die Novizin betrat lautlos die Halle und näherte sich mit gesenktem Blick dem Thron. Sie kniete nieder und küsste die Schuhspitze, die unter dem schwarzen Umhang hervorlugte.

»Mutter Morad, Ihr habt mich rufen lassen?«

Die Äbtissin war eine Furcht einflößende Frau von über neunzig Jahren. Das Alter hatte tiefe Furchen in ihr Gesicht gegraben, das von langem weißen Haar umrahmt wurde. Sie war zierlich gebaut, und die Zeit hatte sie knochig und hager werden lassen. Das Beängstigende an ihr waren jedoch die Augen, die schon so viel Böses gesehen hatten. Ihr Blick grub sich tief in jede Seele und zerrte die Gedanken und Gefühle ihres Gegenübers ohne Gnade ans Licht. So lebten ihre Anhänger in demütiger Furcht vor ihr, aber auch in begeisterter Hingabe an die Mächte des Bösen.

Die Äbtissin besaß das zweite Gesicht. Diese Visionen vergrößerten ihre Macht über ihre Anhänger und ihre Feinde. Früher war sie oft gereist, um ihre magischen Künste zu vervollkommnen und ihr Wissen über die Unterwelt zu mehren, doch seit ein Dämon ihr bei einer Beschwörung ein Bein ausgerissen hatte, hatte sie das Kloster nicht mehr verlassen. Seither saß sie auf ihrem Thron und gab von hier aus Anweisungen.

»Du kannst dich erheben, mein Kind.«

Die Novizin richtete sich auf. Sie war ebenfalls ganz in Schwarz gekleidet, nur das Amulett mit dem Abbild des Dämonen, den die Mutter Oberin für sie ausgewählt hatte, funkelte feuerrot zwischen den Falten des Stoffes.

»Womit kann ich Euch und dem Orden dienen?«, fragte das Mädchen gehorsam. Es stand aufrecht da, die Hände übereinander gelegt.

»Tonya, eine wichtige Aufgabe wartet auf dich. Ich habe es in meinen Träumen gesehen. Astorin, der große schwarze Magier, ist auf dem Weg, uns hier in unserer Einsamkeit der Sümpfe zu besuchen.«

Die Novizin versuchte, sich ihr Erstaunen nicht anmerken zu lassen. Sie verwunderte nicht nur, dass der Magier den beschwerlichen Weg auf sich nahm, um hierher zu kommen, denn durch ein Tor in der Astralebene konnte man nicht nach Morad kommen. Dafür hatte die Äbtissin gesorgt. Sie wollte keine ungeladenen Gäste, die plötzlich vor ihrem Tor auftauchten. Was Tonya noch viel mehr verblüffte, war die Frage, was sie, eine einfache Novizin, mit der Sache zu tun haben könnte. Nun, vielleicht sollte sie sicherstellen, dass für sein leibliches Wohl gesorgt wurde und die einfachen Schwestern ihn zuvorkommend bedienten.

»Ich habe dich ausgewählt, weil du zu den wenigen Menschen gehörst, die die Kraft durch ihr Erbe bereits in sich tragen. Schon bei deiner Geburt wurde das Band geknüpft, das dich mit den unteren Ebenen verbindet. Du hast die Macht, über Untote zu gebieten.«

Tonya wusste von ihrer Gabe, denn sie war der Grund, warum der Orden sie von ihrer Familie getrennt und hierher gebracht hatte. Ob ihre Eltern sie freiwillig hergegeben oder ob der Orden sich das Kind einfach geholt hatte, wusste sie nicht. Die Erinnerung an Eltern und Geschwister war längst verblasst. Tonya wartete stumm darauf, dass die Äbtissin weitersprach und ihr Anweisungen für die ihr zugedachte Aufgabe übertrug.

»Astorin wird nach Draka reisen, und du wirst ihn begleiten.«

Tonya wusste, dass sie unaufgefordert nicht sprechen durfte, und meist gelang es ihr, sich daran zu halten, doch in diesem Moment war das Erstaunen zu groß. Sie blickte auf.

»Draka? Ihr meint, ich werde den Grafen von Draka sehen?«

Die Äbtissin zog verärgert die dünnen Augenbrauen zusammen. Rasch senkte Tonya den Blick wieder. »Verzeiht«, murmelte sie.

»Das ist richtig. Du wirst den Grafen von Draka sehen, und du wirst an Astorins Seite gegen ihn kämpfen. «

Wieder sprudelten die Worte aus Tonya heraus, ehe sie ihnen Einhalt gebieten konnte. »Ich? Meine Ausbildung ist noch lange nicht abgeschlossen. Verzeiht, Mutter Oberin, Graf von Draka ist der mächtigste Vampir der Westlande, ja vermutlich aller Länder um das Thyrinnische Meer. Ich bin nicht stark genug, um es mit ihm aufzunehmen.«

»Schweig! Ich habe dich für diese Aufgabe ausgewählt, und du wirst sie zu Ehren des Ordens ausführen. Zweifelst du an meiner Urteilskraft?«

»Nein, Mutter Morad«, beeilte sich Tonya zu versichern und verneigte sich tief.

»Du wirst deinen Auftrag erfüllen, ich habe es gesehen. Wieder einmal wird der Moradorden eine große Tat vollbringen. Doch ich habe auch deinen Tod gesehen. Du wirst nicht lebend hierher zurückkehren, also verteile deine Habseligkeiten, bevor du gehst. Bis deine Aufgabe in Draka erfüllt ist, wirst du Astorins Befehlen Folge leisten und damit Morad dienen. Geh jetzt und bereite dich auf deine Reise vor. Astorin wird in den späten Abendstunden eintreffen.«

Mit einer Handbewegung entließ sie Tonya, die sich noch einmal verneigte und die Schuhspitze der Äbtissin küsste.

* * *

Tonya saß am Fenster und starrte in den kalten Nebel hinaus. Das Wasser gluckste und schmatzte, und ab und zu huschte ein Schatten zwischen den kahlen, toten Bäumen hindurch, denen der Sumpf das Leben ausgepresst hatte.

Die Novizin dachte über die Worte der Mutter Oberin nach. Sie war zwar von einem Ordensmitglied aufgezogen worden, nachdem man sie ihren Eltern genommen hatte, doch diente sie erst seit drei Jahren als Novizin und hatte die letzte Prüfung und die große Weihe noch vor sich. Warum bekam sie diese Aufgabe zugeteilt, die dem Orden Ruhm, bei Misslingen aber auch große Schande einbringen konnte? Musste sich die Äbtissin nach ihren Visionen richten? Anderseits: Wenn sie gesehen hatte, dass Tonya Erfolg haben würde, warum sollte sie dann das Leben eines wichtigeren Mitglieds riskieren?

Tonya schluckte. Sie würde ihre Aufgabe erfüllen, der Orden und Mutter Morad würden stolz auf sie sein, aber sie würde diesen Augenblick des Glücks nicht mehr erleben.

Sie hatte sich immer gewünscht, etwas Großes zu tun, sich bewähren zu können und dem Orden von Nutzen zu sein. War es nicht ihr Lebenssinn, sich für den Orden zu opfern? Warum nur schmeckten die Worte dann so bitter auf ihrer Zunge?

Ich habe deinen Tod gesehen. Du wirst nicht lebend hierher zurückkehren. Tonya zwinkerte, um die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. Sie versuchte, sich geehrt und stolz zu fühlen, aber es gelang ihr nicht. Sie fühlte sich nur einsam, kalt und voller Furcht.

Sie nahm draußen vor dem Fenster eine Bewegung wahr. Ein Hase! Wo der wohl hergekommen sein mochte? Er strampelte und rutschte über den zähen Morast. Tonya konnte seine Todesangst geradezu spüren. Endlich erreichte er den festen Untergrund der Insel und flüchtete sich in den Schutz eines Busches. Zitternd und erschöpft blieb er sitzen. Das nasse Fell klebte an seinem mageren Körper. Doch der Sumpf hatte seinen Untergang bereits beschlossen. Blasen stiegen im schlammigen Wasser auf und zerplatzten. Zwei mit Klauen besetzte Tentakeln durchbrachen die Oberfläche und wanden sich um die Mitte des kleinen Nagers. Das Tier stieß einen Schrei aus und zappelte kläglich, bis der Räuber ihn unter Wasser zog. Für ein paar Augenblicke schäumte der Sumpf auf, dann lag er wieder ruhig da. Träge schwappte die Brühe gegen das Ufer, der Nebel zog in dichten Schwaden dahin. Tonya hatte plötzlich das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.

Es war nur ein Hase, sagte sie sich, doch sie wusste, dass ihre Panik nichts mit seinem Tod zu tun hatte.

* * *

Astorin beendete die letzten Vorbereitungen für das Astraltor, das ihn bis zum Rand der Sümpfe bringen würde. Näher an das Kloster heran konnte er auf diese Weise nicht kommen, dafür hatte die Äbtissin schon vor langer Zeit gesorgt, und er verfluchte sie dafür. Für einen normalen Wanderer würde es drei Tagesreisen bedeuten, wenn er den Weg durch die tückischen Sümpfe überhaupt fand! Astorin beschloss jedoch, auf seinem untoten Ross zu reiten, das ihn in einem Bruchteil der Zeit sicher ans Ziel bringen würde – das hoffte er zumindest. Er war mit ihm noch nie durch einen Sumpf geritten. Den Tücken der Salzseen von Drysert war das Ross jedenfalls gewachsen gewesen.

Astorin zögerte, das Astraltor zu öffnen. Er überprüfte noch einmal seine Ausrüstung und ging die Komponenten durch, die er für die Schutzzauber gegen den Vampir brauchen würde. Er hatte nicht vor, ihm sein Blut zu geben oder – noch schlimmer – sich zu einem seiner untoten Sklaven machen zu lassen! Draka war ein Gegner, den man ernst nehmen musste. Und auch die Äbtissin war nicht zu unterschätzen! Die Macht der Dämonen, die sie zu beschwören imstande war, stellte selbst Astorins magische Kräfte in den Schatten.

Wie würde sie ihn empfangen, wenn er so unerwartet auftauchte und sie um Hilfe bat? Wie viel von seinen Plänen sollte er ihr offenbaren? Oder wusste sie bereits davon? Ihre hellseherischen Träume beunruhigten ihn. Man konnte sich bei ihr nie sicher sein, auf welche Seite sie sich schlug. Sie war nur sich selbst und ihrem Orden treu und tat nichts, was ihr keinen Vorteil versprach.

Nun gut, bald würde er es wissen. Er brachte seine Ausrüstung und die Feuerschale, die er für die Öffnung des Tores benötigte, in eine der Höhlen hinunter, in der sein untotes Reittier auf ihn wartete. Das schwarze Ross stand reglos da, als er zu ihm trat. Es schnaubte nicht, bewegte nicht einmal den Schweif oder die Ohren. Nur seine roten Augen beobachteten den Magier. Er legte ihm Zaumzeug an und warf den Sattel auf seinen Rücken. Die Gurte schloss er mit einem Fingerschnippen. Dann entzündete Astorin das magische Feuer und trat, das Pferd am Zügel, durch das Tor.

Auf der anderen Seite erwartete ihn eine hügelige Graslandschaft, die sich nach Süden und Osten ausdehnte. Nach Nordwesten dagegen begannen die Sümpfe. Der Wind wehte den fauligen Gestank in Schwaden heran. Raben stoben von einem toten Baum auf und erhoben sich krächzend in den Himmel. Astorin ritt ein Stück nach Westen, bis er die beiden ineinander verwundenen Bäume fand, die den Pfad zum Kloster markierten. Er machte sich nicht die Mühe, langsam zu reiten, um nach den versteckten Zeichen zu suchen. Er vertraute darauf, dass sein Reittier ihn nicht in den tückischen Morast führen würde. Und so flogen sie Stunde über Stunde dahin. Hinter giftigen Schwaden halb verborgen wanderte die Sonne über sie hinweg. Noch bevor sie den Horizont erreichte, sah er das Kloster in der Ferne sich vom Dunst scheiden. Bald darauf trafen die Hufe auf festen Boden. Astorin zügelte das Ross. Es wunderte den Magier kaum, dass das Tor bereits geöffnet war und zwei schwarz verhüllte Schwestern ihn mit einer tiefen Verneigung begrüßten.

»Mutter Morad erwartet Euch. Wie schön, dass Ihr so pünktlich seid, Meister Astorin«, sagte die eine.

»Wenn wir Euch bitten dürften, uns in die Halle zu folgen«, ergänzte die andere. Er konnte ihre Gesichter unter den weit vorgezogenen Kapuzen nicht erkennen. Lautlos gingen sie ihm voraus. Im Hof trat eine Novizin heran und übernahm die Zügel seines Pferdes. Astorin folgte den beiden schwarzen Kutten weiter, die vor ihm herglitten, bis sie die Halle erreichten. Dort teilten sie sich und stellten sich rechts und links des Thrones auf.

»Mutter Morad, wir bringen Euch Astorin, den schwarzen Magier.«

»Seid willkommen«, sagte sie und musterte ihn mit ihren stechenden Augen. Lange schwieg sie. Er fühlte sich immer unbehaglicher. Der Blick drang durch seine Kleider und seine Haut und bohrte sich bis in seine tiefsten Gedanken. Er war nahe daran, die Stille zu durchbrechen, als die Äbtissin endlich weitersprach.

»Ihr habt eine gute Nacht für Euren Besuch gewählt«, sagte sie, ohne den Blick abzuwenden. »Ihr werdet an unserer großen Beschwörung teilnehmen.« Es war keine Frage oder Bitte. »Es kehrt der Tag wieder, an dem wir die Dämonen der Finsternis mit unserem Opfer besänftigen.«

Astorin ahnte, was diese Worte zu bedeuten hatten. Eine seltsame Erregung gemischt mit Abscheu stieg in ihm auf. Er kannte keinen anderen Orden rings um das Thyrinnische Meer, der noch solch archaische Rituale vollzog, wie man sie vielleicht in den Zeiten vor dem Feuersturm praktiziert haben mochte. Der Abscheu gegen die Äbtissin und die ganze Schwesternschaft schmeckte bitter in seinem Mund. Ob er diesen Ort vernichten sollte, wenn er erst die Macht dazu hatte? Er sah ein Heer von Drachen, die ihren Feueratem vereinten und das ganze Kloster mit dem Orden in einem Inferno verglühen ließen. Schnell drängte er den Gedanken beiseite. Ihr Blick war noch immer auf ihn gerichtet. Eine Art Lächeln teilte nun ihre Lippen. Es hatte nichts Freundliches an sich. Hatte sie seine Gedanken gelesen? Eine Schweißperle bildete sich auf seiner Schläfe und rann in seinen Kragen hinab. Das Lächeln der Oberin wurde breiter und entblößte spitze Zähne, wie man sie sonst nur bei Raubtieren findet.

»Nach der Beschwörung werdet Ihr die Begleiterin sehen, die ich für Euch gewählt habe.«

»Begleiterin? Wie meint Ihr das?«

Ein Ausdruck von Ungeduld huschte über das faltige Gesicht. »Seid Ihr nicht gekommen, um unsere Hilfe für Euer Vorhaben zu erbitten? Ich werde Euch eine meiner Novizinnen nach Draka mitgeben.«

Wie viel wusste diese Frau? Die Äbtissin wurde ihm immer unheimlicher, und er fühlte sich seltsam gläsern. Astorin schluckte trocken. »Ich danke Euch, Mutter Morad«, presste er hervor.

Sie schien sich an seinem Unwohlsein zu weiden. »Ihr werdet sie ihrer Aufgabe gewachsen finden. Unterschätzt sie nicht! Und sie wird Euch eine Augenweide sein. Junges, zartes Fleisch, wohlgefällig anzusehen. Das ist es doch, wonach Euch der Sinn steht?«

Wieder wusste er nicht, was er antworten sollte. Es ärgerte ihn, dass er sich unter dem Blick dieses verhutzelten Weibleins wie ein Knabe vorkam, den man bei einer Unart erwischt hatte. Er hasste sie dafür und schwor sich, sie zu vernichten, wenn er erst die Möglichkeit hätte.

»Und nun geht. Die Schwestern werden Euch in Euer Quartier begleiten und Euch wieder abholen, wenn das Ritual beginnt.« Die Mutter Oberin entließ ihn mit einer nachlässigen Handbewegung.

Astorin nickte der Äbtissin knapp zu und wandte sich dann brüsk ab. Er konnte es nicht über sich bringen, sich vor dieser Frau zu verneigen. Er hatte es nicht nötig! Bald würde die ganze Welt nur noch vor ihm den Rücken beugen müssen!

Es war ihm, als hörte er ein kaltes Kichern hinter sich, das ihn durch die Gänge und in sein spartanisches Quartier begleitete.

* * *

Tonya legte das schwere schwarze Samtgewand an, das die Mitglieder des Ordens nur zu besonderen Anlässen trugen. Sie band sich das rote Amulett um und schob die Kapuze weit ins Gesicht. Durch die nur angelehnte Zellentür hörte sie das Rascheln der Gewänder der Schwestern, die sich bereits auf den Weg machten, um sich rechtzeitig in dem Gewölbe tief unter dem Kloster einzufinden, in dem die Mutter Oberin die großen Beschwörungen abhielt. Tonya schob die Hände in die weiten Ärmel, senkte den Blick und schloss sich dem Strom schwarz gewandeter Gestalten an. Im Gewölbe angekommen, stellte sie sich zu den anderen Novizinnen auf die linke Seite nahe der reliefgeschmückten Wand. Das große Tor fiel ins Schloss. Für einen Augenblick herrschte Stille, dann begannen die Trommeln zu schlagen. Eine Priesterin entzündete die vier Feuerschalen in den Ecken. Die Flammen loderten auf. Nun wurde Mutter Morad auf ihrem Sessel hereingetragen. Ein hagerer Mann folgte ihr und stellte sich neben sie, als die Schwestern die Äbtissin am Rand des Bannkreises sacht absetzten. Ein Wispern, kaum mehr als ein Hauch, ging durch die Reihen der Novizinnen. Tonya wagte es, den Kopf ein kleines Stück zu heben, so dass sie den Mann betrachten konnte. Das war also der schwarze Magier Astorin, der es mit Graf von Draka aufnehmen wollte. – Mit ihrer Hilfe! Sympathisch schien er ihr nicht, doch das hatte sie auch nicht erwartet, und darauf kam es auch nicht an.

Die Priesterin schritt an den Feuerschalen vorbei und ließ ein Pulver hineinrieseln, bis sich die Flammen grün verfärbten. Ein süßer Duft erfüllte das Gewölbe und verdrängte den Gestank des Moores, der selbst hier unten allgegenwärtig war. Der Trommelschlag beschleunigte sich. Die schwarzen Gestalten begannen, sich im Taktschlag zu wiegen, dann setzte der Gesang ein. Nebel begann aus dem Bannkreis aufzusteigen, der in der Mitte in den Fels gemeißelt war, Der von den zahlreichen Beschwörungen schwarz verfärbte Boden innerhalb des Kreises verschwand unter einer wabernden Masse, die nach allen Richtungen floss. Sie hüllte die Füße der Ordensmitglieder ein, sodass die schwarzen Gestalten zu schweben schieben. Der Schlag der Trommel wurde noch schneller. Über dem Gesang der Schwestern setzte die Beschwörung der Priesterin ein. Sie stand am Rand des Kreises. Ihre Stimme klang hart und zerschnitt wie eine Peitsche die Luft. Höher, immer höher schraubten sich die Töne, je schneller die Hände auf das Trommelfell schlugen. Der Nebel über dem Bannkreis begann sich zu drehen. Er wirbelte immer schneller und sog die Schwaden auch aus den entfernten Ecken zu sich heran. Nun färbten sich die Feuerschalen blutrot. Der Dämon, den die Priesterin gerufen hatte, war erschienen. Ihr Beschwörungslied brach ab. Langsam schieden sich die Konturen vom verblassenden Nebel. Tonya konnte ein narbiges Gesicht und einen gehörnten Schädel ausmachen, glühende Augen und einen kräftigen, dunklen Körper. Ein Schwanz peitschte unwillig mit einem knallenden Geräusch hin und her. Die Trommeln schwiegen.

Nun begann Mutter Morad zu sprechen. Es war eine Sprache, die Tonya nicht verstand, doch sie wusste, dass sie dem Dämon diesmal keinen Auftrag erteilte. Sie hatte ihn beschworen, um ihm für seine Dienste zu danken, ihn gütig zu stimmen und zu versöhnen. Denn auch wenn ihre Bannsprüche mächtig waren: Die Kräfte der Dämonen konnten ungeahnt wachsen, wenn sie sich in Hass und Zorn hineinsteigerten. Schon mancher Bannkreis war unter ihrem Toben zerbrochen.

Der Dämon musterte die alte Frau, der Schwanz zuckte noch immer unruhig. Er verschränkte abwartend die Arme vor der mit Hornplatten verstärkten Brust. Auf eine Handbewegung der Äbtissin hin begannen die Trommeln wieder zu schlagen und der Chor der Schwestern setzte ein. Der Geruch um sie wurde stechend. Das Tor öffnete sich, und eine weißgekleidete Gestalt trat ein. Tonya kannte sie.

Es war Lasenna, die zwei Jahre jünger als Tonya war und erst seit einem Jahr dem Orden diente. Sie war die Erwählte, die sich für den Orden opfern durfte. Früher hätte Tonya vielleicht so etwas wie Neid empfunden. Sie sang mit den anderen Schwestern die immer schneller werdende Tonfolge. Sie fühlte den Rausch, der sie wie immer bei den Beschwörungen umgab, doch die Sehnsucht, die sie so oft gespürt hatte, blieb aus. Ihr Verstand wurde von den Schwaden des verbrannten Pulvers umnebelt, und dennoch fragte sie sich zum ersten Mal, ob es nur die Droge in der Luft war, die sie hier alle dieses berauschende Glück empfinden ließ. Lasenna trat furchtlos an den Kreis heran. Sicher hatte sie ebenfalls die betäubenden Schwaden eingeatmet. Für einen Moment hielt der Trommelwirbel inne. Das junge Mädchen ließ das weiße Gewand zu Boden gleiten und stieg in den Kreis. Die Augen des Dämonen blitzten auf, als er seine Klauenhände um ihren Leib schloss. Als die Trommel wieder einsetzte, verschwanden die beiden Gestalten hinter den kreisenden Nebelschwaden. Die Priesterin erhob ihre schrille Stimme und begann, mit wiegendem Körper um den Kreis zu tanzen. Nach und nach schlossen sich die Schwestern an, bis der ganze Raum unter dem Gewölbe ein wogendes Meer schwarzer Gewänder war. Im Auge des Wirbels lag der leere Bannkreis, und an dessen Rand saß die beweglose Gestalt der Mutter Oberin. Der Magier stand neben ihr.

Tonya folgte dem ekstatischen Tanz. Ihr Körper führte die vorgeschriebenen Bewegungen der Freude aus, doch ihr Kopf brannte in quälendem Schmerz, und ihre Zunge schmeckte Bitterkeit. Dann war es vorbei. Die Tore wurden wieder geöffnet, und die Schwestern huschten in ihre Kammern zurück. Tonya blieb zögernd an der Tür stehen, und richtig: Eine der beiden Leibschwestern der Äbtissin trat zu ihr und gebot der Novizin, ihr zu folgen.

Die Oberin saß bereits wieder auf ihrem Thron, als Tonya eintrat. Neben ihr stand der fremde Magier.

»Das ist Tonya, Eure Begleiterin nach Draka«, stellte Mutter Morad sie vor. »Und das ist der Magier Astorin, mein Kind. Leg deine Kapuze und deinen Mantel ab, damit er dich betrachten kann.«

Tonya stieg das Blut in die Wangen, dennoch gehorchte sie. Der schwere Samtstoff glitt zu Boden. In ihrem einfachen grauen Untergewand stand sie stocksteif da und spürte den Blick, der über sie wanderte. Sie war es nicht mehr gewohnt, sich ohne Umhang und Kapuze vor anderen Menschen zu zeigen, geschweige denn solch prüfenden Blicken ausgesetzt zu sein. Trotzig hob sie die Wimpern und musterte ihren Reisegefährten ebenfalls. Hier in der mit Kerzen erhellten Halle konnte sie ihn klarer erkennen als unten im Feuerschein des Gewölbes. Und was sie sah, gefiel ihr noch weniger. Das hagere Gesicht mit der scharfen Nase und der ungesunden Haut, das fettige Haar, das ihm in dünnen Strähnen herabhing, und die noch dünneren Barthaare, die kaum das spitze Kinn verhüllten. Am unangenehmsten fand sie seine schwarzen Augen, in denen so viel Kälte wohnte. Sein Blick ähnelte dem der Mutter Oberin, stellte Tonya erstaunt fest. Sie vermied es, über die Gefühle nachzudenken, die sie der Äbtissin entgegenbrachte, den Magier aber, so entschied sie, würde sie verabscheuen.

Astorin dagegen nickte zufrieden, nachdem er die junge Frau in Augenschein genommen hatte. Auf einen Wink der Oberin hin hüllte sich Tonya rasch wieder in ihren Mantel und schob die Kapuze über den Kopf.

»Ihr werdet Euch nun zurückziehen und zu Bett gehen, damit Ihr in aller Frühe aufbrechen könnt«, sagte die Äbtissin. »Ich werde Proviant und ein paar Dinge bereitlegen lassen, die Euch nützlich sein werden.«

Tonya sah den Ärger in Astorins Augen aufblitzen. Selbst wenn er vorgehabt hatte, nun zu schlafen und im Morgengrauen zu reisen, so gefiel es ihm nicht, dass die Oberin es so bestimmte, ohne nach seinen Wünschen zu fragen. Nur widerwillig nickte er der Äbtissin zu und ließ sich dann hinausbegleiten. Sein Zorn umgab ihn wie eine unsichtbare Wolke.

Tonya unterdrückte ein Lächeln, verneigte sich tief, küsste die Schuhspitze der Oberin und huschte dann zu ihrer Zelle zurück, um die letzte Nacht auf ihrem schmalen Lager zu verbringen, das ihr so vertraut geworden war. Wie sie erwartet hatte, fand sie keinen Schlaf. Ihre wenigen Habseligkeiten, die sie mitnehmen wollte, hatte sie bereits gepackt, den Rest an zwei Novizinnen verschenkt, die die einzigen Menschen des Ordens waren, in deren Gegenwart sie ein wenig Wärme verspürt hatte. Nun lag Tonya mit offenen Augen unter der dünnen, kratzigen Decke und lauschte den nächtlichen Geräuschen des Moores. Roch den modrigen Dampf, der durch das Fenster hereinwehte. Bald schon würde der Morgen grauen und sie sich zu ihrer letzten Reise erheben.

Würde sie sogar den fauligen Gestank dieses Ortes vermissen, den sie immer verabscheut hatte? Ihr war, als würde sie zum zweiten Mal ihr Zuhause verlassen. Seltsam, solange sie an diesem Ort gelebt hatte, hatte er sich nie nach einem Zuhause angefühlt.

Das Drachentor

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