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KAPITEL 9

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Die Tage wurden länger. Der März überzog den braunen Waldboden mit einem weißen Blütenteppich. An den Wegrändern blinzelten Veilchen aus dem zarten Frühlingsgrün. Unerbittlich rückte der Tag der Abreise heran. Tilia packte ihre wenigen Habseligkeiten in zwei kleine Truhen: drei bodenlange Hemden, zwei warme Wollröcke und ein leichter aus feinem, hellgrauem Barchent, warme Beinlinge, die fellgefütterten Winterstiefel, ein paar Schleiertücher für die heilige Messe und den warmen Tasselmantel. Ganz nach oben legte sie sorgsam ihr einziges farbiges Festtagsgewand: einen Bliaud aus grüner Seide, den man an beiden Seiten straff schnüren konnte. Tilia besaß zwei Paar weite Ärmel, dazu einen goldbestickten Gürtel. Den leichten Wollmantel und die Schlupfschuhe mit der Spange am Fußspann würde sie auf der Reise tragen. Ein kleines Bildchen von der Jungfrau Maria und ein perlenbesticktes Schappel waren die einzigen Kostbarkeiten, die sie besaß – abgesehen von dem goldenen Kreuz aus dem Waldecker Beutegut. Für Dorothea nähte Tilia zwei neue Hemden und ihre ersten langen Röcke. Gret, Rüdger und Sofie brauchten nur zwei leinene Beutel auf dem Rücken, um ihre Besitztümer zu verstauen.

Tilia konnte in ihrer letzten Nacht auf Wehrstein nicht schlafen, und auch das Kind in ihren Armen schien unruhiger als sonst. Schon im Morgengrauen weckte sie Dorothea und kleidete sie in die ungewohnt langen Gewänder, legte ihr den Mantel um und stülpte dem Kind eine Gugel über den Kopf. Noch war der Morgen kalt.

Heinrich von Husen sattelte im Hof bereits die Pferde. Der noch bartlose Jüngling, der, im Gegensatz zu seinem Bruder, den Ritterschlag noch nicht empfangen hatte, war stolz und aufgeregt, dass er die Frauen zu den Zollern bringen sollte. Sicher reiste auch Rüdger zum Schutz mit. Der konnte ganz gut mit seinem Hammer umgehen, doch er selbst war der Sohn eines Ritters, hatte ein Schwert an seiner Seite und die Pflicht, die Töchter des Hausherrn vor allerlei Gesindel und vor den wilden Tieren des Waldes zu beschützen. Er war hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, es möge unterwegs etwas ganz Aufregendes passieren, und der Angst, dass er dann nicht richtig reagieren könnte, dass er versagen und besiegt und verletzt im Straßenstaub sterben würde. Vielleicht würde ihn das Fräulein Tilia dann auf den Mund küssen. Die Erfüllung seiner Träume, bevor der schwarze Tod ihn mit sich nahm. Nein, er schüttelte heftig die braunen Locken. Sie wird mich nicht küssen, wenn ich gegen Wölfe, Bären und Banditen versage – es sei denn, ich habe sie alle erschlagen, bevor ich sterbe. Er zog den Sattelgurt von Tilias schwarzer Stute fest.

Am besten ist es, wenn ich die räudigen Angreifer in Stücke haue und so die Damen aus der Gefahr rette. Kein Haar soll ihnen gekrümmt werden. Dann wird das Fräulein Tilia mich huldvoll anlächeln und mir einen Kuss schenken, vielleicht auch ein Schleiertuch, das ich an meinem Herzen tragen kann, wenn ich mich für immer nach ihr verzehre, denn um ihre Hand zu bitten, wird mir nie vergönnt sein. Zu groß ist der Unterschied zwischen unseren Familien. Er seufzte tief, wollte die tragische Szene in Gedanken noch ein wenig genießen, doch immer wieder schob sich das scheußliche Bild seines sterbenden Oheims vor sein geistiges Auge. Das Stöhnen und die schwärenden, stinkenden Wunden wollten nicht so recht in das romantische Traumbild passen.

Ein kräftiger Schlag auf die Schulter riss ihn endgültig aus seinen Träumen.

»He, junger Held, von welcher Schönen träumt Ihr denn?« Rüdger grinste den Jüngling frech an. »Ihr habt ja den Sattel falsch herum aufgelegt!«

Wütend über seinen Fehler und beschämt, von einem Knecht darauf aufmerksam gemacht werden zu müssen, fuhr er den Schmied an: »Wenn du dich nicht so lange faul im Heu herumgetrieben hättest, dann müsste ich nicht deine Arbeit übernehmen. Man sollte dir eine Tracht Prügel verabreichen, unverschämter Kerl.«

»Nun, nun«, grinste Rüdger und griff nach dem Sattel, »der Herr Ritter hat wohl heute Morgen sein Lager mit dem falschen Fuß verlassen. Ich hoffe, er wird sein Lachen bald wiederfinden.«

Heinrich war schon fast versöhnt, doch die spöttische Betonung des Wortes »Ritter« traf ihn tief. Wie oft schon hatte er seine Jugend verflucht. So drehte er sich wortlos um und stapfte davon, sein Bündel zu holen.

Die kleine Schwester fest an der Hand, klopfte Tilia zaghaft an die Tür zur Kemenate. Sie zögerte eine Weile – wie erwartet kam keine Antwort –, daher trat sie ein. Trotz der frühen Stunde saß die Mutter angekleidet in ihrem Lehnstuhl und stickte. Sie hob nicht einmal den Blick, um zu sehen, wer hereinkam.

Schweigend blieben die Töchter in der offenen Tür stehen. Tilia betrachtete die zierliche Frau, die ihre Mutter war. Alt war sie geworden, die flinken Hände knochig. Straff umspannte das Gebende das farblose, faltige Gesicht, um dessen Mund sich tiefe Linien des Kummers eingegraben hatten. Erstaunt dachte Tilia: Ich kenne diese Frau gar nicht. Mein Leben lang habe ich sie jeden Tag gesehen, und doch ist sie mir fremd.

»Mutter, wir reisen ab«, sagte sie mit fester Stimme. Die Schwester mit sich ziehend, trat sie näher. Ob die Mutter sie überhaupt gehört hatte? »Mutter, ich weiß nicht, wann wir uns wiedersehen – ob Ihr Dorothea überhaupt wiedersehen werdet. Bitte, wollt Ihr uns nicht Euren Segen geben?«

Sehnsüchtiges Flehen lag in ihrer Stimme. Sie dachte schon, die Mutter habe sie immer noch nicht bemerkt, als die Hände Nadel und Faden sinken ließen. Tilia sah in die braunen Augen. War es Schmerz? War es Trauer in diesem tiefen Blick, der sie zu verschlingen drohte?

»Wir möchten Lebewohl sagen. Bitte gebt uns Euren Segen und wünscht uns alles Gute.«

Die Mutter sah sie noch einen Augenblick an, dann senkten sich die Lider. Kaum merklich schüttelte sie den Kopf.

Mit schwerem Herzen wandte sich Tilia zur Tür. Als sie sie leise hinter sich schloss, erklang plötzlich der Aufschrei wie von einer Ertrinkenden, durchdringend, gellend, wie in Todesangst.

»Tilia, geh nicht!«

Das Mädchen stürzte zurück ins Zimmer. Das Stickzeug lag achtlos am Boden, die Mutter stand da, mit Tränen in den Augen, die Arme suchend von sich gestreckt.

Tilia ließ sich an die knochige Brust drücken. Tränen tropften in der Tochter Haar. Die Mutter bebte am ganzen Leib.

»Mein Kind, mein Kind, du darfst mich nicht verlassen. Wie soll ich denn hier weiterleben? Ich habe nichts mehr. Gar nichts mehr hat Gott mir gelassen. Sag mir, welche Sünden habe ich begangen, dass er mich so vergessen hat?«

Sanft drückte Tilia die Mutter in ihren Sessel zurück. Wie viele Jahre hatte sie einfach so verschenkt, in ihrem Zimmer von der Welt entrückt? All die häuslichen Bürden und die Erziehung der kleinen Schwester ohne ein Wort der Hilfe auf Tilias Schultern gelegt. Nun war es zu spät, das Versäumte nachzuholen. Wie sollte sie der Mutter in diesem Augenblick Trost und Hoffnung schenken?

»Ihr solltet in ein Kloster gehen. Dort wärt Ihr gut versorgt«, sagte sie leise, obwohl sie wusste, dass der Vater das Geld dafür nicht aufbringen würde. Sanft küsste sie die Mutter auf die schlaffen Wangen.

»Ich werde für Eure Seele und Euren Frieden beten. Lebt wohl.«

Dann ging sie hinaus und schloss die Tür. Sie nahm Dorothea wieder an die Hand und stieg mit ihr die Treppe hinunter. Das verzweifelte Schluchzen hinter der Kemenatentür folgte ihnen nach. Dorothea sah fragend zu Tilia auf.

»Die Mutter ist traurig, dass wir wegreiten. Wir gehen nun in den Hof, um dem Vater Lebewohl zu sagen«, erklärte die ältere Schwester.

Das kleine Mädchen zuckte die Schultern. »Aber wir kommen doch bald wieder heim.«

»Nein, Dorothea, Liebes, du wirst nicht mehr heimkommen. Du wirst in einem großen Haus leben, mit vielen netten Frauen, die sich um dich kümmern.«

»Aber du und Gret und Sofie, ihr werdet doch da sein, oder?«

Die großen, weit aufgerissenen Kinderaugen sahen voll ängstlicher Erwartung zu ihr hoch. Tilia brachte es nicht übers Herz, dem Kind die Wahrheit zu sagen. So murmelte sie nur:

»Wir müssen uns beeilen, der Vater wartet.«

Auch der Vater war schon seit aller Früh auf. Er wollte mit Gebhard von Husen auf die Jagd reiten. Schon seit langem drängte es ihn, den neuen Falken auszuprobieren. Den ganzen Winter über hatte er mit ihm trainiert. Nun würde es sich zeigen, ob er draußen in der freien Natur zu seinem Herrn zurückkehren würde. Die Pferde schnaubten nervös und scharrten mit den Füßen. Hildebolt von Wehrstein sah ungeduldig zum Palas hinüber, doch noch immer waren die Mädchen nicht zu sehen.

»Reiten wir los, die Pferde werden kalt«, befahl er und gab seinem Ross die Sporen. Verwundert sah der Ritter von Husen seinen Herrn auf das Tor zureiten. Gebhard winkte seinem jüngeren Bruder noch einmal zum Abschied zu, dann jagte er dem Wehrsteiner nach. Er hatte das Tor noch nicht erreicht, als die Mädchen aus der Tür traten. Wie erstarrt blieb Tilia stehen, als sie den Vater durch das Tor verschwinden sah. Sie konnte es nicht glauben, dass er so einfach ohne Gruß aus ihrem Leben verschwand.

»Herr, Herr«, rief Gebhard und spornte sein Pferd an. Hildebolt von Wehrstein zügelte sein Ross.

»Was ist?«

»Wollt Ihr nicht erst Abschied nehmen?« Er nickte in Richtung Hof, auf dem die Töchter des Wehrsteiners standen. Klein, einsam und verloren wirkten sie in den Augen des jüngeren Ritters.

Der Wehrsteiner zögerte einen Moment lang, dann sagte er barsch: »Wartet hier auf mich, ich bin gleich wieder zurück.« Und damit sprengte er in den Hof zurück.

Eine Staubwolke aufwirbelnd, brachte er sein Pferd vor den Mädchen zum Stehen. Tilia sah zu ihm auf. Ihre Blicke trafen sich. Schwer legte er seine behandschuhte Hand auf ihre Schulter.

»Tilia, mein Kind, ich zähle auf dich«, sagte er mit fester Stimme.

»Bring die Kleine sicher nach Stetten und übergib sie den Nonnen – und mach du mir auf Zollern keine Schande. Du entstammst einer edlen Familie, den Grafen ebenbürtig. Denke daran, bei allem, was du tust.«

Tilia löste das goldene Kreuz von ihrer Brust und legte es dem Vater in die Hand.

»Nehmt es so lange, bis wir uns wiedersehen. Gottes Segen mit Euch, Vater.«

»Gottes Segen sei mit dir, mein Kind«, presste der Ritter hervor, dann jagte er davon, ohne sich noch einmal umzusehen.

Von Burg Wehrstein aus folgten sie den steilen, tief gefurchten Karrenspuren zur Ebene im Osten hoch, vorbei am Hof des Ritters. Die Mägde und Knechte auf den Feldern winkten ihnen zu. Noch einmal warf Tilia einen Blick zurück in die tief eingeschnittenen Täler des Neckars und des Mühlbachs, ließ die Augen über die sanft geschwungenen Hügel der Hochebene wandern, die sich in der Frühlingssonne wieder ihr saftig grünes Kleid woben. Im Sommer würde der Wind durch die Kornfelder streichen, Kornblumen und Mohn zwischen den Ähren leuchten, doch sie würde es nicht sehen. Na und, würde Gret jetzt schulterzuckend sagen. Glaubst du, die Felder der Zollern sind anders? Tilia musste lächeln und trieb ihr Pferd an, die anderen wieder einzuholen.

Zwischen den dornigen Hecken, die die Bauern um die Felder gelegt hatten, um die frische Saat zu schützen, ritten sie langsam über die Hochebene nach Osten. Voran der Edelknabe auf einem lebhaften Braunen, dann Tilia mit Dorothea auf ihrer schwarzen Stute, hinter ihr Gret mit Sofie auf einem Maultier. Ein weiteres, beladen mit den beiden Kisten, führte die Magd an einem Strick. Den Schluss bildete Rüdger auf einem gutmütigen alten Gaul, der sonst half, den Karren zu ziehen, nun aber dafür zu schwach wurde.

Sie kamen nur langsam voran, und bereits in Empfingen heulten die Mädchen, dass der Durst sie quäle. So hielten sie am Meierhof an. Die Mädchen tranken frische Milch und spielten mit den halbwüchsigen Kätzchen.

»Wir kommen nicht so recht vorwärts«, murrte Heinrich, als er zur Sonne hochsah. »Wir werden es nicht vor der Dunkelheit schaffen. Vielleicht kommen wir wenigstens bis Hechingen. Dort könnten wir sicher ein angemessenes Lager bei dem Herrn Cuno finden.« Nervös sah er Tilia an.

»Wir werden heute nur bis Haigerloch reiten«, sagte Tilia bestimmt. Gret und Rüdger rissen erstaunt die Augen auf. Der Junge von Husen jedoch nickte langsam.

»Ihr wollt die Nacht beim Hohenberger verbringen?«

»Ja, warum denn nicht? Ist er nicht unser Lehensherr?«, verteidigte sich Tilia.

Heinrich wiegte den Kopf hin und her. Ein Hauch von einem Lächeln lag in seinem Blick. »Vielleicht habt Ihr Recht. Wir sind nicht im Krieg, und die Fehde ruht. Es gibt keinen Grund, den Hohenberger zu meiden.«

»Gut, dann ist das abgemacht«, sagte Tilia fest und ließ sich in den Sattel heben.

Ob das der Vater sich so gedacht hat?, fragte sich Gret, als sie Sofie wieder auf das Grautier setzte. So ganz war sie mit Tilias Entscheidung nicht einverstanden, doch vor den Männern wagte sie nicht, sie darauf anzusprechen.

Langsam ritten sie weiter. Hinter Empfingen lagen noch ein paar Felder, dann führte der Pfad in den dichten Wald. Im Sommer musste es hier recht dunkel sein, doch nun zeigten die hohen Buchen erst einen Hauch von lichtem Grün. Die Sonne malte Kringel auf den weichen Waldboden, die Vögel sangen fröhlich ihr Lied. Dennoch legte Heinrich seine Hand an den Schwertgriff und suchte ständig das Unterholz nach einer verdächtigen Bewegung ab. Jedes Rascheln eines flüchtenden Tieres ließ ihn unmerklich zusammenzucken.

Tilia beobachtete den angehenden jungen Ritter und lächelte in sich hinein. Voller Stolz und mit kindlichem Ernst nahm er seine Aufgabe wahr. Dafür hatte er im Burghof so manche schmerzhafte Lektion mit dem Übungsschwert hinter sich gebracht. Er war sicher kein schlechter Kämpfer, doch für den Ernstfall noch völlig unerfahren. Und Rüdger auf seiner Klappermähre war nur mit dem kurzen Hammer bewaffnet. Tilia warf Grets Ehemann einen verstohlenen Blick zu. Nein, sie konnte wirklich nur beten, dass alle Strolche und heruntergekommenen Ritter heute einen anderen Weg wählen würden. Auch wenn offiziell Frieden herrschte, zürnte Tilia dem Vater, seine beiden Töchter ohne richtigen Schutz auf diese Reise geschickt zu haben.

Als der Wald sich lichtete und die ersten Wiesen der Haigerlocher den Schritt der Hufe dämpften, hielten sie an. Die Mädchen mussten sich erleichtern und hatten das Stillsitzen bereits satt. Tilia ließ sich auf den Stumpf eines knorrigen Apfelbaumes sinken und sah den Mädchen zu, die kreischend vor Vergnügen durch die Wiese rannten. Heinrich schlenderte heran und kickte unbeholfen ein paar Steine weg, ehe er den Mut fand, sie anzusprechen.

»Seht, Fräulein Tilia, wenn Ihr Eure Augen anstrengt, dann könnt Ihr die Burg der Zollern bereits im Dunst erkennen.«

Tilia beschirmte ihre Augen. Im Südosten zeichneten sich in hellem Grau die steilen bewaldeten Hänge ab, die in einer lang gezogenen, scharfen Kante mit der Albhochfläche gegen den Himmel abschlossen. Dort, wo sie im Osten in einer Bucht zurückwich, erhob sich im Dunst ein kegelförmiger Berg: der Zoller. Tilia war es, als könne sie den Bergfried und die Mauertürme erkennen. Dort also lag ihre neue Heimat. Sie waren erst einige Stunden geritten, und doch war dies ein Ausblick, den sie zum ersten Mal in ihrem Leben sah.

Morgen ist es immer noch früh genug, die Feste der Zollern in Augenschein zu nehmen, sagte sie sich, und außerdem war sie neugierig auf die wehrhafte Stadt Haigerloch mit ihren beiden Burgen, von denen sie schon so viel gehört hatte – und auf Graf Albert. War es nicht wunderbar, an die Orte der Erzählungen langer Winternächte zu reisen? Den großen Minnesänger selbst zu sehen? – Wenn er überhaupt in Haigerloch weilte und nicht auf seiner Burg in Rottenburg oder anderswo. Tilia drängte zum Aufbruch.

Nur wenige Meilen weiter südlich, dort wo der Weg durch die Eyachfurt die Hochebene wieder erklommen hat, lagen seit den frühen Morgenstunden zwei Männer zusammengekauert in dichtem Buschwerk verborgen. Sie trugen zerfetzte Kittel und Fellumhänge. Auch um ihre Füße hatten sie sich Fellstücke gebunden. Ihre Bündel enthielten nur ein paar Lumpen und den Rest eines Hasen, den sie gestern erbeutet hatten. Nun warteten sie seit Stunden auf größere Beute. Sie hatten diesen Platz sorgsam ausgewählt. Der Pfad sollte nicht zu selten, aber auch nicht zu häufig beritten werden. Auch durften es nicht mehr als zwei Männer oder ein Ritter sein, denn die beiden hatten nur ihre Keulen, auch wenn die eine mit zahlreichen Metallspitzen besetzt war.

Der jüngere der beiden Strauchdiebe war vielleicht zwanzig Jahre alt, doch der dichte Bart, hinter dem sich sein Gesicht verbarg, ließ ihn älter aussehen. Geschickt hatte er ein kräftiges Seil an einen Baum gegenüber gebunden, es über den Weg gelegt und ein wenig mit Laub bedeckt. Das andere Ende hielt er fest in seinen schmutzigen Händen.

»Lass dich nicht von dem Pferd umreißen, Bert«, mahnte der Ältere, der bestimmt schon ein halbes Jahrhundert an Erfahrung auf dem Buckel hatte.

»Ich wickle das Seil um diesen Stumpf, dann kann ich es leicht halten. Ich mach das doch nicht zum ersten Mal!« Die grauen Augen blitzten wütend.

Der Alte ließ ein paar verfaulte Zahnstummel sehen. »Musst dich nicht gleich aufregen, junger Heißsporn.« Er wollte noch etwas hinzufügen, doch sein Begleiter brachte ihn mit einer heftigen Handbewegung zum Schweigen. Nun hörte auch der Alte den sich nähernden Hufschlag. Nervös strich er sich das verfilzte Haar aus der Stirn.

»Es ist nur einer, und er hat es sichtlich eilig«, wisperte er und umklammerte seine Keule fester. »Pass auf, dass das Pferd nicht draufgeht.«

»Wie denn das? Wenn es fällt, dann fällt es. Jetzt halt endlich die Klappe!«

Kaum einen Augenblick später kam der Reiter in Sicht. Er trug einen Kettenpanzer, das Schwert hing an seiner Seite, das Gesicht blieb unter dem Helm verborgen. Kein Wappen verriet, woher er kam. Noch zwei Hufschläge, dann zog der Strauchdieb das Seil an und wickelte es blitzschnell um den Baumstumpf. Der Reiter sah die Bewegung, doch es war schon zu spät, das Pferd zu zügeln. Der schnelle Galopp fand ein jähes Ende. Die Vorderbeine des Pferdes knickten ein, und es überschlug sich zweimal. Der Reiter versuchte abzuspringen, blieb jedoch mit dem linken Sporendorn im Steigbügel hängen. Die Welt drehte sich um ihn, er spürte einen dumpfen Schlag auf dem Rücken, dann auf der Seite. Sein Helm löste sich und flog durch die Luft. Endlich riss der Sporn, und der Reiter schlug neben dem Pferd hart auf dem Boden auf.

Benommen versuchte er, sich aufzurichten, tastete nach dem Schwert an seiner Seite, doch bevor er dieses aus der Scheide ziehen konnte, krachte ihm ein hölzerner Prügel mit Wucht auf den Schädel. Der Reiter fiel auf den Rücken. Wie ein dicker Käfer lag er da, Schwertarm und Schwert hoffnungslos im eigenen Mantel verheddert. Die freie Hand griff nach dem Dolch in seinem Gürtel, doch er wusste, dass er verloren hatte. Ein bärtiger Kerl tauchte in seinem Blickfeld auf, dann sauste die nagelbewehrte Keule in sein ungeschütztes Gesicht. Der Schmerz schlug wie eine Welle über ihm zusammen, war so gewaltig, wie er es in seinen schlimmsten Träumen sich nicht hatte vorstellen können. Er konnte nichts mehr sehen. Konnte sich nicht mehr rühren. Der nächste Schlag war so heftig, dass sein Schädel barst und die langen Dornen bis ins Gehirn eindrangen. Völlig ungerührt blickte der Strauchdieb auf das übel zugerichtete Opfer hinunter.

»Mal sehen, was wir so alles finden.« Sorgsam begann er den Toten zu entkleiden. »Allein die warmen Wollsachen sind es wert«, murmelte er zufrieden.

Der Alte ging nach dem Pferd sehen. Wie erwartet hatte es sich die Vorderläufe gebrochen. Mit einem flinken Messerschnitt schlitzte der Mann ihm die Kehle auf. Dann machte er sich daran, den Sattel zu untersuchen.

»Eine Wolldecke, ein Beutel mit Hellerstücken – und Lederstiefel!«, zählte er entzückt auf.

»Lass die Stiefel und komm her, ich habe etwas viel Wichtigeres!«, rief Bert den Alten heran. Triumphierend schwenkte er einen versiegelten Brief.

»Ein Brief, ja und«, murrte der Alte und nahm noch den Proviantbeutel des Reiters an sich. »Wird wohl an seine Liebste geschrieben haben. Was sollen wir damit?«

»Sieh dir das Siegel an. Sagt dir das etwas?«

Der Alte zuckte die Schultern. »Ja schon, aber wir können doch eh nicht lesen, was darin steht.«

Bert tippte sich an die Stirn. »Aber wir können unseren Verstand gebrauchen. Ein Reiter ohne Wappen, der es sehr eilig hat, und ein versiegelter Brief des Grafen. Na, was sagt dir das?«

Der Alte schien schwer von Begriff zu sein.

»Der Brief wird einem hohen Herrn einen klingenden Beutel wert sein!«

»Aber du weißt ja gar nicht, an wen er gerichtet ist.«

Der junge Strauchdieb lachte spöttisch. »Muss ich auch nicht, oder glaubst du etwa, ich möchte ihn dem rechtmäßigen Herrn bringen, du Tor? Auf, auf, pack dein Bündel, wir gehen nach Haigerloch!«

Während sie alles Brauchbare zusammenrafften und verschnürten, murrte der Alte unentwegt: »Du bist von Sinnen. Aufknüpfen werden sie dich, wenn du dich in der Stadt blicken lässt. Ich will noch keine Schlinge um den Hals. Mach, was du willst, aber ich werde nicht mitkommen!«

Für das Abendessen schnitt er noch ein paar dicke Fleischstücke aus den Pferdelenden, dann zogen die beiden sich in dichtes Gebüsch zurück und wanderten ins Eyachtal hinunter. Die nackten Leichen von Herr und Pferd ließen sie auf dem Weg liegen.

Die Herrin der Burg

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