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KAPITEL 2

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Wir haben einen neuen König!«, rief der Bote, als er über die hölzerne Zugbrücke donnerte. Neugierig schwatzend strömten die Wehrsteiner in den Saal und scharten sich um den Mann, der die Nachricht in alle Lande trug.

»Fast zwanzig Jahre herrschten Kriegswirren und Fehdengewühl, heißer Zorn und wilde Gier. Die Dörfer sind verwüstet, Felder liegen brach, die Bauern und die Herren hungern«, begann er seine ausschweifende Rede, nahm dankbar den Becher entgegen, den die Hausherrin ihm reichte, stieg auf die Bank, um mit seiner Stimme auch alle zu erreichen, und fuhr dann mit seiner Geschichte fort.

»Die Herren suchen die Juden auf. Keiner hat Geld in seinen Truhen. Immer lauter erschallten die Stimmen durch das Reich. Ein König muss her, das Land zu befrieden!«

Er machte eine Pause, ohne das ungeduldige Scharren und Räuspern seiner Zuhörer zu beachten. Wie einer der reisenden Geschichtenerzähler beugte er sich vor, ließ den Blick über die Ritter, Edelknechte und das Gesinde schweifen und senkte dann seine Stimme.

»Doch wer sollte es sein? Der mächtige König Ottokar der Zweite von Böhmen? Der war den Herren Kurfürsten nicht so recht geheuer. König Philipp der Zweite aus Frankreich? Ein Franzose schon gar nicht!« Wieder hielt er inne und trank genüsslich seinen Becher leer.

»In Frankfurt oben saßen unsere mächtigen Fürsten des Reiches zusammen, die Erzbischöfe aus Mainz, Köln und Trier, der Pfalzgraf bei Rhein, der Herzog von Sachsen und der Markgraf von Brandenburg. Anstelle des mächtigen Ottokar von Böhmen haben sie den Bayernherzog noch dazugeladen.«

Erneut machte er eine Pause, ließ sich den Becher wieder füllen, trank ausgiebig, rülpste und fuhr dann fort:

»Ein König muss her, stark muss er sein, doch auch nicht zu stark, denn keiner will die mühsam erkämpften Ländereien und das eilig zusammengeraffte Krongut wieder herausgeben.«

»Wer ist denn nun unser neuer König?«, unterbrach ihn eine helle Kinderstimme ungehalten. Tilia stampfte mit dem Fuß auf die Erde. Der Bote lachte, bückte sich hinab und strich ihr über das Blondhaar.

»Es steht einer Jungfrau nicht an, so ungeduldig zu sein und einen Mann zu unterbrechen, kleines Ritterfräulein, doch ich werde es dir verraten: Ihre Wahl fiel auf den Landgrafen Rudolf von Habsburg. Er ist kein Schwächling und scheint dennoch genug Respekt vor den mächtigen Herzögen und Bischöfen zu haben.«

»Rudolf von Habsburg? Den kenne ich nicht«, sagte das Mädchen enttäuscht und wandte sich wieder ihrer Puppe zu.

»So reiste der Burggraf von Nürnberg nach Basel, wo unser König, nichts von der ihm angetragenen Ehre wissend, sich mit dem treuebrüchigen Bischof schlug. Der Bischof von Basel ist zwar eigensinnig, aber nicht dumm. Zähneknirschend hat er dem Habsburger Frieden angeboten. Und so zieht König Rudolf der Erste von Habsburg nun durch das Schwabenland und dann nach Aachen, um die Krone entgegenzunehmen.«

»Wo ist er denn jetzt, der neue König?«, mischte sich Tilia noch einmal ein.

»Nun, im Moment ist er sicher in Haigerloch bei seinem Schwager Albert von Hohenberg. Vielleicht werden dort gerade Ochsen und Hühner, Schweine und Gänse für ein herrliches Festmahl geschlachtet.« Der Bote schnalzte mit der Zunge.

Die Hausherrin verstand den Wink, lud den Gast ein, zu bleiben, und versprach, bis zum Dunkelwerden ein feines Mahl auf den Tisch zu bringen.

Am anderen Tag, als der Bote bereits weitergeritten war, rief Sibylla von Wehrstein ihre Zweitgeborene zu sich in die Kemenate und gebot ihr, sich auf die große Kleidertruhe zu setzen. Bedächtig fädelte die Edelfrau einen grünen Seidenfaden ein, während Tilia ungeduldig auf dem polierten Holz hin und her rutschte. Gret wartete draußen. Sie wollten nach Brombeeren suchen und sehen, ob das Eichhorn wieder auf dem Nussbaum saß. Doch die Mutter ließ sich Zeit, betrachtete ihre Tochter im braunen, knielangen Kittel, mit dem schmutzigen Gesicht und den zerzausten blonden Zöpfen. Dann endlich senkte sich ihr Blick wieder auf die Stickerei, und sie begann zu sprechen.

»Ich habe dich lange gewähren lassen, mein Kind. Du hast die Freiheit genossen, doch nun bist du alt genug, die Dinge zu lernen, die eine Frau können muss. Dein Vater hat dich fürs Kloster bestimmt. Für erbauliche Psalmen und heilige Gesänge ist der Pater zuständig. Von mir jedoch wirst du lernen, deine Hände zu gebrauchen. Die Nonnen werden dankbar sein, wenn du einen Schleier wohl zu säumen oder ein Altartuch zu besticken weißt.« Sie sah ihre Tochter scharf an, ob diese auch den Ausführungen lauschte. Das Kind faltete rasch die Hände, die bisher eifrig den geschnitzten Verzierungen an den Rändern der Truhe nachgefahren waren, und sah die Mutter aus großen, blauen Augen an.

»Dein Platz ist nun hier bei mir – und manche Stunde auch bei Pater Seifried. Du wirst nicht mehr durch die Wälder streichen oder dich bei den Wachen herumtreiben.«

»Aber was ist mit Gret? Ich muss doch zu ihr und muss in die Küche und aufs Feld zu Hailwig«, wagte das Mädchen einzuwenden.

»Sie werden nicht mehr da sein.« Die Mutter ließ das Stickzeug sinken. »Dein Vater hat sie und ein paar andere Mägde und Knechte an die Mönche von Kirchberg verkauft. Sie werden für das Kloster auf einem Gut in Isenburg arbeiten.«

Der Kindermund öffnete sich zu einem tonlosen O. Hinter der gekrausten Stirn schien es zu arbeiten, dann krampften sich die kleinen Hände um die Schnitzereien, als sie verstand. »Sie werden für immer weggehen?« Tränen schossen ihr in die Augen. »Aber das geht nicht, weil – weil …« Sie schluchzte auf.

Sibylla seufzte, legte ihr Stickzeug sorgfältig zusammen, erhob sich und schritt hinüber zur Truhe. Sie zog das Kind auf ihren Schoß, wiegte es und ließ es einige Zeit weinen.

»Tilia, mein Kind, Hailwig ist nur eine Magd, und auch Gret wird später eine sein. Du sollst nicht um sie weinen. Du kannst – du darfst dein Herz nicht an sie verschwenden.«

Das Mädchen hob den Kopf und sah die Mutter streng an. »Ich muss die Gret aber liebhaben. Sie ist meine Schwester!«

»Ist sie nicht. Anna ist deine Schwester.«

Tilia schob schmollend die Lippen vor. »Hailwig hat das aber gesagt.«

Der Mutter entschlüpfte ein ärgerlicher Laut, doch die Tochter unterbrach sie sogleich.

»Kann nicht wenigstens die Gret bleiben? Sie ist doch noch so klein und kann für die Mönche noch nicht richtig arbeiten, und ich bin dann immer ganz brav und lerne die Psalmen und sticke und …«

Vor Eifer zitternd, presste sie ihren Vorschlag heraus und sah mit starrem Blick zur Mutter hoch, als könne sie so eine Zustimmung erzwingen.

Die Edelfrau seufzte, dachte nach und begann geistesabwesend das Kinderhaar zu entwirren. Als es streng geordnet in zwei Zöpfen auf den Rücken fiel, entließ sie die Tochter und ging hinunter in den Saal, um mit dem Edelmann zu sprechen.

Drei Tage später zog eine kleine Schar Männer, Frauen und Kinder in aller Früh zum Tor hinaus, um sich in Begleitung zweier Mönche nach Isenburg aufzumachen. Auch Hailwig, hochschwanger, war mit ihrem neuen Ehegatten dabei. Mit Tränen in den Augen folgte sie dem Tross, drehte sich jedoch immer wieder um, um noch einen Blick auf ihre Tochter und ihr Ammenkind zu werfen, die sie beide auf Burg Wehrstein zurücklassen musste.

So blieben die Freundinnen und Halbschwestern ungetrennt, doch Gret begriff schnell, welch großen Unterschied es bedeutete, Edelfräulein oder Magd zu sein. Nicht nur, dass sie Tilia nun mit »Ihr« und »Euch« ansprechen musste – zumindest, wenn andere Ohren es hören konnten –, die gemeinsame Zeit schmolz mit jedem Jahr ein Stück mehr dahin. Die freie Kindheit war vorüber. Gret war nicht dumm. Ihre wachen Augen beobachteten die Welt, ihr Mund formte Fragen, die keiner hören wollte und die ihr niemand zufriedenstellend beantworten konnte.

Warum bekam Tilia einen fellgefütterten Mantel, während sie selbst in ihrem alten löchrigen Umhang frieren musste? Warum tranken Mägde und Knechte Molke und Wasser und die Ritter roten Wein? Warum froren die Wächter im Turm, während sich die Ritter am Kamin im Saal wärmten? Warum konnte der Herr Menschen einfach verkaufen, verschenken, eintauschen? Warum, warum, warum …

Doch sie sah auch, welch Unterschied es war, Frau oder Mann zu sein. Auch Edelfrauen hatten zu gehorchen, wenn der Herr etwas befahl. Sie mussten vom Morgengrauen bis in die Nacht schuften, während die Ritter und Edelknechte, die auf der Burg dienten, an manchen Tagen sich nur müßig ins sonnenbeschienene Gras flegelten, ihre Waffen putzten, aßen und tranken, Geschichten erzählten und den vorbeieilenden Mägden in den Po zwickten.

Die Herrin war streng zu ihren Mägden und ihren Töchtern, aber auch zu sich selbst. Jeden Morgen musste der Saal gereinigt werden, Knochen, Essensreste und die schmutzigen Binsen hinausgeschafft und über die Mauer geworfen werden, der Kamin von Asche gereinigt, die abgebrannten Kienspäne ersetzt, der lange Tisch geputzt und poliert werden, bis das Holz makellos glänzte. Oft legte die Edelfrau selbst mit Hand an. Erst wenn die Herrin zufrieden war, durften die sauberen Binsen ausgestreut werden. Am Tag unterschied sich die Herrin auf den ersten Blick kaum von ihren Mägden. Auch sie trug einfache Röcke aus ungebleichter Wolle, vielleicht ein wenig sauberer, feiner genäht, der Saum eine Hand breit länger. Nur ihr Gebende, streng geschnürt, dass sie kaum den Mund öffnen konnte, war immer blütenweiß und aus feinster Seide.

Verschwendung gab es nicht auf Wehrstein. Jedes Kleidungsstück wurde sorgfältig immer wieder geflickt, dann noch von den Mägden getragen, bis der Stoff fast auseinanderfiel. Auch das Essen auf der Burg war nur selten üppig. Der Völlerei durfte nur an hohen Festtagen gefrönt werden, und dann hatten auch die Unfreien ihren Teil daran – vielleicht nicht gerade am Wildbret, aber doch an Schweinefüßen, Kutteln, Speck und anderen Köstlichkeiten.

»Wohin reitet Ihr, Ritter Wolfram?«, fragte Tilia neugierig und trat an das braune Streitross heran, das gesattelt im Hof stand. Sie bot dem Tier ein Stück ihrer Rübe an und strich ihm über den schwarzen Fleck an der Stirn.

»Ich reite nach Fischingen runter und dann zur Mühle. Zwei Sack Mehl ist der Müller uns noch schuldig.«

»Oh, nehmt mich mit«, rief das Kind. »Ich werde ganz still sitzen und auch beim Müller brav und sittsam sein.«

Wolfram von Husen zog den Sattelgurt nach. »Kleine Tilia, das geht nicht. Eure Mutter würde mir den Kopf abschlagen.«

Das Mädchen verlegte sich aufs Betteln. »Oh bitte, Ihr seid doch ein tapferer Mann, und sie braucht es ja nicht zu erfahren. Außerdem muss eine Edelfrau lernen, eine Burg zu führen. Wie oft sind der Vater und all die Ritter weit weg?« Flehend sah sie zu dem Lehensmann ihres Vaters hoch.

Wenige Augenblicke später ritt Wolfram von Husen, Tilia vor sich im Sattel, zum Tor hinaus, über die Zugbrücke und dann den engen Pfad nach Fischingen hinunter. Das Mädchen strahlte den Ritter aus blauen Augen an. Voll Freude, ein Stück der weiten, unbekannten Welt zu sehen, stimmte sie ein Lied an, das sie bei den Mägden schon oft gehört hatte. Der junge Ritter lächelte zärtlich. Zwar hatte er daheim ein Weib und einen Knaben, aber die sah er nur selten. Das aufgeweckte Mädchen seines Lehensherrn jedoch, das ihn so oft wissbegierig mit Fragen löcherte, war ihm lieb wie eine Tochter.

Die Hände in die Hüften gestützt, die Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst, stand Sibylla von Wehrstein vor dem Palas, als der Ritter und das Kind zurückkehrten.

»Mutter, es war so aufregend!«, rief Tilia und ließ sich vom Pferd gleiten. »Ich durfte die Mühle sehen. Das riesenhafte Rad, das vom Strom des Wassers bewegt wird und dann die Steine rührt, um ohne Menschenkraft feines Mehl zu mahlen.«

Der Ritter bemerkte die Gewitterwolken hinter der weißen Stirn sehr wohl. Entschuldigend verbeugte er sich.

»Ich habe gut auf sie Acht gegeben, Herrin. Zürnt uns nicht. Es war ein erfolgreicher Ritt. Die Mehlsäcke werden noch heute auf der Burg sein.«

»Dazu bedurftet Ihr wohl kaum der Hilfe des Kindes«, sagte Sibylla gepresst.

»Nein, sicher nicht.« Er senkte den Kopf. »Es ist nur – sie hat so gebettelt, mitkommen zu dürfen. Tilia ist nicht wie Anna oder wie die anderen Kinder. Sie ist eher wie ein kleines wildes Tier.«

»Ja, und wenn Ihr sie mit hinausnehmt, dann wird sie noch wilder. Wollt Ihr an dem Leid schuldig sein, wenn sie den Duft von Freiheit gekostet hat und ihr Vater sie dann hinter Klostermauern sperrt? Sie wird jetzt lernen, dass das Leben harte Arbeit und Verzicht bedeutet.«

Der Ritter verbeugte sich steif. »Es wird nicht wieder vorkommen, Dame Sibylla.« Er drehte sich um und führte sein Pferd in den Stall.

»Du kommst mit mir!«, herrschte die Mutter das Mädchen an, das dem Ritter folgen wollte. »Du wirst heute noch ein Schleiertuch säumen. Sauber und mit kleinen Stichen, sonst trenne ich die Arbeit wieder auf. Dabei kannst du mir die Psalmen aufsagen, die du gelernt hast.«

Tilia verdrehte die Augen, wagte jedoch nicht zu widersprechen. Während die Nadel noch etwas unbeholfen durch den Stoff glitt und ihre Zunge die lateinischen Worte plapperte, wanderten ihre Gedanken noch einmal hinaus vor die Burg und ins Tal zum rauschenden Neckar hinab.

Die Feste Wehrstein lag abseits der viel berittenen Routen und abseits von großer Politik und Zank, und doch musste Hildebolt von Wehrstein immer wieder mit seinen Mannen hinausziehen, um fremde Streitereien auszufechten. Das Land war zu klein, die Abgaben zu hoch, um nur von den Früchten des Bodens zu leben. Manchmal blieben die Frauen, Kinder und das Gesinde monatelang nur mit einem Ritter oder Edelknecht als Schutz auf der Burg zurück. Müde, schmutzig und manchmal auch verletzt kamen die Männer dann irgendwann nach Hause. Auf manche warteten die Daheimgebliebenen jedoch vergeblich.

»Der Wolkhart ist in Ehre gefallen, sonst sind alle wohlauf«, war das Einzige, was Sibylla ihrem Gatten entlocken konnte, als die Männer im späten Herbst von einem langen Zug zurückkamen. Sie begnügte sich mit dieser Antwort und fragte nicht weiter, reichte ihm stattdessen ein mageres Hühnchen und mit Wasser verdünnten Wein. Es interessierte sie nicht, was außerhalb der Burg geschah. Hauptsache, auf Wehrstein ging das Leben weiter. Doch Tilia schaute oft vom Bergfried ins weite Land hinaus und fragte sich, wie es hinter dem Wald und den Hügeln wohl aussah. Sie hatte ihren Ritt nach Fischingen nicht vergessen und träumte oft von rauschenden Bächen und weiten Wiesen. Es drängte sie, mehr zu erfahren. So stellte sie sich vor den Vater hin, verschränkte die Hände hinter dem Rücken und fragte:

»Wo wart Ihr die ganze lange Zeit? Erzählt mir davon.«

Hildebolt sah mit ernster Miene auf seine Tochter hinab. »Wir waren bis in Wien, um des Königs Stadt aus der Hand des Feindes zu befreien, denn der verschmähte Ottokar aus Böhmen will sich nicht damit abfinden, dass ein anderer die Krone trägt.«

Tilia kratzte sich an der Nase. »Der Ottokar wollte König werden, aber der Rudolf ist es geworden, und nun ist der Ottokar böse und will dem König seine Stadt wegnehmen?«

Der Wehrsteiner lachte. »Ja, so ist es, doch dein Vater und Wolfram von Husen und all die anderen Ritter haben Wien befreit. Und nun lass mich in Frieden essen.«

Das Mädchen lief zu Wolfram hinüber.

»Wo ist Wien? Ist das schön dort? Nehmt Ihr mich das nächste Mal mit?«

Wolfram von Husen zog das Mädchen am Zopf. »Solch vorwitzige blonde Jungfrauen können wir nicht gebrauchen, wenn die Schwerter blitzen und die Pfeile schwirren. Es würde dir eh nicht gefallen, kleine Tilia.«

Tilia schob schmollend die Lippen vor. »Doch, das würde es. Erzählt mir mehr davon.« Der Ritter zog das Mädchen auf seinen Schoß, schlang die Arme schützend um die zarte Gestalt und begann zu erzählen. Von tapferen Rittern und schnaubenden Rössern, von einer langen Reise durch ein unbekanntes, wildes Land.

»Bleibt Ihr jetzt lange hier und schnitzt mir eine neue Puppe?«

Der Ritter riss einem gebratenen Huhn den Flügel ab und drückte ihn dem Mädchen in die Hand. Den Rest behielt er für sich und grub seine Zähne tief in das weiße Fleisch.

»So lange, dass es für eine neue Puppe reicht, bleiben wir ganz bestimmt«, sagte er mit vollem Mund. »Doch wer weiß, was der Frühling bringen wird. Vielleicht werden wir hier in Schwaben Arbeit für unsere Schwerter bekommen.«

»Warum?«, fragte Tilia und leckte sich das Fett von den Lippen.

»Das ist nicht einfach zu erklären. Bisher haben viele der Fürsten an der Seite des Königs gekämpft. Doch nun hat der König auf dem Reichstag in Augsburg eine Urkunde aufgesetzt.« Das Mädchen legte den abgenagten Flügel auf den Tisch und gähnte. »Er fordert alle Krongüter zurück. All die Verträge und Schenkungen, heimlichen Absprachen und Räubereien, seit Friedrich der Zweite König und Kaiser war, sind nichtig.« Tilia schloss die Augen.

»Es gibt keinen unter den Fürsten, der nicht zornig wäre. Haben sie ihm deshalb zu seiner Krone verholfen? Welch Undank von einem Mann aus solch unbedeutendem Haus. Doch es gibt auch einige, die sich auf die Seite des Königs stellen, weil sie sich Vorteile davon versprechen.«

Die gleichmäßigen Atemzüge zeigten, dass das Kind in seinen Armen eingeschlafen war, doch der Ritter redete mit leiser Stimme weiter.

»Nun hat der König, da er mit dessen Schwester Anna verheiratet ist, den Hohenberger damit beauftragt, die Reichslehen wieder einzutreiben. Er ist jetzt Vogt für Niederschwaben. Der heißblütige junge Graf Eberhard von Württemberg schäumt vor Wut. Er wird es nicht zulassen, dass man ihm auch nur ein Gehöft wegnimmt. Weißt du, was das bedeutet, kleine Tilia?«

Das Kind grunzte im Schlaf.

»Es wird Krieg in Schwaben geben. Einen Krieg, wie wir ihn hier noch nicht erlebt haben.«

Vorsichtig erhob er sich und trug das schlafende Mädchen zur Treppe, wo Fräulein von Neueck schon wartete. Behutsam legte er sie ihr in die Arme, doch das Fräulein ließ das Mädchen zu Boden sinken, schüttelte es, bis es erwachte, und führte es dann die Treppe hinauf.

»Komm mit, ich muss dir etwas zeigen«, sagte Gret und nahm Tilia bei der Hand.

Die Ritterstochter zögerte. Sie sah an sich herunter und betrachtete den langen Rock aus feinem Barchent, den die Mutter ihr genäht hatte. Wie praktisch doch die knielangen Kittel gewesen waren! Tilia seufzte leise.

»Wohin willst du? Wird man dabei sehr schmutzig?«

Gret zuckte die Schultern. »Es ist eine Überraschung. Willst du sie dir nicht ansehen?«

Tilias Wangen glühten. »Doch, natürlich.« Sie raffte den Rock und ließ sich von Gret über den Hof in die Scheune ziehen, die windschief an der Burgmauer lehnte.

»Komm mit hinter den Heuhaufen«, forderte Gret ihre Schwester auf und sank auf die Knie.

Sie erklomm das duftende Heu und ließ sich dann auf der anderen Seite des Haufens wieder hinuntergleiten. Auf allen vieren kroch sie an der Wand entlang, bis zu einem losen Brett.

»Hier müssen wir durch«, raunte sie. Tilia folgte ihr dicht auf den Fersen.

»Da sieh, ich habe sie gefunden!«, strahlte Gret und zeigte auf die drei winzigen Fellbündel, die hinter der Scheune in einer geschützten Mauernische auf einem alten Lumpen lagen.

»Oh! Hier hat die Alte sie also versteckt«, staunte Tilia und drückte ein getigertes Kätzchen, das die Augen noch geschlossen hatte, an ihre Brust. »Ich dachte schon, die Hunde hätten sie geholt.«

»Nein, die Katze ist schlau«, sagte Gret und kitzelte ein schwarzweiß Geflecktes an der Nase. »Hier kommen die Hunde bestimmt nicht her.«.

»Fräulein Tilia, seid Ihr hier drin?«, erklang die Stimme des Paters. Die Mädchen sahen sich an, grinsten und legten die Hände auf ihre Lippen.

»Bist du sicher, dass sie hier hineingelaufen sind?«, fragte der Pater. Seine Stimme klang ärgerlich.

»Aber ja«, hörten die Mädchen die Stimme eines Knechtes. »Tilia, komm sofort her!«, befahl die Mutter.

Das Mädchen ließ die Schultern hängen, das Lächeln auf ihren Lippen erlosch. Vorsichtig schob sie das Brett zur Seite und kroch über den Heuberg zurück.

Den ganzen Weg zurück schimpften die Mutter und der Pater von beiden Seiten auf das Mädchen ein. Betreten senkte sie ihren Blick auf den nun mit braunen Flecken übersäten Rock und schwieg. Bis zum Abend saß sie mit ihrem Lehrer zusammen, wiederholte die lateinischen Worte, die für sie keinen Sinn ergaben, und ertrug die Stockschläge auf die Finger, wenn sie sich verhaspelte. Dann sang sie Kyrie eleison und Ave Maria, und der Wind trug ihre Stimme bis zu Gret, die, drei junge Katzen im Schoß, auf der Schwelle der Scheune in der Abendsonne saß.

Der Streit im Reich schwelte weiter. Immer wieder bat ein Bote, wichtige Briefe und Urkunden im Gepäck, um warme Suppe und ein Nachtlager. Dann lauschte die Schar der Ritter und Edelknechte gespannt, was draußen im Land so vor sich ging. Auch so mancher wandernde Mönch wusste Neues. Am Abend, wenn alle sich im Saal versammelt hatten, die Mägde Schüsseln mit dampfender Suppe und graues Brot verteilten, und die Becher mit rotem Neckarwein gefüllt waren, dann war es Zeit, Geschichten zu erzählen. Etwas abseits der großen Tafel saß die Edelfrau mit ihren beiden Töchtern und dem Fräulein von Neueck. Doch sobald das Essen vorüber war, schlich sich Tilia näher zu den Rittern und Edelknechten. Wenn die Mutter sich in die Kemenate zurückgezogen hatte, dann krochen Tilia und Gret unter den Tisch. Eng umschlungen in die Binsen gekuschelt, die Ohren gespitzt, lauschten die Mädchen atemlos, was in der Welt dort draußen Spannendes passierte. So erfuhren sie, dass des Königs Sohn Hartmann im Rhein ertrunken war, dass der Bischof von Straßburg die Feste Durlach plünderte und dann in Asche legte, dass der Graf Ludwig von Dettingen das Kloster Ellwangen in Brand steckte und den Abt Ekkehard festhielt und dass die Bürger der freien Reichsstadt Esslingen des Württembergers Burg Kaltenthal am Nesenbach belagerten. Zu viel hätten die stolzen Bürgersleute schon unter dem ungestümen Fürsten leiden müssen. Die Mädchen sogen all die Neuigkeiten in sich auf. Tagelang spukten diese Geschichten dann in ihren Köpfen, und sie wunderten sich, warum alle Welt ständig im Streit miteinander lag.

Auch der Edelfreie Hildebolt von Wehrstein beobachtete die Entwicklung der Dinge genau. Es war ihm egal, ob er den Zins für sein Lehen an den Hohenberger oder den König zahlen musste, dennoch war er besorgt. Tief in seinem Innern spürte er, dass der Tag der Entscheidung näher rückte.

Die Herrin der Burg

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