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An dem Abend, als wir Ellen am Straßenrand zurückließen, fuhren wir die 252 in nördlicher Richtung entlang, ungefähr dort, wo sie auf die 202 trifft und den Pennsylvania Turnpike überquert. Im Westen offene Felder, endlose Weiten aus goldenem Präriegras und Seidenpflanzen, durch die der letzte Streifen Sonne sein splitterndes Licht schickte. Im Osten King of Prussia – graue Industriegelände in der Abenddämmerung, Betonmischer, Kräne und ein Labyrinth aus Fern- und Schnellstraßen. Irgendwo da drüben lag, wie ein abgetrennter Körperteil, auch die Blue Route, die Interstate 476, 1967 begonnen, aber vierzehn Jahre später noch immer nicht fertig: am Ende der Asphaltdecke plötzlich Bäume und hohes Gras – weiter hatte das Geld nicht gereicht. Jugendliche ließen sich dort das Autofahren beibringen oder feierten bis spät in die Nacht. Bei uns hieß sie nur die Straße ins Nichts. So fuhren wir. Die ersten Autos schalteten ihre Scheinwerfer ein, die Anhöhen von Valley Forge direkt vor uns waren nur noch Schatten, die Bäume verwandelten sich in dunkle Umrisse.

Wir waren zu sechst im Auto, Marie saß vorn auf dem Beifahrersitz, Ellen zwischen mir und Thomas auf der Rückbank, und hintendrin, zwischen unseren Taschen und den gesammelten Arbeitsmappen des kompletten Schuljahrs, lag Beatrice. Es war der letzte Schultag, die Sommerferien hatten offiziell begonnen. Unsere Mutter fuhr. Ruppig. Sie trat auf die Bremse, beschleunigte, ließ den Motor im ersten Gang aufheulen und schaltete dann erst hoch. Sie war wütend. Das schreckliche Geruckel des Wagens sprach Bände, und außerdem konnte ich von meinem Platz hinter ihr sehen, wie ihr Kiefer unter der Haut mahlte und zuckte, obwohl sie gar nichts sagte. Ellen und sie hatten gestritten, weil Ellen ihr mit einem Kunstcamp in den Ohren lag, in das sie unbedingt wollte.

»Ich habe nein gesagt.« Die Kinder einfach mit Broschüren im Schulranzen nach Hause zu schicken, grenzte für unsere Mutter an Erpressung. Es machte sie zornig. »Ich habe so schon genug um die Ohren.«

Mir graute vor dem Sommer, der vor uns lag.

Ich drückte die Stirn an die Scheibe und sah hinüber zu dem letzten Faden Sonnenlicht. Sage war jetzt schon bei der Arbeit in der Mall, wo sie im Diner des J.C. Penney kellnerte. Während der Ferien hatte sie dort eine Vollzeitstelle. Es gab kaum einen Sommer, den ich nicht mit ihr verbracht hatte. Vielleicht sollte ich die Unterschrift meiner Mutter fälschen, um an eine Arbeitserlaubnis zu kommen. Mit fünfzehn hätte ich zwar offiziell arbeiten dürfen, aber mir war klar, dass sie mir das nie erlauben würde, weil sie mich brauchte, um auf die Kleinen aufzupassen, während sie im Krankenhaus war. Sie arbeitete am Empfang der Notaufnahme im Paoli Memorial Hospital. Sage meinte, ich solle doch froh sein. Sie beklagte sich ständig über ihre Kolleginnen, die Stützstrümpfe und Gesundheitsschuhe trugen und den Kaffee für andere alte Schachteln verschütteten, die ihrerseits um sieben Uhr morgens ihre Spiegeleier auf Toast mit Parfümpröbchen besprühten. Aber ich beneidete sie trotzdem um ihren richtigen Job mit Stammgästen und Trinkgeld und Zechprellern, beneidete sie um die Geschichten, die sie zu erzählen hatte. Eine Kundin um die neunzig trank jeden Morgen die Kaffeesahne direkt aus dem weißen Porzellankännchen, das auf der Theke stand, und hinterließ einen verschmierten, leuchtend orangefarbenen Lippenstiftabdruck darauf. Mir ging es weder um das Geld noch um die Arbeit – ich war ja jeden Freitagabend zum Babysitten bei den Bouchers. Aber ich hatte Angst vor den vielen einsamen Tagen, die vor mir lagen.

Rechts neben Ellen sagte Thomas flüsternd das Periodensystem auf. »Holmium, Hafnium, Erbium …«

»Lass es«, sagte sie.

»… Phosphor, Franzium, Fluor, Terbium.«

»Sei still. Sei einfach still!« Ellen ließ den Kopf auf die Knie sinken und schlang die verschränkten Arme um die Schienbeine. Sie weinte. Ein pochender Schmerz, der in meinem Nacken begonnen hatte, war über den Schädel bis zur Stirn gewandert. Wenn sie doch beide still wären!

»Du nervst uns alle, Thomas«, sagte ich. »Lass es einfach.«

»Habt ihr gewusst, dass Tränen Glukose, Natrium und Kalium enthalten?«

»Halt’s Maul, du blöder Wissenschaftsfreak!« Ellen trat ihm zwei Mal mit der Ferse gegen das Schienbein und ruckelte dabei am Fahrersitz, an dem sie sich festgehalten hatte.

»Schluss jetzt, sofort! Wollt ihr, dass ich einen Unfall baue?« Unsere Mutter war fuchsteufelswild.

»Außerdem enthalten Tränen ein natürliches Schmerzmittel, Enkephalin«, murmelte Thomas. »Hinterher geht’s dir also sicher besser.«

»Er soll aufhören!« Ellens Stimme klang dumpf.

Ihr Gejammer und sein Gemurmel weckten den Drang in mir, ihm oder sonst wem eine zu kleben. Ellen hatte den Kopf wieder auf den Knien. Ich reckte mich über sie hinweg und bohrte ihm unsanft die Fingerknöchel in die Schulter.

»Sei still, Thomas. Was weißt du schon von Tränen?«

Noch während ich es aussprach, wünschte ich mir schon, ich hätte es nicht getan, denn irgendwas stimmte ja nicht mit ihm, schließlich hatte er, trotz allem, was uns passiert war, nie geweint, hatte sich einfach nur in sein Zimmer und in sich selbst zurückgezogen. Wenn er Ellen ärgerte, war er wenigstens wieder ein bisschen der alte Thomas.

Er erwiderte nichts, drehte sich nur zum Fenster. Lieber wäre mir gewesen, er wäre richtig wütend geworden. Ich wollte es wiedergutmachen, und zum Glück fiel mir ein Witz ein. »Hey, Thomas, was ist ein Chemiker, der sich nichts sagen lassen will?«

Er drehte sich zu mir, sah mich abwartend an. »Was?«

»BOR-niert.«

»Sehr witzig, Libby, aber du weißt ja gar nicht, was Bor ist. Du hast mich gerade zum Element einer Supernova erklärt und damit für nicht von dieser Welt.«

»Jetzt hört ihr alle aber mal auf«, sagte Marie und drehte sich auf ihrem Sitz zu uns herum. Ihr Haar war auf der einen Seite schwarz gefärbt und stand stachlig ab wie bei Siouxsie Sioux. Kurz vor der Abschlussmesse an der Schule hatte sie sich die Wange durchstechen lassen und sich die andere Kopfseite kahl rasiert, dort wuchs das Haar jetzt in blonden Stoppeln nach. Thomas und ich waren sofort still. Marie war fast achtzehn, nur ein Jahr älter als Thomas, aber wir hörten auf sie, vor allem, seit sie angefangen hatte, die Rockplatten zu verschenken, aus denen sie sich nichts mehr machte. Mir hatte sie Who’s Next? aufs Kopfkissen gelegt, nachdem ich einmal zu Hause geblieben war, um auf Beatrice aufzupassen, während sie sich zu einer Party fortschlich, und Thomas hatte Quadrophenia bekommen, weil er Klassenbester geworden war. Jetzt waren wir beide scharf auf Tommy. Thomas fand, die Platte stehe ihm zu, schon wegen des Namens und so. Ich verkniff mir den Hinweis auf weitere Ähnlichkeiten, den toten Vater, die Mutter mit dem heimlichen Liebhaber, das Verbot, über diese Dinge zu reden. Wir beide hatten ja nicht mal einen Plattenspieler. Marie besaß einen tragbaren, den wir alle benutzten.

Draußen, wo der Wald in die Felder überging, säumten Hartriegelbüsche das Unterholz, und sogar im schwindenden Licht sah ich, dass sie all ihre Blüten verloren hatten. Cornus Florida. Ovale Blätter mit ausgeprägten Adern, die sich entlang der sanft gewellten Ränder zur Spitze hin biegen. Kugelige Blüten, von weißen Hochblättern umringt, die viele fälschlich für die Blüten halten. Am letzten Weihnachten vor seinem Tod hatte unser Vater mir das Brevier der Bäume Nordamerikas geschenkt. Ich hatte das Buch immer und immer wieder gelesen, mir so viel über die einzelnen Bäume eingeprägt, wie ich nur konnte. Auch ein Baum-Notizbuch hatte ich mir angelegt, in das ich alle Bäume eintrug, die ich sah, sie bestimmte und zu den verschiedenen Jahreszeiten beschrieb; ich zeichnete sie, pauste ihre Rinde ab, trocknete ihre Blüten.

Das Geschenk kam in einem großen Päckchen, aufgegeben in New York, wo er damals lebte und für seinen Cousin arbeitete, der wie er aus Irland eingewandert war. Er hatte für jeden von uns eine persönliche Karte ausgesucht. Meine zeigte einen Fichtenwald, und ganz vorne stand ein einzelner Baum mit einem Stern auf der Spitze. Dads Handschrift war klein und ungelenk, als wäre er es nicht gewohnt, Karten zu schreiben, was wahrscheinlich auch so war.

Für Libby, die immer unter Bäumen ist. Frohe Weihnachten! Alles Liebe, Dad

Ich kann gar nicht sagen, ob ich so viel Zeit mit Bäumen verbracht habe, weil ich sie liebte, oder weil es ihn so freute, dass ich sie liebte, das kann ich nicht voneinander trennen. Als ich vielleicht sechs war, und er noch hin und wieder bei uns wohnte, kam ich nach einem Tag im Wald abends immer barfuß und verdreckt nach Hause. Einmal setzte er mich auf die Waschmaschine, drehte den Wasserhahn am Becken daneben auf und wusch mir die Füße. Er schäumte sie mit Seife ein, schrubbte sie und bearbeitete meine Fersen, wo sich der Schmutz tief in die Hornhaut gegraben hatte, mit der Nagelbürste.

»Im Wald gibt’s Mokassinschlangen, Libby – du musst dir Turnschuhe anziehen. Du kannst nicht immer barfuß herumlaufen.« Meine Schienbeine waren mit rissigem Schorf verziert, weil ich auf Bäume geklettert und im Dickicht aus Lorbeer- und Rhododendronbüschen herumgekrochen war.

Er nahm meine Hand und führte meinen Zeigefinger über eine besonders dicke Kruste.

»Fühl mal! Du wirst schon ein richtiger Baum. Deine Beine entwickeln Rinde.«

Der furchige Schorf war dunkel und erhaben. Ich ertastete seine Form und Beschaffenheit, ließ die Hände an beiden Schienbeinen hinaufwandern, strich über die Krusten.

»Stimmt«, sagte ich und sah glücklich zu ihm auf, und er lachte und trocknete mir sorgsam Beine und Füße ab, auch zwischen den Zehen. Dann zog er mir Strümpfe über die sauberen Füße.

»Jetzt kannst du rauf zu Ihrer Ladyschaft, ohne Ärger zu kriegen. Und halt gefälligst deine Füße sauber!« Aber ich wusste, er liebte meine dreckigen Füße.

An seinem letzten Weihnachten hatte er für uns alle ein Buch ausgesucht. Noch heute stelle ich ihn mir vor, wie er dort in dem New Yorker Buchladen steht und die Bücher aussucht, die uns gefallen könnten, die Karten auswählt und das Geschenkpapier, und wie er die Geschenke dann schließlich einpackt: das Papier faltet, den Tesafilm abreißt und Schleifen bindet, mit seinen dicken Fingern, die sich eher dafür eignen, Maschinen zu bedienen und Betonblöcke zu schleppen. Für Marie hatte er den zweiten Band von Rock On! gekauft, einem illustrierten Lexikon der Rockmusik. Ich brachte Stunden damit zu, mir die Bilder darin anzusehen. Es deckte die Jahre 1964-1978 ab und damit praktisch alle meine Lieblingsbands. Thomas bekam Sterne und Planeten: Die Geheimnisse des Nachthimmels, das er auch weiterhin im Geschenkpapier eingeschlagen ließ – keine von uns durfte es auch nur berühren. Ellens Buch handelte von Kunstgeschichte und war mit einem Aquarellkasten und Pinseln versehen; für Beatrice hatte er ein Buch über die verschiedenen Hunderassen mit Aufklebern besorgt. Mir schoss auf einmal die Frage durch den Kopf, ob er an der Kasse wohl erzählt hatte, dass die Bücher für seine Kinder waren. Ich stellte mir vor, wie er mit seiner Tüte voller Geschenke in der U-Bahn zurück in die Bronx saß, zwischen all den anderen Weihnachtseinkäufern, und plötzlich war mir dort im Auto, als bekäme ich keine Luft mehr. Wenn ich ihm bloß erzählen könnte, dass jedes dieser Bücher inzwischen für uns stand, dass wir das Bild, das er jeweils von uns hatte, nicht mehr abstreifen konnten, nicht aufhören konnten, ihm zu entsprechen.

Neben mir saß Ellen immer noch vorgebeugt, die Knubbel ihres knochigen Rückgrats zeichneten sich unter dem Oberteil ihrer Schuluniform ab. »Was für ein spilleriges Dingelchen«, hatte Tante Rosie über sie gesagt, als sie zur Beisetzung unseres Vaters aus Irland gekommen war. Sie schickte uns Lebensmittelpakete und zu Weihnachten eine Flasche Sherry, um Ellens Appetit anzuregen; sie »gedeihe« nicht gut, meinte sie, ein Ausdruck, über den wir alle lachen mussten, weil es klang, als spräche sie über ein Stück Vieh auf dem Bauernhof. Aber sie hatte natürlich recht, Ellen war schmächtig. Mit ihren zwölf Jahren maß sie gerade einmal einen Meter zwanzig und wog keine dreißig Kilo. Sie sah so schmal und unglücklich aus, und ich wollte ihr den Rücken tätscheln.

»Lass mich«, knurrte sie, versuchte, mich abzuwehren und ruckelte dabei wieder am Fahrersitz.

Mom machte einen Schlenker Richtung Böschung und fuhr dann wieder zurück auf die Fahrbahn, bauschte die Heftigkeit von Ellens Geruckel an ihrer Rückenlehne künstlich auf. »Damit bringst du uns noch alle um! Ist dir das klar? Es reicht jetzt wirklich. Wenn wir zu Hause sind, kannst du erstmal unten staubsaugen und die Wäsche zusammenlegen.«

»Nein, mach ich nicht«, gab Ellen zurück. »Beatrice kann zur Abwechslung auch mal was tun.«

»Halt Beatrice da raus.« Ich sah Moms dicken Haarknoten, ein Auge im Rückspiegel, mit dem sie Ellen musterte.

»Schon gut. Klar kann ich das machen.« Beatrice beugte sich von ganz hinten vor, voller Sorge, sie könnte irgendwie schuld an dem sein, was da gerade passierte.

»Danke, Beatrice. Wenn Ellen nur auch mal so nett zu anderen wäre.«

»Du hasst uns doch sowieso alle, nur sie hast du lieb. Und deinen fetten Freund.« Ellen überspannte den Bogen. Ich stieß sie in die Seite, damit sie den Mund hielt.

»Noch ein Wort, und du kannst zu Fuß gehen.«

»Ist doch wahr. Du hasst uns!« Ellen brüllte jetzt. »Dad hast du auch gehasst, und ich hasse dich!«

Bei der Erwähnung unseres Vaters blieb uns allen die Luft weg. Vor unserer Mutter sprachen wir nie über ihn. Das Auto kam schlitternd auf dem Seitenstreifen zum Stehen, genau an der Stelle, wo die 252 über den Turnpike führt.

»Raus. Steig aus.« Mom sagte es mit ihrer leisen Stimme, woran wir merkten, dass sie es ernst meinte. Ellen griff über Thomas hinweg, öffnete die Autotür und kletterte hinaus.

»Du kannst sie hier doch nicht einfach raussetzen«, sagte Marie. »Es wird schon dunkel. Ich gehe mit.« Sie griff nach ihrer Schultasche, die vorne im Fußraum stand.

»Das wirst du schön bleiben lassen.«

»Warte mal«, sagte Thomas. Er sah erschrocken aus, machte sich Vorwürfe wegen seiner Sticheleien. Ellen stand auf dem Kiesstreifen am Rand der Überführung, in Schulkleid, Polohemd und Kniestrümpfen. Marie hatte die Beifahrertür schon halb offen, aber unsere Mutter legte den Gang ein und trat aufs Gas.

Ich schaute zurück. Ellen stand von uns abgewandt, sie blickte über das Brückengeländer nach unten, wo die Autoschlangen auf den Turnpike drängten.

»Mom, mach das nicht. Bitte!«, sagte Thomas, aber sie reagierte nicht. Wir sausten die 252 entlang bis zum Nationalpark und bogen dann nach links ab, Richtung Valley Forge Mountain, wo wir wohnten. Vor uns war die Sonne hinter den Feldern verschwunden.

»Du kannst sie nicht einfach da stehen lassen. Es ist dunkel«, sagte Marie.

Wir waren noch mindestens acht oder neun Kilometer von zu Hause weg. Ich hatte nichts gesagt, um unsere Mutter aufzuhalten. Wir rasten die Straße entlang, über die Brücke mit dem Dach hinweg, vorbei an Äckern und Zäunen. Meine Mutter fuhr weiter und neben uns flossen die Schatten der Hartriegelbüsche im Dunkeln ineinander, jeder Strauch umgeben von einem weißen Heiligenschein aus herabgefallenen Hochblättern.

Licht zwischen den Bäumen

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