Читать книгу Licht zwischen den Bäumen - Una Mannion - Страница 5

2

Оглавление

Valley Forge war vor allem dafür bekannt, dass George Washington, zusammen mit den zwölftausend Soldaten seiner Kontinentalarmee, einen Winter hier verbracht und in improvisierten Holzhütten ums nackte Überleben gekämpft hatte. Die Soldaten waren unterernährt, zerlumpt und barfuß gewesen. Mehr als zweitausend starben an Unterkühlung, an Krankheiten oder Verletzungen, weitere dreitausend wurden dienstuntauglich. In der neunten Klasse hatte unsere Geschichtslehrerin, Miss Esposito, uns erklärt, Valley Forge sei der Wendepunkt des Unabhängigkeitskriegs gewesen, ein Symbol für den revolutionären Geist und das amerikanische Selbstverständnis. Ich war die Einzige in der Klasse, die tatsächlich dort lebte. Wenn ich durch die Wälder am Berg streifte, dachte ich an die halb erforenen Männer, die hier heraufgekommen waren, um ganze Stämme oder abgebrochene Äste hinunter ins Lager zu schleifen, an die Männer, die sich als Deserteure zwischen die Bäume geflüchtet hatten, oder an die, die vielleicht gerade noch hierher gekrochen waren, um sich zum Sterben hinzulegen. Einige waren nicht einmal Männer gewesen, sondern Jungen, so alt wie Thomas.

Das Armeelazarett lag in Yellow Springs, auf der anderen Seite des Bergs, die Kranken und Sterbenden mussten also durch unsere Wälder gekommen sein, wenn sie vom Lager dorthin wollten, über diese Wege. Kranke Männer, die ohne Schuhe durch den Schnee stapften, durch dieselben Wälder wie ich gingen oder getragen wurden. Was hatten sie von der Krankenbahre aus gesehen, wenn sie nach oben schauten, im Winter, ohne Blätterdach? Nichts als schwarze, nackte Äste vor einem grauen Himmel, dazu der Gedanke, dass sie diese Welt vielleicht gerade zum letzten Mal sahen und die Sonne es nicht für nötig hielt, sich zu zeigen. Vielleicht hatten sie nicht einmal Bäume gesehen; irgendwo hatte ich gelesen, dass die Soldaten fast alles abgeholzt hatten, um es warm zu haben und ihre Hütten zu bauen.

Der Valley Forge Mountain war weniger ein Berg als ein Hügel. Wenn man die Abkürzung durch den Wald nahm, war Washingtons Hauptquartier keine drei Kilometer von unserem Haus entfernt. In den Fünfzigerjahren war der Berg zum Wohngebiet umgewidmet worden, der Wald allerdings blieb als Teil des Nationalparks erhalten. Hinter unserem Haus führte der Horseshoe Trail entlang, ein Wander- und Reitweg, der im Nationalpark begann und dann über zweihundert Kilometer weiterging, bis er in Harrisburg auf den Appalachian Trail traf.

Der Weg zerschnitt den Berg in zwei Verwaltungsbezirke: Tredyffrin, wo Sage wohnte, und Schuylkill auf unserer Seite. Sages Teil des Bergs wirkte damals wohlhabender – die Häuser waren größer und besser in Schuss. Die größte Ortschaft in Schuylkill war Phoenixville, ein altes Eisen- und Stahlarbeiterstädtchen am Fuß des Bergs. Im Lauf unserer Kindheit wurden die Stahlwerke verkleinert, bauten Personal ab, schlossen. Phoenixville litt. Marie meinte, die Stadt hänge in einer Zeitschleife fest: Die Achtziger hatten begonnen, aber in Phoenixville herrschten immer noch die Sechziger und für junge Leute gab es kaum Perspektiven dort. Kinder, die am Berg wohnten und aus Schuylkill kamen, gingen auf die Phoenixville High School und die aus Tredyffrin auf die Conestoga, eine der besten staatlichen Schulen in ganz Pennsylvania. Wir besuchten keine von beiden. Wir gingen auf katholische Schulen, die näher an Philadelphia lagen.

Ich verbrachte meine Zeit am Berg meistens damit, durch die Wälder zu streifen oder zu Washingtons Hauptquartier hinunterzuwandern. Thomas und ich hatten auch mal versucht, im Schuylkill River zu angeln, der gleich daneben entlangfloss. Er meinte, wir könnten vielleicht Welse oder Barsche erwischen. Aber wir fingen nie etwas, am Flussufer roch es nach Abwasser und an den seichteren Stellen sahen wir Radkappen, kaputte Toaster und anderen Müll herumliegen. Oben am Berg, abseits des Weges, konnte man im Wald noch die Überreste alter Steinbrüche ausmachen, und am Ende unserer Straße, knapp einen halben Kilometer entfernt, lag eine tiefe Schlucht, die einmal zu einer Quarzmine gehört hatte. Dort wurden Quarz-Erze abgebaut und irgendwo zu Sand verarbeitet. Überall am Berg fand sich Quarz – riesige glitzernde Steine, die einfach so auf der Erde lagen, oder schimmernde Quarzkanten, die aus dem Boden ragten, als würden sie dort wachsen. Dad hatte mir erzählt, im prähistorischen Irland habe der Quarz als heiliger Stein gegolten und sei mit den sterblichen Überresten der Toten begraben worden.

Nachdem wir Ellen an der Straße zurückgelassen hatten, fuhren wir schweigend den Berg hinauf. Ich sah, wie das Scheinwerferlicht des Wagens auf die Bäume traf, wenn wir um eine Kurve bogen. Jedes Mal, wenn unsere Mutter runterschaltete und langsamer wurde, hoffte ich, sie würde sich besinnen, würde wenden, zurückfahren und Ellen von der Straße holen, und keiner von uns würde mehr wütend sein, weil wir alle so dankbar wären, sie wieder sicher bei uns im Auto zu haben. Aber wir fuhren weiter. Beatrice hintendrin war die Einzige, die etwas sagte.

»Da sind keine Straßenlaternen. Wie soll sie denn nach Hause finden?« Niemand gab eine Antwort.

Wir hielten in unserer Einfahrt, und Marie stieg aus, um das Garagentor zu öffnen. Auf der anderen Straßenseite hatten die Walkers ihre Gartenbeleuchtung eingeschaltet; in ihrem Licht sah ich das wuchernde Gras unseres Vorgartens, kniehoch und ganz verwildert. Alles fühlte sich falsch an. Das Haus, das ungemähte Gras, Ellen draußen auf der Straße, Dad nicht mehr da. Vor ein paar Monaten hatte Mr Walker uns einen Brief geschrieben, eine kaum verhohlene Beschwerde darüber, wie unser Haus aussah. Außen auf der Karte stand Von Herzen, innen sprach er uns sein Beileid aus für alles, was wir im vergangenen Jahr durchgemacht hätten, er habe viel an uns gedacht. Seine Frau Minnie und er hätten für uns gebetet, schrieb er und schloss mit den Worten: »Wir haben uns überlegt, es könnte Ihre Last vielleicht ein wenig lindern, wenn Sie diesen Sommer jemanden hätten, der Ihren Rasen mäht und kleinere Instandhaltungsarbeiten für Sie erledigt. Soviel ich weiß, ist einer der De Martino-Söhne gerade auf der Suche nach genau dieser Art von Arbeit. Geben Sie uns doch Bescheid, wenn wir Ihnen irgendwie behilflich sein können.« Unterschrieben hatte er mit: »Ihr Nachbar und Freund, Harry Walker«.

Marie hatte gedroht, ihn höchstpersönlich aufzusuchen. »Ich werde ihn ganz direkt fragen: Wenn er so ein toller Christ ist und sich solche Sorgen wegen unserem hohen Gras macht, warum kommt er dann nicht selbst rüber, schwingt seinen fetten Elmer-Fudd-Hintern auf den Echtledersitz von seinem verdammten Rasentraktor-Cadillac und mäht für uns?«

Wir mussten alle lachen, sogar unsere Mutter. Mit seinen knallbunten, gestärkten Karohemden und den viel zu hoch sitzenden Freizeithosen sah Mr Walker tatsächlich ein bisschen aus wie Elmer Fudd. Marie parodierte Minnie Walker im Die Frauen von Stepford-Stil. Sie drehte sich altmodische Lockenwickler in die Haare, stopfte sich Fußbälle unter den Pullover, so dass sie fast vornüber kippte, band sich eine bodenlange Schürze um und bemalte sich den Mund mit knallrotem Lippenstift, weit über die Konturen hinaus. So trug sie dann ein unsichtbares Tablett mit einem Glas Limonade durch unser Wohnzimmer: »Ach, liebster Harry Walker, ich bin ja so beschäftigt mit meiner christlichen Nächstenliebe und meiner Barmherzigkeit, dass ich fast vergessen hätte, dir deine Erfrischung zu servieren. Du bist doch sicher ganz müde davon, dir den Arsch platt zu sitzen und die paar Grashalme zu mähen. Und wie aufreibend es doch für dich sein muss, mein armer Harry, die ganze Zeit auf dieses schändliche Haus und diese schändlichen Leute gegenüber zu schauen.« Sie brachte uns alle hemmungslos zum Lachen. Thomas lachte so sehr, dass er gar keinen Ton mehr herausbekam. Ich wusste, ihn belastete das mit dem Gras am meisten, weil er das Gefühl hatte, eigentlich für das Mähen zuständig zu sein. Aber wir besaßen keinen Rasenmäher und hatten auch die anderen Geräte unseres Vaters nie von seinem Cousin aus der Bronx zurückbekommen. Wir hatten ihn nie danach gefragt, und von sich aus hatte er auch nichts gesagt. Wir hatten überhaupt nichts von Dad zurückbekommen, nur den Transporter, den Mom dann verkauft hatte, und seine Leiche. Ich fragte mich, was wohl aus den vielen Karten und Geschenken geworden war, die wir ihm geschickt hatten. Aus all den Dingen, die wir in der Schule für ihn gebastelt hatten. Ich war mir sicher, er hatte sie aufgehoben. Mir wurde ganz übel bei dem Gedanken, dass sein Cousin all seine Sachen einfach weggeworfen hatte.

Im Scheinwerferlicht sah ich, wie Marie das Garagentor nach oben schob. Jetzt, wo sie den Kopf auf einer Seite rasiert hatte, konnte sie kaum noch die Minnie Walker mit Lockenwicklern geben. Marie trat zur Seite, und unsere Mutter fuhr in die Garage, zog die Handbremse an, stellte den Motor ab, griff sich ihre Handtasche vom Boden vor dem Fahrersitz und verschwand sofort im Haus und in ihrem Zimmer.

Ich hievte meine Schultasche und meine Mappen aus dem Wagen, nahm auch die von Ellen mit und schleppte sie ins Haus. Ellen hatte ihre großformatige Kunstmappe mit ihren Arbeiten aus dem Schuljahr dabei. In Schreibschrift hatte sie groß Ellen darauf geschrieben und die einzelnen Buchstaben mit verschiedenen Farben umrandet, die sich nach außen hin psychedelisch zu Blumen und Mustern verzweigten, wie auf einem Plattencover von Cream. Ich öffnete die Mappe und breitete die Bilder auf dem unteren Teil des Ausziehbetts aus, wo sie schlief. Es waren Farbräder und Bleistiftzeichnungen dabei, Stillleben mit Früchten und Blumen. Auch ein Familienportrait war darunter, mit nur fünf Figuren; sie hatte Mom und Dad nicht mitgezeichnet, nur uns. Auf dem Bild war Marie die Größte, obwohl Thomas und ich sie beide überragten. Mitten im Stapel steckte auch ein Selbstportrait, mit Wachs- und Ölkreiden. Ellen hatte nur Blau, Lila und Schwarz dafür verwendet. Es wollte gar nicht realistisch sein, und doch fing es viel von ihr ein, ihre großen blauen Augen, die mit den leichten, lila-bläulichen Schatten darunter immer etwas eingesunken aussahen, die dunklen Wimpern und Brauen, den Seitenscheitel. Das Gesicht war nicht klar umrissen; es schien aus den dunklen Formen aufzutauchen. Hinten auf der Mappe stand eine Nachricht, mit grünem Filzstift geschrieben.

Eine sehr schöne, ausdrucksstarke Mappe, Ellen. Großartige Arbeit über das ganze Jahr hinweg, und so kunstvoll. Ich habe Dir ein paar Ölkreiden in die Mappe gesteckt, dazu die Informationen über das Kunst-Sommercamp und ein Empfehlungsschreiben. Die Arbeiten, von denen ich glaube, dass Du sie mit der Anmeldung einschicken solltest, haben einen grünen Kreis auf der Rückseite. Du bist zwar noch sehr jung, aber ich bin völlig überzeugt, dass sie Dich nehmen werden. Herzlich, Miss LeBlanc.

Ich griff wieder in die Mappe und zog einen großen Umschlag hervor. Er enthielt eine Broschüre des Sommercamps der Chestnut Grove Art Academy sowie einen kleineren, verschlossenen Umschlag, auf dem mit Schreibmaschine die Worte Empfehlungsschreiben für Ellen Gallagher getippt waren. Vorhin im Auto hatte Ellen weder das Geschenk erwähnt noch den Brief oder das Empfehlungsschreiben. Ich steckte alle Bilder wieder in die Mappe zurück, den Umschlag ließ ich auf meinem Bett liegen. Ich musste mich fürs Babysitten umziehen.

Jeden Freitag passte ich auf die beiden kleinen Söhne von Mrs Boucher auf. Außer meiner Mutter war sie der einzige geschiedene Mensch, den ich kannte, aber bei ihr wirkte es glamourös. Marie meinte, da zeige sich eben der Klassenunterschied. Solange man Geld und gesellschaftliches Ansehen habe, sei es völlig in Ordnung, die Regeln zu brechen. Mrs Boucher trug schmale schwarze Kleider, türkisfarbene Ketten und große Kreolen an den Ohren. Sie hatte langes, rabenschwarzes Haar, das sie immer offen ließ, wenn sie ausging. Mir hatte sie erzählt, sie sei Halbindianerin, und die Haare habe sie von den Shawnee, dem Volk ihrer Großmutter. Sie war Anwältin und lebte in einem Haus, das meine Mutter wohl als »modern« bezeichnet hätte, tief im Wald, mit großen Fensterfronten, in denen sich die Bäume ringsum spiegelten. Ihr Baumhaus, nannte sie es immer.

Ich zog meine Schuluniform aus und schlüpfte in Jeans, T-Shirt und Turnschuhe. Meine großen Zehen bohrten sich durch den Leinenstoff. Ich hatte schon genug Geld vom Babysitten gespart, um mir neue zu kaufen. Mrs Boucher zahlte mir zehn Dollar pro Abend, im Wesentlichen fürs Fernsehen, was für mich ein ganz besonderes Vergnügen war, weil wir zu Hause keinen Apparat hatten. Eigentlich wollte ich nicht weg, solange Ellen noch irgendwo da draußen herumirrte, aber so kurzfristig konnte ich Mrs Boucher nicht anrufen und absagen. Ich spähte aus dem Fenster in die Dunkelheit hinaus, die Hände rechts und links vom Gesicht, um das Licht im Zimmer auszusperren. Jemand, wahrscheinlich Marie, hatte die Außenbeleuchtung eingeschaltet. Ich konnte die großen Quarzsteine vorne in unserer Einfahrt erkennen, das hohe Gras, die leere Straße.

Marie kam ins Zimmer und ließ sich auf ihr Bett plumpsen, das schräg gegenüber von dem Ausziehbett stand, wo Ellen und ich schliefen. »Lass nicht immer dein Zeug auf meinem Bett liegen.« Sie warf mir meinen Schottenrock zu. »Du brauchst gar nicht zu gucken: Das dauert noch Stunden. Es kann zehn oder elf werden, bis sie wieder hier ist.«

»Sie hätte Dad nicht erwähnen sollen.«

»Wieso denn nicht?«, fragte Marie. »Wieso müssen wir hier eigentlich immer diesen Eiertanz aufführen? Wir dürfen über nichts reden, und wenn es doch mal einer tut, ist es gleich eine Riesenkatastrophe.« Marie hatte den Rock und die Bluse ihrer Schuluniform ausgezogen. Sie streifte ein schwarzes T-Shirt über, mit brennenden Autos darauf. »Und sie schließt sich natürlich gleich wieder in ihrem Zimmer ein.« Sie schob den Fuß in einen schwarzen Stiefel. Es stimmte schon, Mom würde sich den ganzen Abend nicht mehr blicken lassen. »Außerdem war es gar nicht der Dad-Kommentar, über den sie sich so aufgeregt hat.« Marie setzte sich aufs Bett und machte sich daran, sich die Augen mit schwarzem Eyeliner zu umranden. »Sondern der über den fetten Freund.«

Nach Dads Tod waren wir zwei Mal bei der Familienberatung gewesen. Beim ersten Besuch hatten wir uns alle einzeln mit Gwen, der Therapeutin, unterhalten. Ich hatte ihr von Bill erzählt, dem Freund unserer Mutter, dass sie ihn vor uns allen versteckte, außer vor Beatrice, dass wir anderen ihn nicht mal kannten, obwohl es ihn schon seit Jahren gab. Dass er offensichtlich Beatrices Vater war und ich die ganze Zeit wütend auf meine Mutter. Ich hatte die anderen nie gefragt, worüber sie gesprochen hatten.

Bei der zweiten Sitzung rief Gwen uns alle in einem Zimmer zusammen, und wir saßen in einem Kreis aus gemütlichen Sesseln. Ich schaute von Gwen zu meiner Mutter, und mir war klar, dass das hier nichts bringen würde. Gwen mit ihren langen Ohrringen und dem himmelblauen Lidschatten, dem goldenen Fußkettchen um den sonnengebräunten Knöchel. Meine Mutter mit ihrer reinen, blassen Haut, das Haar zum Knoten gezurrt, nicht die leiseste Spur von Leichtsinn. Sie schminkte sich nicht, gab praktisch nie auch nur einen Penny für sich selbst aus. Gwen wollte, dass sie über Dad redete, wie es vor der Trennung mit ihm gewesen war, was genau passiert war. Jemand von uns hatte etwas gesagt. War wirklich nur ich das gewesen? Ich spürte einen Schmerz in der Brust. Aber Mom ließ sich nicht erweichen, ihre Miene war entschlossen. Sie wollte nicht schlecht über unseren Vater reden. Sie würde nichts ausplaudern. An der Wand hing ein Poster von Holly Hobbie in ihrem Flickenkleid, mit der absurd großen Mütze, der Blume, an der sie immer schnupperte. Ihr Gesicht war nicht zu erkennen. Wir musterten die Wände, den grünen Büroteppichboden, die Tweedpolster der Sessel, in denen wir saßen, alles, nur damit wir einander nicht ansehen mussten. Moms Loyalität zu unserem Vater tat mir weh. Ich selbst hatte sie immer und immer wieder verraten, zuletzt gegenüber Gwen, einer Wildfremden, die für ihre Notizen auf dem Klemmbrett einen Bleistift mit Trollhaaren und aufgeklebten Kulleraugen verwendete. Marie zog die Augenbrauen hoch, als sie sie damit schreiben sah. Mit uns würde Gwen nicht weit kommen.

Hinterher beschloss unsere Mutter, solche Beratungen seien sinnlos und sie könne Gwen mit ihrer herablassend süßen Stimme nicht ertragen. »Wir brauchen einfach Zeit«, sagte sie. Und wir gingen nie wieder hin.

Marie nahm ihren weißen Puder und verteilte ihn auf Wangen und Stirn. Ich sah ihr kurz dabei zu. Wir hatten ganz unterschiedliche Gesichter. In der Schule konnte keiner glauben, dass wir Schwestern waren. Marie war zierlich, wie Ellen, und hatte ein zartes Gesicht. Meines war breiter, flacher. Marie war hübsch und lebhaft, während Sage von mir sagte, ich wirke irgendwie »ätherisch«, als sei ich ständig mit den Gedanken woanders. Meine Augen waren blau, aber heller als die von Marie, von allen Geschwistern waren sie denen unserer Mutter am ähnlichsten, und während die anderen alle hellbraunes oder blondes Haar hatten, waren außer den Brauen und Wimpern bei mir auch die Haare ganz dunkel. Hippie-Haare, wie Marie immer sagte. Sie hingen einfach glatt zu beiden Seiten meines Gesichts herunter, bis zur Taille. Formlos im Vergleich zu Maries Punkfrisur oder Sages Stufenschnitt, aber mir fiel auch nicht ein, wie ich sie hätte schneiden lassen sollen. Die meisten Mädchen in meiner Klasse hatten jetzt eine Dorothy-Hamill-Frisur, aber ich glaubte nicht, dass mir so etwas stehen würde. Ich hatte eine Lücke zwischen den Vorderzähnen, also lächelte ich nur mit geschlossenem Mund. Marie trug lila Lippenstift auf, so dunkel, dass er fast schwarz aussah.

»Ich muss zum Babysitten. Rufst du mich bei den Bouchers an, wenn sie wieder da ist?«

»Klar.« Im Spiegel sah sie zu mir hin. Mir war nicht ganz klar, warum sie sich ihr Punk-Gesicht malte, obwohl sie gar nicht mehr raus wollte.

Ich ging runter in die Küche und machte den Kühlschrank auf. Er war praktisch leer. Unsere Mutter bewahrte das Brot immer im Gemüsefach auf, damit es nicht alt wurde. Ich nahm mir eine Scheibe und verteilte ein Stück Butter darauf. Das Brot war so kalt, dass ich es kaum kauen konnte. Kurz fürchtete ich, mir würde schlecht werden. »Die Sorgenvolle«, hatte Gwen mich genannt. Das stimmte. Ich machte mir ständig und wegen allem Sorgen. Wenn die anderen über den Zaun zum Schwimmclub kletterten, um nackt zu baden, blieb ich draußen und hielt auf der Straße nach der Polizei Ausschau, falls jemand versehentlich den Alarm auslöste oder ein Nachbar sie meldete. Wenn Marie abends heimlich aus dem Fenster kletterte, konnte ich nicht einschlafen, bis sie wieder da war, stellte mir all die vielen schrecklichen Dinge vor, die ihr zustoßen könnten, horchte nach den Schritten unserer Mutter draußen auf dem Flur. So war ich schon vor Dads Tod gewesen. Einmal hatte unsere Mutter uns allen Poster gekauft. Meines zeigte ein Löwenjunges, das mit weit offenem Maul heulte, und darunter stand: Mach dir keine Sorgen. Die Welt ist auch so schon traurig genug.

Für Marie hatte sie ein Poster gekauft, auf dem Comictiere Musikinstrumente spielten, und der Spruch dazu lautete: Der Zauber der Musik zähmt selbst das wilde Tier.

Auf dem von Ellen stand: Freu dich, du bist nicht wie die anderen.

Ich warf das Brot in den Müll. Ich brachte es einfach nicht runter.

Im Wohnzimmer war Beatrice dabei, auf dem Sofa Wäsche zusammenzulegen, während Thomas staubsaugte. Sie hatten die Arbeiten übernommen, die eigentlich Ellen erledigen sollte. Beatrice war sieben, fünf Jahre jünger als Ellen und sieben Jahre jünger als ich. Und Ellen hatte recht, unsere Mutter verwöhnte sie, das machten wir im Grunde alle, aber trotzdem war sie kein nerviges Kind und stand nicht gern im Mittelpunkt. Ich setzte mich neben sie auf das Sofa und faltete ein Schuloberteil.

»Ich weiß gar nicht, warum Ellen so sauer auf mich war.« Beatrice sah mich an. In ihrem Mund klaffte eine Lücke, wo ihr zwei Milchzähne ausgefallen waren. Ihr lockiges Haar war dicht hinter den Ohren zu zwei dicken Zöpfen gebunden.

»Sie war nicht sauer auf dich. Du kannst nichts dafür, Bea.«

»Und wenn sie sich jetzt verläuft oder von einem Auto angefahren wird?«

»Ihr wird schon nichts passieren. Wir sind es doch alle gewohnt, im Dunkeln über den Berg zu laufen. Sie kennt die Straßen. Hilf Marie, nach ihr Ausschau zu halten, ja?« Beatrice nickte.

Thomas rief über den Staubsaugerlärm hinweg: »Was ist denn das für eine Arbeitsmoral? Weiterfalten, aber dalli! Links, zwo, drei, vier!« Sofort strahlte Bea wieder und rollte ein paar Socken zusammen.

»Ich muss los. Ruft mich auf jeden Fall bei den Bouchers an, wenn sie wieder da ist.« Ich ging noch einmal die Treppe hoch, um unserer Mutter Bescheid zu sagen. Ihre Zimmertür war abgeschlossen. Ich klopfte. »Ich bin dann jetzt weg, Mom.« Sie reagierte nicht.

Im Flur kam mir Marie entgegen, die nach unten wollte. »Lass sie besser in Ruhe.«

»Ich sage ihr ja nur, dass ich jetzt gehe.« Am liebsten hätte ich mit voller Kraft gegen die Tür getreten. Ich ging zurück in unser leeres Zimmer und nahm mir Ellens Mappe, sah die Blätter durch und suchte die mit den grünen Kreisen: das schemenhafte Selbstportrait, die Familie ohne Eltern, ein paar Skizzen zu einem Hirsch, nur Kopf und Geweih, alle mit Bleistift gezeichnet, in unterschiedlichen Graustufen. Das waren keine süßen Kinderzeichnungen; sie wirkten nüchtern, abgeklärt und traurig. Mir war klar, dass Ellen in ihrer Klasse die absolute Ausnahme sein musste. Ich nahm den Brief, die Broschüre, das Empfehlungsschreiben und die Blätter. Mom musste das wissen. Ich ging zurück zu ihrem Zimmer, kniete mich auf den Teppich und schob alles einzeln unter ihrer Tür durch. Dann brach ich auf.

Unser Haus am Berg hatte mehrere Ebenen. Insgesamt waren es vier, mit kurzen Treppen von jeweils fünf Stufen dazwischen. Es gab vier Schlafräume. Das Zimmer unserer Mutter, Beas Kammer und das Zimmer, das ich mir mit Ellen und Marie teilte, lagen auf derselben Ebene. Beas Zimmer war wirklich klein und grenzte direkt an das unserer Mutter. Thomas hatte ein großes Zimmer ganz oben. Ich liebte dieses Haus und den Wald ringsherum. Wir waren kurz nach Ellens Geburt an den Berg gezogen. Vorher hatten wir in Ardmore gewohnt. Ich glaube, unser Vater hat sich am Berg nie richtig wohl gefühlt. Er war nicht wie die anderen Väter dort. Das lag nicht nur an seiner Arbeit; er war schon nach dem fünften Schuljahr, das unserer amerikanischen fünften Klasse entsprach, von der Schule abgegangen. In Irland, erzählte er uns, war das für Kinder, die auf Bauernhöfen aufwuchsen, ganz normal gewesen. Sie mussten mitarbeiten. Und mein Vater arbeitete härter als jeder andere Mensch, den ich kannte. Er war nur offenbar nicht in der Lage, Geld zurückzulegen.

Vor Beatrices Geburt hatten unsere Eltern eine Mal-zusammen-und-mal-getrennt-Phase durchlaufen, aber als sie zur Welt kam, war er schon ausgezogen. Danach sahen wir ihn nicht mehr so oft, aber ich half ihm noch immer beim Rasenmähen und Laubrechen. Er blieb in der Gegend um Philadelphia und hatte wechselnde Wohnsitze, aber es hielt ihn nirgendwo lange. Dann bot ihm ein entfernter Verwandter Arbeit und Unterkunft in der Bronx an, wo er eine Firma für Garten- und Landschaftsbau betrieb. Ein einziges Mal hatten wir ihn dort besucht – Marie, Thomas, Ellen und ich. Wir waren an der 30th Street Station, dem Zentralbahnhof, in Philadelphia in den Zug gestiegen, und er hatte uns an der Penn Station in Manhattan abgeholt. Er stand oben an der Rolltreppe, als wir vom Bahnsteig hinauffuhren. Nach der Arbeit hatte er geduscht und ein Hemd und eine Krawatte angezogen, ganz altmodisch, so wie er es auch, als er noch bei uns wohnte, immer gemacht hatte, wenn wir irgendwohin gingen. Nie sah man ihn in Freizeitkleidung wie die Väter meiner Freundinnen. Er besaß keine Jeans, keine leichten Hosen oder Shorts. Nicht einmal Turnschuhe, die auch einfach nicht zu ihm gepasst hätten. Er trug klassische weiße T-Shirts, aber nichts mit Aufdruck und beim Rasenmähen Arbeitshosen. Sein lockiges Haar war immer zurückgekämmt und seitlich gescheitelt.

»Dad ist halt Fünfzigerjahre«, sagte Marie immer voller Stolz. Sie meinte, es sei doch komisch, dass erwachsene Männer in den USA sich inzwischen anzögen wie kleine Jungs, sie besäßen überhaupt keine Eleganz mehr.

Wir fuhren mit der U-Bahn bis nach Woodlawn in der Bronx, wo er jetzt wohnte. Die Häuser standen dicht beieinander, mit Maschendrahtzäunen dazwischen. Straßen und Höfe wirkten nackt. Es gab keine Bäume, nur ein paar versprengte, kümmerliche Sträucher, und mir kam es seltsam vor, dass mein Vater an einem Ort so ganz ohne Blätter lebte. Vor den Häusern, in deren Gärten wir ihm bei der Arbeit geholfen hatten, lag das Laub manchmal so hoch, dass es mir bis zur Taille reichte, wenn ich hindurchwatete. Dann schaltete Dad den Laubbläser ein, und die Blätter wirbelten um uns herum auf und fielen wieder herab. In der Bronx hatte er eine möblierte Einraumwohnung gemietet, wie er es nannte, ein Zimmer, das an ein anderes Haus grenzte, aber seinen eigenen Eingang hatte. Unter dem Fenster war eine kleine Küchenzeile. Auf einem Elektroherd mit zwei Kochplatten bereitete er zum Abendessen Steak mit Kartoffelbrei für uns zu. Es gab ein winziges Bad mit Dusche und ein Sofa, das ihm auch als Bett diente. Er holte den Schaumstoff, den er hinter dem Fahrersitz seines Pickups lagerte, und rollte ihn auf dem Boden aus, und so verbrachten wir die Nacht, wir vier und er, zusammen in diesem einen Zimmer in der Bronx. Er hatte extra für unseren Besuch neue Teller und neues Besteck gekauft, damit wir zu fünft essen konnten. Bis heute denke ich beim Einschlafen noch manchmal an diese Nacht. Wir alle zusammen, wie wir dort im Dunkeln lagen und redeten, gemeinsam atmeten, in diesem einen Zimmer.

Licht zwischen den Bäumen

Подняться наверх